Blumen für Holocaust-Überlebende: „Ich habe noch nie in meinem Leben Blumen bekommen“

Blumen für Holocaust-Überlebende: „Ich habe noch nie in meinem Leben Blumen bekommen“

Durch die Blume gesagt: Die CSI-Mitarbeiterinnen Anemone Rüger (l.) und Dana Nowak (r.) haben in Israel Holocaust-Überlebende besucht und ihnen mit Blumensträußen und Grüßen von Christen aus Deutschland eine Freude gemacht. Alle Fotos: CSI

Noch einmal Blumen für die Holocaust-Überlebenden von uns Deutschen – dieser Wunsch begleitet uns seit Beginn dieses besonderen Jahres 2025, 80 Jahre nach der Schoah. Nun haben wir einfach damit angefangen. Unsere Mitarbeiterinnen Dana Nowak und Anemone Rüger haben Überlebende im Norden Israels besucht und Grüße von den vielen Christen an der Seite Israels aus Deutschland überbracht. Die farbenfrohen Grüße kommen an und berühren die Herzen tief.

Von Anemone Rüger

Wer einen Platz in einem AmigourHeim gefunden hat, der hat es gut. Die Senioren, die hier ihren Lebensabend verbringen, haben ihr eigenes kleines Reich und sind gleichzeitig in einer der landesweit knapp 60 staatlich geförderten Einrichtungen rundum liebevoll versorgt. Die meisten von ihnen sprechen Russisch – es sind die Überlebenden der Schoah und die Kriegskinder, die in den 1990ern nach dem Zerfall der Sowjetunion nach Israel kamen, ohne sich noch eine nennenswerte Altersvorsorge ansparen zu können.

Nachdem wir im Blumengeschäft von unserem Vorhaben erzählt haben, sind die Blumensträuße so groß ausgefallen, dass wir uns in dem Amigour-Heim, das wir aufgesucht haben, mit einem Einkaufswagen von Etage zu Etage vorarbeiten. Wir sind mit einer Mission unterwegs: die zu finden, die es noch nie erlebt haben, ausgerechnet von Deutschen geliebt zu sein. Wir erleben immer wieder Sprachlosigkeit: „Was – die Blumen sind alle für mich?!“ Und feste Umarmungen für die Ewigkeit: „Solche Menschen wie euch habe ich noch nie getroffen!“

Blumen von Deutschen für Holocaust-Überlebende in Israel.

Ich frage Michail, woher er kommt. Mehr als das Land wird im ersten Anlauf meist nicht genannt – zu selten sind die kleinen Schtetl Osteuropas bekannt. Doch mit unserem Ukraine-Team sind wir inzwischen fast überall gewesen. Auch im nordmoldawischen Rybnica, wo Michail aufgewachsen ist. Geboren im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933, als der deutsche Judenhass noch weit weg war, kann sich Michail an die Ereignisse des Kriegs gut erinnern.

Michails Geschichte vom Überleben

„Wir waren eine einfache Arbeiterfamilie – meine Eltern Michail und Sonja, meine Schwester und ich“, erzählt Michail Junior. „Ich war acht, als 1941 der Krieg ausbrach. Meine Schwester war noch ganz klein. Papa musste sofort an die Front, wie fast alle anderen Männer. Nun waren wir auf uns gestellt.“

Und dann waren sie auch in Michails Städtchen – die Fremden, die Jagd auf die Juden machten. „Sie haben alle Juden unseres Ortes auf dem Marktplatz zusammengetrieben. Auch Mama und uns Kinder. Und dann haben sie uns von dort fortgetrieben, ins Ungewisse“, berichtet Michail. „Das waren die Rumänen, die bei uns einmarschiert sind. Die waren mit Hitlerdeutschland verbündet. Unterwegs haben sie viele Juden erschossen, die nicht mehr weiterkonnten. Erschossen, gequält, vergewaltigt … Wenn wir irgendwo Halt gemacht haben, hat man immer versucht, die Mädchen vor den betrunkenen rumänischen Soldaten zu verstecken.“

Einmal gab es eine Razzia unterwegs. Alle Juden mussten ihre Wertsachen und ihr Geld auf einen großen Haufen werfen. Die Kinder spielten mit den bunt durcheinandergeworfenen Habseligkeiten. „Mama hat mir schnell die Hosenbeine unten zusammengebunden und innen meine Hosentaschen durchgetrennt. Ich habe gar nicht verstanden, was das war, aber sie hat gesagt, ich soll das Papier aufsammeln. Ich habe es in meine Hose gesteckt und es war verschwunden. Das Geld hat uns das Leben gerettet – die Rumänen waren käuflich; für Geld haben sie alles gemacht.

