Gott hat sich vom Volk Israel abgewendet, weil es ihm untreu war. Daher hat es sich sein Schicksal letztlich selbst zuzuschreiben. Diese Vorstellung prägt das Denken seit Jahrhunderten – nicht nur, aber vor allem in der Kirchengeschichte. Als Begründung dient unter anderem ein Vers aus dem Matthäus-Evangelium. Warum sich ein genauerer Blick auf den biblischen Kontext lohnt.
Von Pfarrer Willem J. J. Glashouwer, Übersetzung aus dem Niederländischen Marie-Louise Weissenböck
„Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Dieser Vers aus Matthäus 27,25 ist in den letzten Jahrhunderten häufig von der Kirche missbraucht worden. Er diente als Beleg dafür, dass Israel von Gott verworfen wurde und unter seinem Gericht stehe – und dass die Kirche Israel als Gottes auserwähltes Volk ersetzt habe. Mit derselben Stelle wurde die Vorstellung begründet, dass Israel selbst schuld sei an seinem tragischen Schicksal durch die Jahrhunderte. Wir sollten diesen Text jedoch sorgfältig prüfen.
Punkt eins. Betrachtet man die wörtliche Bedeutung des Verses, so müssten sich diese Worte bereits erfüllt haben. Schließlich rief man: „Über uns und unsere Kinder“, also über jene Generation. Vierzig Jahre später, im Jahr 70 nach Christus, wurden rund eine Million Juden in Judäa von den Römern ermordet, einschließlich der Juden, die diese Worte gerufen hatten. Die Zahl vierzig steht in der Bibel für die Dauer einer Generation.
Punkt zwei. Es dürften höchstens ein paar hundert Menschen gewesen sein, die diese Worte riefen. Sie hatten sich von einigen wenigen Leitern dazu anstacheln lassen. Die Juden, die damals in Galiläa lebten, hatten keine Ahnung von dem, was in Jerusalem geschah. Viele von ihnen hätten es zweifellos missbilligt. Zudem war Jesus damals in Jerusalem sehr beliebt. Jerusalem hatte ihn enthusiastisch als den „großen Sohn Davids“, den Messias, begrüßt. Jesus wurde nicht ohne Grund bei Nacht verhaftet: Die Behörden fürchteten bei einer Verhaftung am Tag einen spontanen Volksaufstand. Können wir alle Einwohner Jerusalems, alle Juden, die damals in Israel lebten, und alle folgenden Generationen von Juden weltweit für das verantwortlich machen, was eine kleine aufgehetzte Gruppe getan hat? Das wäre vollkommen ungerecht und nicht richtig! Leider ist es genau das, was die Kirche in den letzten zweitausend Jahren getan hat. Das führte dazu, dass in den Ländern des Christentums unendlich viel jüdisches Blut vergossen wurde.
Prophetische Worte?
Punkt drei. Könnten die Worte dieser kleinen Gruppe unwissentlich eine prophetische Wahrheit enthalten? So eine steckte in den Worten des Kaiphas: „Ihr wisst nichts, und ihr bedenkt nicht, dass es für uns nützlich ist, dass ein Mensch für das Volk stirbt und nicht das ganze Volk umkommt.“ (Johannes 11,49b-50) Kaiphas meinte es nicht so, aber es war aus prophetischer Sicht wahr: Jesus starb als das Lamm Gottes, um das Volk zu erlösen. Ein Mann starb anstelle eines ganzen Volkes – mehr noch, anstelle der ganzen Welt. Jesu Blut musste für die Juden und für alle Menschen vergossen werden, um jeden von aller Sünde zu reinigen. So hatte diese kleine Gruppe von Juden ihre Worte sicher nicht gemeint; sie wollten die Verantwortung für den Tod Jesu übernehmen. Aber sie sagten es eben auf diese Weise.
Göttliches Gericht?
Punkt vier. War die Ermordung der Juden im Jahr 70 ein Gottesurteil? Unter ihnen befanden sich zweifellos tausende von Juden, die an Jesus glaubten, sowie Heidenchristen, die in Jerusalem wohnten. Und hunderttausende von Juden, die sich gar nicht dazu bekannt hatten. Hatten sie sich alle dem Gericht Gottes stellen müssen? War die Zerstörung Jerusalems und seiner Bewohner tatsächlich ein Gottesurteil? Straft Gott auf diese Weise? Oder steht die endgültige Abrechnung für jeden Menschen erst am Ende der Zeiten beim Gericht vor Gottes Thron an?
Vergebung
Punkt fünf. Am Kreuz betete Jesus ein besonderes Gebet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lukas 23,34) Wenn Jesus dies betet, ist er das Lamm Gottes, das sein Blut zur Vergebung der Sünden dieser Welt gibt. Wenn Jesus dies betet, sieht er vom Kreuz aus und in seinem Geist all diejenigen, die persönlich an seiner Kreuzigung beteiligt waren: die römischen Soldaten, Pontius Pilatus, den Hohen Rat, Herodes … Jesus betet, dass Gott ihnen vergibt: „Vater, vergib …“ Würde der Vater dieses Gebet seines sterbenden Sohnes nicht erhören? Das Lamm Gottes wird in diesem Augenblick für alle Sünden der Welt geschlachtet. Für die Sünden Israels und für unsere Sünden. Jesus wurde nicht ermordet oder gegen seinen Willen getötet. In Johannes 10,18 sagt er: „Niemand nimmt es (das Leben) von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich habe Vollmacht, es zu lassen, und habe Vollmacht, es wieder zu nehmen. Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen.“
Das Lamm Gottes
Wer hat Jesus getötet? Nach Ansicht der Kirche waren es die Juden; nach den historischen Fakten waren es die Römer. Die Juden haben ihn zwar vor dem Sanhedrin, dem jüdischen Hohen Rat, zum Tode verurteilt, aber sie hatten nicht die Macht, eine Hinrichtung in ihrem eigenen Land durchzuführen. Pontius Pilatus war derjenige, der das Urteil zu bestätigen hatte und somit verantwortlich war. Die frühe Kirche wusste dies sehr wohl, weshalb sein Name im Apostolischen Glaubensbekenntnis ausdrücklich genannt wird: „Der unter Pontius Pilatus gelitten hat“.
Es ist also sogar historisch falsch zu sagen, dass „die Juden“ Jesus getötet haben. Wenn wir darüber sprechen wollen, wer wirklich schuldig am Tod Jesu ist, lautet die Antwort: Wir alle sind schuld. Unsere Sünden brachten ihn ans Kreuz. Er war und ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt! Am Ende wird Gottes Urteil stehen. Auch über dem dämonischen Hass, durch den jahrhundertelang unschuldiges jüdisches Blut vergossen wurde.
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 140. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.