Das Vaterunser – Christliches Gebet mit jüdischen Wurzeln (Teil 4)

Das Vaterunser – Christliches Gebet mit jüdischen Wurzeln (Teil 4)

Gefaltete Hände über einer Bibel
Auch wenn das Vaterunser das zentrale christliche Gebet ist, so ist es doch durch und durch jüdisch. Foto: Canva

Das Vaterunser ist das einzige Gebet, das Jesus Christus seine Jünger selbst gelehrt hat. In zwei Evangelien wird davon berichtet. Es ist das bekannteste Gebet der Christen und verbindet die Christenheit weltweit. Gleichzeitig ist es durch und durch jüdisch und eng mit anderen jüdischen Gebeten verwandt. In dieser Serie wollen wir die jüdischen Wurzeln des Vaterunsers näher beleuchten.

Von Kees de Vreugd, Übersetzung Marie-Louise Weissenböck

„Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“

Vergebung hat, so könnte man sagen, einen vertikalen und einen horizontalen Aspekt. Es geht nicht nur um unsere Beziehung zu Gott, sondern auch zu unseren Mitmenschen. Durch die Beziehung zu Gott wird auch unsere Beziehung zu unseren Mitmenschen beeinflusst und umgekehrt.

Welche Art von „Schuld“ ist gemeint? Das griechische Wort kann wörtlich materielle Schulden bedeuten. Die Bibel und das darauf basierende rabbinische Gesetz geben alle möglichen Anweisungen, wie man mit Schulden umzugehen hat. Eine der auffälligsten ist der Erlass der Schulden alle sieben Jahre im Sabbatjahr (5. Mose 15).

Das Wort kann auch für moralische Schuld und Sünde stehen. Sünde ist biblisch gesehen die Übertretung der Gebote Gottes. Dies kann auch im rituellen Bereich geschehen. Aber hier und in ähnlichen anderen jüdischen Quellen geht es, wie erwähnt, um die Beziehung zu Gott und den Mitmenschen. Das aramäische Wort chova, das wahrscheinlich dahintersteckt, hat die gleiche doppelte Bedeutung. Für die Rabbiner heißt „Schuld“ ein Versagen in den Verpflichtungen gegenüber Gott. In der jüdischen Liturgie geht es am Großen Versöhnungstag offensichtlich um die Vergebung von Schuld.

Aber das Gebet um Vergebung hat auch einen Platz in den normalen täglichen Gebeten: „Vergib uns, unser Vater, denn wir haben gesündigt; schenke uns Vergebung, unser König, denn wir haben gesündigt. Gesegnet seist du Ewiger, der barmherzig ist und gerne vergibt.“ Diesem Gebet geht ein Gebet um die Rückkehr zur Tora voraus. Es gibt keine Vergebung ohne Erneuerung.

Im Buch Sirach heißt es: „Vergib deinem Nächsten, was er dir angetan hat, dann werden dir, wenn du betest, auch deine Sünden vergeben.“ (Sirach 28,2) Jesus sagt dasselbe und unterstreicht seine Bedeutung, indem er es auch umkehrt: Wenn ihr den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater auch eure Übertretungen nicht vergeben. Zuvor hatte er gesagt: Wenn du auf dem Weg zum Altar bist und merkst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann geh hin und versöhne dich zuerst mit ihm. Das ist die Essenz des Großen Versöhnungstages, wie er im Judentum gelebt wird.

Unser Vater im Himmel …
… dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
(Übersetzung nach Martin Luther aus Matthäus 6,9–13)

Tatsächlich wird die gesamte Bergpredigt von den zentralen Werten dieser Zeit des jüdischen Jahres beherrscht: Beten, Fasten und das Geben von Almosen.

„Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“

Wie die vorhergehende Bitte des Vaterunsers hat auch diese zwei Teile. Sie sind als Widerspruch („sondern“) formuliert. Aber man kann es so verstehen, dass der zweite Teil den ersten erklärt. Was ist das, Versuchung? Versuchung hat einen negativen Klang. Eine neutralere Übersetzung wäre „Prüfung“. Es ist dasselbe wie „versuchen“, könnte man sagen. Gott versuchte Abraham (1. Mose 22). Gott prüfte ihn. Nach der jüdischen Tradition wurde Abraham zehn Prüfungen unterzogen, die er alle bestand. Ging es darum, zu sehen, wo Abraham stand, ob er an seiner Treue zu Gott festhielt? Oder sollten sie ihn stärker machen und ihn dadurch erheben?

Jesus wurde in der Wüste versucht – vom Teufel, aber es war der Geist, der ihn in die Wüste führte, um versucht zu werden. Das ist merkwürdig. Hier wird das gleiche Verb verwendet. Es ist klar, dass der Teufel darauf aus ist, Jesus zu Fall zu bringen, aber Jesus ist siegreich.

Gott führt niemanden in Versuchung, schreibt Jakobus. Jeder Mensch wird in Versuchung geführt, wenn er sich von seinen eigenen Begierden hinreißen lässt. Und wenn man ihnen nachgibt, führt das zur Sünde und das Endergebnis ist der Tod (Jakobus 1,13ff). Die jüdische Tradition nennt dies den „bösen Trieb“, der neben dem guten Trieb in jedem Menschen existiert. Der böse Trieb hat sowohl schöpferische als auch zerstörerische Kraft und wird manchmal auch mit Satan in Verbindung gebracht. Der böse Trieb muss umgedreht und für das Gute nutzbar gemacht werden. Dies ist der persönliche Kampf eines jeden Menschen.

Ein paar Verse vorher (Vers 2 bis 3) spricht Jakobus auch von Versuchung. Aber darüber können wir uns freuen! Diese Art von Versuchung ist in der Tat eine Prüfung (Vers 3), um uns zu testen und unser Glaubensvertrauen zu stärken. „Meine Brüder, achtet es für lauter Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtungen geratet, da ihr ja wisst, dass die Bewährung eures Glaubens standhaftes Ausharren bewirkt.“ (Jakobus 1,2-3) Da wird der böse Drang durch den guten Drang gebändigt.

Vielleicht sieht auch die Bitte im Vaterunser diesen inneren Kampf: Gib uns nicht unseren bösen Trieben hin, sondern hilf uns, sie zu zügeln. Jesus hat in der Wüste nicht nur das Beispiel gegeben, sondern auch den Sieg für uns errungen.

Die Teile 1, 2 und 3 dieser Serie erschienen in unserer Zeitung „Israelaktuell“, 3. + 4. Quartal 2024 sowie 1. Quartal 2025.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 141. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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