CSI-Mitarbeiterin Anemone Rüger im Gespräch mit Michail.

Kurze Zeit später haben wir in einem Lager bei Odessa alle in einer Schlange gestanden. Es war die Schlange für die Erschießung. 5000 Juden wurden dort ermordet. Wir haben ein bisschen weiter hinten gestanden. Mit dem Geld konnte Mama uns freikaufen. ‚Lauf!‘, hat sie zu mir gesagt. ‚Immer die Schienen entlang, bis zu deinem Onkel!‘ Ich hatte furchtbare Angst allein. Aber ich habe auf sie gehört und so bin ich nachts bei unseren Verwandten angekommen. Mama konnte mit dem Baby ja nicht rennen. Sie ist einfach nach Rybnica zurückgelaufen.“

Ich atme auf. Es sieht so aus, dass Michail mit seiner Familie davongekommen ist. Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende. „Als bei meinem Onkel auch ein Ghetto errichtet wurde, bin ich zu Mama zurück“, fährt Michail fort. „Das war schon 1942. Dann gab es eine Anordnung, dass sich alle bei der Stadtverwaltung melden sollen, die keine Papiere haben, damit sie neue Ausweisdokumente bekommen. 48 Juden aus Rybnica sind hingegangen. Auch Mama. Aber es war eine Falle.“

Michail erzählt diesen Teil der Geschichte so zügig und emotionslos, dass ich nachfragen muss. „Sie haben sie alle auf die Anhöhe in Rybnica getrieben und dort erschossen. Ja, auch Mama. Wir haben ja zu Hause gesessen und darauf gewartet, dass sie aus der Stadt wiederkommt. Aber sie kam nicht. Am nächsten Tag habe ich das Massengrab gefunden. Die Leichen waren nur flüchtig mit ein bisschen Erde zugeschüttet. Dort lag auch Mama.“

„Ich habe mein ganzes Leben Hunger gehabt.“ Michail mit einem Foto seiner Eltern, die er im Holocaust verlor. Mit 14 floh er aus dem Kinderheim, in dem er aufwuchs.

In Michails Gesicht sind keine Gefühlsregungen zu erkennen. Seit 83 Jahren ist dieses unfassbare Trauma tief verborgener Teil seiner Seele. „Meine kleine Schwester ist von einer Frau aufgenommen worden“, erzählt Michail weiter. „Mich haben sie in ein Kinderheim gesteckt. Ich hatte gar keine Familie mehr. Mamas Eltern haben in Odessa gelebt. Die haben die Faschisten gleich zu Beginn des Krieges erschossen. Mit 14 bin ich aus dem Heim abgehauen. Ich habe meine Papiere zerrissen und gesagt, ich bin 16, damit ich eine Ausbildung anfangen konnte.“

„Ich bin ganz allein“

Einer der ersten Flüge, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ins Gelobte Land gingen, hatte auch Michail mit an Bord. 1991 begann er sein neues Leben in Israel. Nein, Familie habe er nie gehabt. „Ich bin ganz allein“, sagt Michail. „Ich habe mein ganzes Leben Hunger gehabt.“ Es tut fast physisch weh, diese Zeilen aufzuschreiben.

Einen winzigen Gruß habe ich dabei für den inneren und äußeren Hunger – ein Waffelherz von meiner Mutter. Michail lächelt. Die Blumen soll er ins Wasser stellen, erinnern wir ihn beim Abschied. „Ich habe noch nie in meinem Leben Blumen bekommen“, sagt Michail.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 141. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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