Ein Kommentar von Philipp Peyman Engel, Chefredakteur Jüdische Allgemeine
Sie kamen am frühen Morgen und hatten nur ein Ziel: möglichst viele Juden zu töten. Mehr als 1200 Israelis ermordete die palästinensische Hamas am 7. Oktober 2023 im Süden Israels. Unter den Toten waren Babys, Jugendliche, Frauen, Eltern, Behinderte, Greise und Holocaust-Überlebende. Es ist der dunkelste Moment in der Geschichte Israels und der dunkelste Tag in der Geschichte des jüdischen Volkes nach 1945. An keinem anderen Tag nach der Schoah wurden mehr Juden ermordet als am 7. Oktober.
Doch nicht nur in Israel, auch in Deutschland ist die jüdische Gemeinschaft in höchstem Maße gefährdet. Die Bedrohung war seit der Gründung der Bundesrepublik wohl noch nie so akut wie jetzt. Seitdem der Judenstaat sich gegen den Terror der Hamas wehrt, erleben wir auch hierzulande eine beispiellose Welle an judenfeindlichen Bedrohungen und Ausschreitungen.
Der 7. Oktober war noch nicht einmal vorüber, da sahen sich die deutschen Sicherheitsbehörden gezwungen, den ohnehin schon sehr intensiven Schutz von jüdischen Einrichtungen noch einmal zu erhöhen. Die Maßnahmen waren keineswegs überzogen. Nach dem 7. Oktober rief die Hamas an drei Freitagen hintereinander zu einem weltweiten „Tag des Zorns“ auf, was nichts anderes als ein Aufruf war, Juden zu ermorden.
An diesem Tag siegte die Angst Am ersten dieser Freitage blieben meine Kinder – wie so viele andere jüdische Kinder auch – zu Hause und besuchten nicht ihre jüdische Kita. Bei allem Mut und aller Entschlossenheit, uns nicht von einem judenfeindlichen Mob tyrannisieren lassen zu wollen – an diesem Tag siegte die Angst.
Wer verstehen will, was es bedeutet, im Jahr 2025 in Deutschland Jude zu sein, genau 80 Jahre nach der Schoah, der muss nur die Nachrichten der vergangenen Monate zur Kenntnis nehmen: Ein jüdischer Student wird krankenhausreif geprügelt und erleidet drei Knochenbrüche im Gesicht. Weil er Jude ist und pro Israel. Ein libyscher Asylbewerber verübt einen Brandanschlag auf die Synagoge in Erfurt, in Berlin schlägt ein Imbissbesitzer auf einen israelischen Filmemacher ein, drei arabische junge Männer schlagen und treten auf einen Israeli ein, bloß weil dieser Hebräisch spricht, und in Frankfurt wird ein Rabbiner vor seinem Hotel antisemitisch beleidigt – die Liste dieser Vorfälle wird immer länger, und zwar jeden Tag.
Bei Kundgebungen in Berlin, Essen, Duisburg und Frankfurt bejubelten sogenannte pro-palästinensische Demonstranten den Tod von Juden, skandierten massenhaft antisemitische Slogans und forderten ein judenreines Palästina „from the river to the sea“. Die Polizei ist guten Willens, doch angesichts der Masse aufgebrachter und oftmals auch gewaltbereiter, überwiegend arabisch- und türkischstämmiger Demonstranten heillos überfordert. Es ist ein Stück Kontrollverlust des Staates, die zeitweise Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols.
Zur Wahrheit gehört auch, dass Juden in Deutschland sich wieder Gedanken machen, wo sie im Fall der Fälle leben könnten. Denn es ist etwas ins Rutschen geraten. Die Angriffe werden mehr und sie kommen von allen Seiten. Viele Juden trauen sich nicht mehr, in der Öffentlichkeit als Jude erkennbar zu sein. Sie sind die ständigen verbalen und physischen Attacken leid. Die ersten Koffer sind schon gepackt. Meine auch? Nein. Noch nicht. Doch Hand aufs Herz: Mehr als einmal habe ich seit dem 7. Oktober nachgeschaut, wo sie stehen. Immer griffbereit.
Doch dann ist da ein vermeintliches Detail, das mich nicht loslassen will: Ich bin Deutscher. Hier ist mein Platz! Hier wurde ich geboren, hier gehöre ich hin. Und wer das nicht will, ist selbst schuld. Er, nicht ich, sollte die Koffer packen müssen.
Ich werde kämpfen. Ich möchte und werde mich nicht von einem antisemitischen Mob tyrannisieren lassen. Deutschland ist ein gutes Land, trotz allem. Mit vielen großartigen Menschen. Aber eine Gesellschaft, die dem Antisemitismus Spielraum lässt, taumelt in den Abgrund. Deutschland hat die Wahl.
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 141. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.