Pessy Krausz ist noch ein Baby, als der Holocaust mit all seinen unfassbaren Schrecken losbricht. Der jungen Familie gelingt die Flucht – wie durch ein Wunder. Doch genaugenommen sind es mehrere Wunder, wie die heute über achtzigjährige Überlebende Pessy Krausz in ihrer bewegenden Lebensgeschichte erzählt.
Von Dr. Pessy Krausz, Überlebende der Schoah, Übersetzung aus dem Englischen Anja Weippert
Es war das Jahr 1936, als meine Mutter schließlich dem Werben meines ein Meter achtzig großen Vaters nachgab und mit ihm in die Industriestadt Leipzig zog. Dort wurde ich geboren, meine Eltern lebten ein idyllisches Leben mit ihrer kleinen Familie. Das Kindermädchen schob mich durch den Rosenthaler Garten und erzählte meiner Mutter stolz von meinen Fortschritten: „Die kleine Pessy hat heute ‚Gack-Gack‘ gesagt, genau wie die Enten auf dem Teich!“
Meine Mutter pflegte stolz zu erklären: „Früher fanden berühmte Schriftsteller wie Schiller und Nietzsche Inspiration in Leipzig – eine Kulturstadt, genau wie Dresden, woher ich stamme. Neben Deutsch habe ich Fremdsprachen gelernt, ich spreche Französisch und Englisch. Vormittags habe ich an der Musikhochschule in Dresden studiert und an manchen Nachmittagen half ich meiner Mutter, Kunden in ihrem großen Herrenbekleidungsgeschäft zu bedienen. An anderen Tagen spazierte ich mit meinen Freundinnen die grünen Alleen an der Elbe entlang und wir tranken Tee in einem der Kaffeehäuser.“
Das Wunder an der Haustür
Wir lebten zufrieden als einzige jüdische Familie im zweiten Stock eines dreistöckigen Wohnhauses. Doch in der Kristallnacht vom 9. November 1938 zerbrach unser harmonisches Leben mit den Fenstern von Synagogen und Geschäften in ganz Deutschland in tausend Teile. Meine Eltern hörten, wie unten auf der Straße Glas splitterte und Menschen schrien. Nazi-Sturmtruppen klopften an Türen und riefen „Alle Juden raus!“
Plötzlich wurde auch an die Eingangstür unseres Hauses geschlagen. Voller Angst nahm mich meine Mutter auf den Arm, rannte mit meinem Vater die Treppe hinauf zu unseren nichtjüdischen deutschen Nachbarn und flehte sie an: „Bitte versteckt uns! Die Sturmtruppen wissen genau, wo jede jüdische Familie lebt. Sie sind unseretwegen hier. Bitte helft uns!“ – „Unmöglich! Wenn euer Baby weint, bringen sie uns auch um!“ – „Ich verspreche Ihnen, unser Baby wird nicht weinen. Bitte!“ Unsere tapferen Nachbarn schoben uns eilig in einen Schlafzimmerschrank voller Kleidung und rannten zur Haustür, auf die die Sturmtruppen schreiend einschlugen: „Wo sind die Markiewicz‘?!“ Die Nachbarn stellten sich den schwarzstiefeligen Sturmtruppen kühl entgegen: „Die Familie Markiewicz? Ach, schon lange fort!“ Die Sturmtruppen zögerten – Wohnung durchsuchen oder nicht? Nach einigen atemlosen Momenten machten sie kehrt und gingen.
Am nächsten Tag wurden weitere Juden zusammengetrieben. Einige wurden auf der Straße erschossen, andere mussten die Glasscherben zusammenfegen und die Schäden reparieren. Irgendwie mussten wir entkommen. Mein stets einfallsreicher Vater fand einen Bauern, der mit seinem Pferdewagen von Dorf zu Dorf reiste und Heu lieferte. Er bezahlte ihn dafür, dass er mich und meine Mutter über die Grenze ins belgische Antwerpen fuhr. Für den Fall, dass uns die Nazis unterwegs aufhielten, musste meine Mutter sich als Bäuerin ausgeben und in gutturalem Flämisch sagen: „Ich bin die Frau dieses Mannes. Wir gehen unsere Tante besuchen!“
Wir kamen in Antwerpen an und mein Vater erreichte die Stadt ebenfalls. Dort verbrachten wir die nächsten zwei Jahre, in denen mein Vater weiterhin erfolgreich im Pelzhandel tätig war. An diese Zeit habe ich keine Erinnerungen. Aber ich erinnere mich an unsere traumatische spätere Flucht. In einer Winternacht im Jahr 1940 sahen meine Eltern mit Juden beladene Lastwagen der Nazis durch die Straßen von Antwerpen rollen. Wir mussten dringend fliehen. Aber wohin? Immer wieder hatte meine Mutter auf meinen Vater eingeredet, kein Unternehmen mehr zu gründen – doch er konnte einfach nicht glauben, dass die Nazis in Belgien einmarschieren würden. Nun hatte das letzte Schiff den Hafen von Antwerpen verlassen.
