Das Vaterunser – Christliches Gebet mit jüdischen Wurzeln (Teil 3)

Das Vaterunser – Christliches Gebet mit jüdischen Wurzeln (Teil 3)

Gefaltete Hände über einer Bibel
Auch wenn das Vaterunser das zentrale christliche Gebet ist, so ist es doch durch und durch jüdisch. Foto: Canva

Das Vaterunser ist das einzige Gebet, das Jesus Christus seine Jünger selbst gelehrt hat. In zwei Evangelien wird davon berichtet. Es ist das bekannteste Gebet der Christen und verbindet die Christenheit weltweit. Gleichzeitig ist es durch und durch jüdisch und eng mit anderen jüdischen Gebeten verwandt. In dieser Serie wollen wir die jüdischen Wurzeln des Vaterunsers näher beleuchten.

Von Kees de Vreugd, Übersetzung Marie-Louise Weissenböck

„Dein Wille geschehe“

Die meisten Bibelübersetzungen übersetzen das dritte Gebet mit „Dein Wille geschehe“. Das ist auch die Art und Weise, wie diese Bitte in der christlichen Auslegung traditionell meist interpretiert wird. Es klingt dann fast so, als ob es auf unseren Gehorsam ankäme. Natürlich geht es um den Gehorsam des Menschen gegenüber Gott. Aber es steckt meiner Meinung nach mehr dahinter. Das Gebet des Vaterunsers lautet auf Hebräisch und Aramäisch: „Möge es dein Wille sein“. Das Verb „sein“ wird im Griechischen mit dem Wort „geschehen“ wiedergegeben. So kann man das hebräische Verb auch oft übersetzen. In jüdischen Gebeten wird dieses Anliegen wörtlich wie folgt übersetzt: „Möge es der Wille vor deinem Angesicht sein“.

Der Mensch, der sich danach sehnt, Gottes Willen zu tun, begegnet uns unter anderem in den Psalmen, zum Beispiel in Psalm 40: „Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust; und dein Gesetz ist tief in meinem Innern.“ „Wohlgefallen“ mag inzwischen ein etwas altmodisches Wort sein. Es geht um den Willen Gottes. Gottes Wille wird in dem Psalm als Gottes Tora erklärt, die der Psalmist tief in sich trägt. Jesus betet im Garten Gethsemane die gleichen Worte des Vaterunsers: „Mein Vater, wenn dieser Kelch nicht an mir vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille.“ (Matthäus 26,42) Gottes Wille muss auf Erden so geschehen, wie im Himmel.

Der orthodoxe Rabbiner Eliahoe Tzvi Soloveitchik hat im 19. Jahrhundert einen Kommentar zum Matthäus-Evangelium geschrieben. Er erklärt: „Es ist der Wille des Heiligen, gesegnet sei ER, nur Gutes an Seinen Geschöpfen zu tun. Aber unsere Sünden führen dazu, dass wir nicht in der Lage sind, das Gute zu empfangen. Deshalb lautet das Gebet: Es sei Dein Wille. Die Aussage lautet: Lasse Deinen Willen auf Erden sein, wie Dein Wille im Himmel ist, denn dort sündigt man nicht.“

Die drei Gebete um die Heiligung des Namens, des Königtums Gottes und des Willens Gottes gehören zusammen. Es geht um die dreifache Manifestation der Gegenwart Gottes auf Erden, wie sie im Himmel manifestiert ist.

Unser Vater im Himmel …
… dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
(Übersetzung nach Martin Luther aus Matthäus 6,9–13)

„Unser tägliches Brot“

Auf die drei Lobpreisungen folgen nun drei Bittgebete. Das erste davon lautet: „Gib uns heute unser tägliches Brot”. Die Übersetzung dieses Bittgebetes stellt ein Problem dar. Manche Übersetzungen lauten so: „Gib uns heute das Brot, das wir brauchen“, zum Beispiel in Hoffnung für alle, Einheitsübersetzung, Gute Nachricht und Zürcher Bibel.

Geht es um das tägliche Brot oder um das Brot, das wir brauchen, oder sogar um etwas anderes? Das griechische Wort Epiousion (griechisch: ἐπιούσιον) kommt nur hier vor und kann auf verschiedene Weise verstanden werden, je nachdem, wie man die Teile, aus denen das Wort besteht, analysiert. Mögliche Bedeutungen sind notwendig für die Existenz, „für heute“, „täglich“ oder „für den nächsten Tag“. Die meisten modernen Übersetzungen entscheiden sich für die erste Möglichkeit.

In der Wüste erhielt Israel täglich das Manna. Am sechsten Tag, dem Tag vor dem Schabbat, fiel das Manna für zwei Tage herab. Damit bekam Israel auch für den nächsten Tag, den Schabbat, Manna. Das Leben Israels in der Wüste ist meines Erachtens ein wichtiger Hintergrund, um die Lehre Jesu im Matthäus-Evangelium zu verstehen. Wir können auch das Gebet um Brot für jeden Tag in diesen Zusammenhang stellen. Es geht um das Vertrauen, dass Gott jeden Tag für uns sorgt, auch für den morgigen Tag, wie Jesus darauffolgend in der Bergpredigt sagt: „Sorgt euch nicht um euer Leben, um das was ihr essen und was ihr trinken werdet (…).“ (Matthäus 6,25-34)

Die Bibel selbst gibt dem Manna in der Wüste eine noch tiefere Bedeutung. In 5. Mose 8,3 sagt Mose zu Israel: „Und Er demütigte dich und ließ dich hungern und speiste dich mit dem Manna, das weder du noch deine Väter gekannt hatten, um dich erkennen zu lassen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern dass er von all dem lebt, was aus dem Mund des HERRN hervorgeht.“ Jesus zitiert diesen Text, als er in der Wüste vom Teufel versucht wird (Matthäus 4,4): „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes hervorgeht!“ Er sagt ausdrücklich „von jedem Wort aus dem Mund Gottes“. Das zeigt, dass es sich um das Wort Gottes, die Tora, handelt.

Das Manna, das Brot, ist in der jüdischen Tradition ein Symbol für die Tora. So gesehen ist dieses Gebet aus dem Vaterunser also auch ein Gebet darum, sich täglich mit Gottes Wort beschäftigen zu können.

Teile 1 und 2 dieser Serie erschienen in unserer Zeitung „Israelaktuell“, 3. + 4. Quartal 2024.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 140. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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