Es gibt eine Gruppe von Holocaust-Überlebenden, die erst in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit erhielten – diejenigen, deren Muttersprache Russisch ist und die erst nach dem Zerfall der Sowjetunion die Möglichkeit erhielten, nach Israel auszureisen. Angekommen in ihrer alt-neuen Heimat, waren sie nicht mehr in der Lage, sich ein finanzielles Polster für den Lebensabend aufzubauen und sind daher verstärkt auf fremde Hilfe angewiesen. Gita Koifman, selbst eine Überlebende der Schoah, setzt sich seit gut zwei Jahrzehnten für diese Menschen ein – unter anderen unterstützt von Christen an der Seite Israels (CSI). Die CSI-Mitarbeiterinnen Dana Nowak und Anemone Rüger haben mit ihr Überlebende in Kiryat Yam besucht.
Von Anemone Rüger
Wir haben zu zweit gerade so genug Hände, um alle Blumensträuße, Waffelherzen und Grußkärtchen für die Gäste zu tragen, die Gita heute eingeladen hat. Sie sitzen schon erwartungsvoll im Kreis: Ruth und Genja, Roman und Rachmil und Jefim; aus Czernowitz und Brazlaw und Briceni. Alle ihre Herkunftsorte sind uns vertraut von Besuchen bei jüdischen Senioren in der Ukraine und in Moldawien. Doch die Holocaust-Überlebenden, die hier um uns sitzen, haben sich in den 1990er Jahren für Israel entschieden.
Rachmil kann sich mit uns ganz gut auf Hebräisch verständigen. Ruth spricht uns auf Deutsch an. „Das ist meine Muttersprache – ich bin in Czernowitz geboren, das war früher Österreich.“ Doch am vertrautesten ist allen das Russische. Wir machen eine Vorstellungsrunde, berichten kurz von unserer Arbeit und dann beginnen die Überlebenden einer nach dem anderen zu erzählen. Wie die Väter an die Front mussten, wie die Mütter mit ihren Kindern noch versuchten zu fliehen und von den Deutschen eingeholt wurden, wie die Bewohner der moldawischen Schtetl von den mit Hitlerdeutschland verbündeten rumänischen Truppen gedemütigt, gequält und dann gen Norden über den Dnjestr getrieben wurden. Wie sie in den bereits überfüllten Schtetln der Südukraine ankamen – die, die noch am Leben waren – und wie ein langer Leidensweg begann. Und wie sie in ihre entvölkerten Heimatorte zurückkamen und die Häuser suchten, wo ihre Kindheit begonnen hatte.

„Wir können es uns nicht leisten zu schweigen!”
Jefim muss von Petschora erzählen, dem Todeslager bei Winniza, aus dem nur ganz wenige lebend wieder herauskamen. Als er nicht mehr weiterreden kann, setze ich mich zu ihm. Lege eine Hand auf seine Schulter, bis er sich wieder gefasst hat. So schwer es ist, sich an das Grauen zu erinnern – die Geschichten müssen raus. „Dafür existieren wir ja in unserem Überlebenden-Verband“, sagt Genja, als wir daran erinnern, dass wir niemanden drängen wollen zu erzählen. „Es ist uns so wichtig, dass die Menschen erfahren, was damals geschehen ist! Überall greift der Antisemitismus wieder um sich. Wir können es uns nicht leisten zu schweigen!“ „Solange wir leben, werden wir reden und Zeugnis ablegen von dem, was wir erlebt und gesehen haben“, sagt Gita. „Wir werden reden und rufen und, wenn nötig, schreien.“
Mir fallen die Waffelherzen wieder ein, die meine Mutter für die Überlebenden noch in Deutschland gebacken hatte und die ich am Vorabend einzeln in Geschenktütchen verpackt habe. Bei einer unvorsichtigen Bewegung waren sie an der Tür alle zu Bruch gegangen. Aber das sollte wohl so sein, fiel mir plötzlich auf. „Unsere Herzen sind zerbrochen, zusammen mit den euren“, sagen wir den Überlebenden. „Was für ein Vorrecht für uns, dass ihr diese schweren Erinnerungen mit uns teilt! Wir möchten noch ein Stück an eurer Seite sein, solange wir können.“

„Wir haben uns schon so oft getroffen“, sagt Genja zu Gita gewandt. „Aber so etwas gab es noch nie! Das wir von Deutschen so eine Herzlichkeit, so eine Liebe spüren!“ „Ja, es ist wirklich so“, sagt Ruth auf Deutsch, die hinter ihrem Blumenstrauß fast verschwindet und mit den Tränen zu kämpfen hat.
Die Blicke sind auf uns gerichtet. Zwischen Tee und Gebäck saugen die Überlebenden alles auf, was wir an guten Botschaften von den vielen Christen aus Deutschland mitgebracht haben, die sich bewusst an die Seite Israels stellen. Auch Rachmil, 96 Jahre alt, hakt immer wieder nach. Er hat einiges zu verarbeiten. „In meinem ganzen Leben habe ich noch nie solche Menschen wie euch getroffen!“
„Es ist so wichtig für uns, dass wir das Gedenken an den Holocaust erhalten“, sagt Gita zum Schluss. „Normalerweise tun wir das über die Zeitungen, über das Internet. Aber der wichtigste Ort, wo diese Geschichten aufbewahrt werden müssen – das seid ihr! Ihr seid das Bindeglied für die nächsten Generation. Es gibt viele gute Menschen, die ihr Mitgefühl zum Ausdruck bringen. Aber nicht viele haben den Mut, dies konsequent in Taten umzusetzen und öffentlich zu zeigen. Ihr habt das. Ich glaube, dass eure Tränen und eure Worte uns überleben werden.“ Es gibt Umarmungen und dann noch einmal. Es gibt so viel aufzuholen.

Als ich Gita übermittle, dass CSI das Budget erhöht hat, um den Bedürfnissen der zunehmend gebrechlichen Überlebenden besser gerecht zu werden, weint Gita vor Freude. „Weißt du, diese Menschen haben keine Kindheit gehabt. Und ich weiß, wie es für sie war. Ich tue alles für sie, solange Gott mir Kraft gibt. Ich kann es fast nicht glauben, dass wir heute in diesem Kreis zusammen sind. Als ich zwei war, da war ich im Weg. Ich hätte auch mit umgebracht werden sollen. Und heute habe ich so viele Freunde in Deutschland. Ich kann es fast nicht fassen!“
Helfen Sie uns, die verbliebenen Holocaust-Überlebenden zu unterstützen und ihnen Zeichen der Liebe zukommen zu lassen? Jede Spende hilft – vielen Dank!