Verzweifelt sagte meine Mutter: „Aron, wo Wasser ist, ist Hoffnung!“ Er stimmte zu: „Aber wo gibt es Wasser?“ Meine Mutter erwiderte: „Ich habe eine Ansprache von Churchill, dem Kriegsminister Großbritanniens, gehört. Er forderte, dass Schiffe aller Größen von Dover aus den Ärmelkanal überqueren und britische Truppen aus Belgien evakuieren sollen, die gemeinsam gegen die Nazis gekämpft haben. Tausende sind in Dünkirchen versammelt und dienen als Ziel für die deutschen Bomber über ihnen.“ Meine Mutter fuhr mit Nachdruck fort: „Wir müssen nach Dünkirchen fliehen und auf einem Boot entkommen!“

So zogen sie mir eilig einen Strampler an, mein Vater trug einen Overall über seinem Anzug und meine Mutter ein dunkelblaues Kostüm sowie ihre Handtasche mit den wichtigsten Dokumenten. Sie beobachtete, wie mein Vater sich ein letztes Mal wehmütig in ihrer schönen Wohnung umsah. Dann hakte sie sich bei ihm unter, als er mich auf seine Schultern hob, die Tür schloss und loslief. Während wir um unser Leben rannten, legte ich meinen Kopf auf den grauen Filzhut meines Vaters und wippte auf und ab, während die Bombenangriffe mich die ganze Zeit zusammenzucken ließen. Ich hörte meine Mutter sagen: „Aron, nicht so schnell! Dass Kind schläft.“ Aber ich habe nicht geschlafen. Obwohl ich noch nicht einmal zwei Jahre alt war, wusste ich, dass sie einfach nicht mit ihm mithalten konnte, während wir mit Tausenden anderen durch die Straßen rannten. Die Leute riefen ihr auf Französisch zu: „Wohin lauft ihr?“ Das gekeuchte „Nach Dünkirchen!“ brachte ihr als Antwort: „Du bist verrückt. Der Hafen brennt!“ Aber meine Mutter rief zurück: „Wo Wasser ist, ist Hoffnung!“
Das Wunder im Hangar
Erschöpft suchten wir mit vielen anderen Schutz in einem stillgelegten Flugzeughangar. Plötzlich stand mein Vater auf und alle anderen auch. Er hob mich auf seine Schultern, zog meine Mutter auf die Füße und machte sich auf den Weg nach draußen. Alle anderen folgten ihm und wateten durch einen kleinen Teich. Als alle die andere Seite erreichten, gab es einen direkten Bombentreffer auf den Hangar, wie durch ein Wunder nur Sekunden nachdem alle hinausgegangen waren. Da wir keine Zeit zu verlieren hatten, liefen wir einfach weiter.
Erst Jahre später verstand ich, wie Deutschland im Mai 1940 vorrückte und britische und belgische Truppen an den Stränden von Dünkirchen gefangen hielt. Unter Luft- und Bodenschutz durch britische und französische Streitkräfte wurden Truppen auf jedem einsatzbereiten Marine- und Zivilschiff vom Strand evakuiert. Am Ende dieser heroischen Mission wurden 330.000 Soldaten gerettet, 220.000 verloren ihr Leben und mehr als 300 Schiffe wurden in der Schlacht versenkt.
Das Wunder von Dünkirchen
Irgendwann erreichten wir die bombengeschützten Strände von Dünkirchen. Als wir erschöpft auf den Dünen zusammenbrachen, sahen wir Soldaten, die an Bord von Booten kletterten. Konnten auch wir gerettet werden oder würden wir am Ufer stranden? Als mein Vater einen britischen Offizier bemerkte, der Truppen evakuierte, hob er mich auf seine Schultern. Meine Mutter rief: „Nehmt uns mit auf ein Boot und rettet unser Leben!“ – „Gute Frau, das geht nicht“, antwortete er. „Die Truppen sind bereits wie Sardinen auf die Boote gedrängt. Es gibt nicht genug Platz für sie, geschweige denn für euch Zivilisten.“
Als er wegging, ließen wir uns verzweifelt wieder in den nassen Sand fallen. Dann sah mein Vater einen anderen Offizier vorbeigehen. Er hob mich auf seine Schultern und stellte meine Mutter auf die Füße. „Schnell, frag ihn!“ Meine Mutter bettelte: „Nehmt uns mit! Rettet uns vor dem sicheren Tod!“ Wieder die gleiche erschreckende Antwort: „Unmöglich! Unsere Soldaten haben Vorrang.“ Als der Mann sich umdrehte, um zu gehen, schnappte meine Mutter blitzschnell die Waffe aus seinem Gürtel und hielt sie mir an den Kopf: „Wenn du uns nicht mitnimmst, erschieße ich meine Tochter, meinen Mann und mich selbst vor deinen Augen. