Der 9. Mai ist für die Menschen in den Nachfolgerepubliken der Sowjetunion bis heute ein großer Feiertag. Der Tag, der im russischen Kalender das Ende des Zweiten Weltkrieges markiert, bedeutete für die Juden, die bis dahin überlebt hatten, das Ende einer existenziellen Lebensgefahr. Für die meisten von ihnen war der Krieg allerdings bereits gut ein Jahr zuvor zu Ende, als die Truppen der Wehrmacht bei ihrem Rückzug nach Westen eine Stadt nach der anderen der vorrückenden Roten Armee überlassen mussten. Wir haben Holocaust-Überlebende nach ihren Erinnerungen an diese prägnanten Tage gefragt.
Von Anemone Rüger
In Odessa ist Frühling – auch wenn die Fensteröffnungen vieler Gebäude in Hafennähe mit Spanplatten vernagelt sind. Die Bewohner der Stadt gehen aus, fast unbeschwert bei diesem sommerlichen Wetter, obwohl jedes zweite Restaurant dunkel bleibt. In den schummerigen Seitenstraßen der berühmten Schwarzmeerstadt bieten Privatdetektive ihre Dienste an, Rechtsanwaltskanzleien haben ihre Aushängeschilder in die Bäume gehängt. Es werden Exkursionen angeboten: Odessa bei Nacht, kriminelles Odessa, jüdisches Odessa.
Antisemitismus ist hier offiziell noch nicht wieder in Mode gekommen. Dafür ist die Statue von Katharina der Großen verschwunden. An ihre Stelle sind Fahnen und Fotos gefallener ukrainischer Soldaten gerückt. Pünktlich zur Schlafenszeit ertönt die Sirene. Volle 20 Minuten lang geht ein russischer Drohnenhagel auf die Stadt nieder, made in Iran. Die Luftabwehr tut, was sie kann.
Der letzte Krieg
„Ich war mir so sicher damals, als ich aus dem Ghetto kam, dass das der letzte Krieg war, den die Menschheit gesehen hat, und dass jetzt dauerhafter Frieden kommt“, sagt Arkadij, den wir in Odessa besuchen. Er hat mit Mutter und Schwester Ghetto und KZ überlebt und erinnert sich an die vielen Galgen auf dem breiten Boulevard am Operntheater, wo gleich nach dem Einmarsch die ersten Juden aufgehängt wurden.
„Ich habe es geschafft, schon mit elf ins Gefängnis zu kommen!“, so Arkadij. „Wegen meiner Nationalität.“ Bei dem Pogrom von Odessa 1905 war schon sein Großvater, ein berühmter Architekt, vom Mob umgebracht worden. Ab dem Terrorjahr 1937 saß sein Vater Josef unter Stalin im Gefängnis. „1941 sind die Deutschen mit den Rumänen zusammen in Odessa einmarschiert, am 16. Oktober“, erinnert sich Arkadij. „Die Juden wurden per Aushang aufgerufen, sich am Gefängnis einzufinden. Wir sind auch hingegangen – meine Eltern, meine Schwester und ich. Als wir wieder freikamen, hing an unserer Wohnungstür ein Schild: ‚Hier wohnt Ludmilla, russisch-orthodox.‘ Sie hat den Schock ihres Lebens bekommen, als wir vor der Tür standen. ‚Was? Ihr seid nicht tot?!‘ hat sie ganz entgeistert gefragt.“
Dann erst begann der eigentliche Leidensweg der Familie Chasin. Im Ghetto im Odessaer Stadtteil Slobodka verbrachten sie den Winter, während viele um sie herum an Kälte und Hunger starben. Eine mutige Armenierin versorgte die Familie. „Im Mai 1942 wurden viele zur Erschießung gebracht. Aber wir hatten Typhus und die Rumänen haben sich vor Typhus gefürchtet. So haben wir überlebt.“ Kurze Zeit später erlag Arkadijs Vater der Krankheit. Arkadij wurde mit Mutter und Schwester in das berüchtigte 150 Kilometer nördlich gelegene KZ Domanjowka deportiert. Das bedeutete zwei Jahre Schwerstarbeit im Straßenbau mit minimaler Versorgung.

„Natürlich erinnere ich mich an das Kriegsende!“, sagt Arkadij. „Für mich war das der 28. März 1944 – der Tag, an dem unsere sowjetischen Soldaten kamen. Es war ein unbeschreibliches Glücksgefühl für uns, plötzlich frei zu sein. Wir sind zu Fuß die 150 Kilometer zurück nach Odessa gelaufen. Die Frauen auf den Dörfern unterwegs haben meine Mutter gefragt: ‚Sind das deine Kinder?‘ Dann haben sie uns zu essen gegeben.“
Valentina: Versteckt in den Katakomben von Odessa
Als Valentina uns in ihrer kleinen Sowjetwohnung in Empfang nimmt, erinnern wir uns, dass wir sie schon einmal besucht haben. Damals saß sie auf der Bank vor dem großen grauen Mietshaus und ihre Geschichte war in zwei Sätzen erzählt, mit Verweis auf das Alter und das schlechte Gedächtnis. Aber jetzt im Wohnzimmer reiht sich Satz an Satz in Valentinas Erinnerungen und uns wird klar, dass man im Hof keine Geschichten von damals erzählt – wer weiß, wer alles mithört.
„Mein Papa war jüdisch. Boris Mordkowitsch Nejman hieß er“, erzählt Valentina. „Wir haben in einem Hof gewohnt, wo viele Juden lebten. Ich war blond, aber die Nachbarn haben uns ja gekannt. Als der Krieg begann, haben die Kinder mich als Jüdin beschimpft. Da hat Mama mir die Haare abgeschnitten und sie hat mich auch gleich taufen lassen. Papa musste an die Front. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Er hat mich noch einmal auf den Arm genommen und zum Abschied geküsst. Dann kam ein Auto und brachte ihn weg. Das war’s. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Unter unserem Haus war ein Eingang in die Katakomben. Ganz Odessa ist unterirdisch ausgehöhlt von den alten Steinbrüchen. Dort haben wir uns versteckt.“
An das Kriegsende erinnert sich Valentina natürlich. „Am 10. April 1944 wurde unsere Stadt befreit. Da sind die Deutschen und die Rumänen weg. In unserem Hof war eine Essigfabrik, da war deutsche Kavallerie einquartiert. Als sie weg sind, haben sie die Fabrik in die Luft gejagt. Ich weiß noch, wie der Essig in die Straßen lief. Ich erinnere mich, in den frühen Morgenstunden war der Himmel noch rot vom Bombenfeuer. Aber um 5 Uhr war plötzlich Ruhe. Dann klopfte es an unserem Tor. Die Nachbarn haben gerufen: ‚Das sind unsere! Unsere Soldaten sind da!‘ Es war so ein glücklicher Tag, der 10. April! Ich sehe das Bild noch vor mir, wie unsere Soldaten auf dem Pferderücken in die Stadt reiten. Die Menschen haben sie mit Blumen begrüßt.“
Wiedersehen in Uman
Unser sechsstündiger Weg in den Norden führt über Uman. Wir bringen es nicht übers Herz, dort nicht anzuhalten. Blumen für die Damen, Brandyschokolade für die Herren. Und noch ein Tütchen mit herzhaften Leckereien für alle. Dass nur ja jeder das Gleiche bekommt! Die, die an der Stirnseite des langen Tisches sitzen, sitzen schon fast in der Wand. Jeder Quadratzentimeter der kleinen Sowjetwohnung, die der betagten jüdischen Gemeinde als Treffpunkt dient, ist ausgenutzt.
Ludmila will mich gar nicht mehr loslassen. Sie weint vor Freude. „Ich habe so gehofft, dich wiederzusehen!“ Schenja kommt herein, und Borja und Michail und Olga. Sogar Sofia kommt. Eigentlich kann sie gar nicht mehr laufen. Aber hier will sie mit dabei sein, und so kämpft sie sich Stufe um Stufe nach oben. Irgendwie schaffen es die erfahrenen Damen aus der Küche, gut 20 Gäste in dem kleinen Zimmer einzuschichten – fast alles Holocaust-Überlebende. Es gibt Schnittchen und Allas einzigartigen Honigkuchen und ein Gläschen Hochprozentiges zum Anstoßen auf 80 Jahre Kriegsende und auf unsere jüdisch-deutsche Freundschaft.
Galina: Rettung aus höchster Gefahr
„Papa war ja schon nicht mehr bei uns, die Stalinisten hatten ihn 1937 abgeholt“, erzählt Galina. „Am 10. März 1944 ist mein Bruder raus. ‚Ein Flugzeug! Mit dem roten Stern! Ganz nahe!‘, hat er gerufen. Dann wurde Uman nochmal bombardiert. Die Brücke brannte. Die Deutschen mussten sich zurückziehen. Plötzlich standen zwei SS-Angehörige bei uns im Wohnzimmer. Sie haben irgendetwas gesucht. Als sie unsere umfangreiche Bibliothek sahen, haben sie gestockt und sind wieder weg. Ein Wunder! Da hat Gott uns noch einmal das Leben gerettet!“
Kurz nach Mitternacht am 9. Mai 1945 wurde in Berlin die letzte Unterschrift unter die ratifizierende Urkunde der Kapitulationserklärung der Wehrmacht gesetzt. Die überlebenden Juden tauchten aus ihren Verstecken auf, kehrten als Soldaten von der Front oder als Kriegsflüchtlinge aus Fernost zurück.

„Natürlich erinnere ich mich an den 9. Mai“, ruft Arkadij aus. „Es war der Tag, an dem ich zum zweiten Mal geboren wurde. Es ist für mich der größte Festtag – der Tag, an dem mir mein Leben neu geschenkt wurde!“ Viel zum Feiern gab es nicht und Essen nur auf Lebensmittelkarten. „Aber die Menschen haben sich umarmt auf der Straße und haben den Sieg mitgefeiert. Das war echtes Glück, was wir damals erlebt haben!“ Danach sei es erstmal mit Hunger weitergegangen, so Arkadij.
Mit seiner Frau, die er beim Tanz kennengelernt hatte, war er 63 Jahre lang verheiratet. Bis heute schreibt der inzwischen verwitwete Arkadij für die Zeitung „Abendliches Odessa“. Seine Erinnerungen hat er auch auf Deutsch herausgegeben: „Rückkehr aus Golgatha“.
Radiosprecher Levitan verkündet den Sieg
„Eines Tages kam Papas Bruder von der Front zurück“, erinnert sich Galina. „Er hatte ein Radio. Niemand sonst hatte sowas, das war ja alles von der deutschen Besatzung konfisziert worden. Und jetzt konnten wir live mitverfolgen, wie das ‚Sowjetische Informbjuro‘ mit Sprecher Levitan den Sieg verkündete. Dann gab es Salutschüsse. Alle sind raus und haben gefeiert. Obwohl es nichts zu essen gab – eine Ration von 300 g Brot auf Lebensmittelkarte, und das nicht einmal jeden Tag.“
Der Hunger ist Geschichte
Auch Valentina erinnert sich an diesen glücklichen Moment, an Radiosprecher Levitan – und an den Hunger, der folgte. Zum Schluss sagt Valentina, tief bewegt: „Ich habe nie gelebt wie jetzt! Ich habe nie viel gehabt. Ich bin mit Mangel und mit Hunger vertraut, mein ganzes Leben lang. Mein Mann hat später getrunken, er hat mir kein Geld gegeben für den Haushalt. Es gab eine Zeit, da habe ich Flaschen gesammelt. Ich schäme mich nicht, das zu sagen. Und jetzt – jetzt leide ich keine Not mehr! Ich habe genug zu essen, und das habe ich euch zu verdanken!“
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 141. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.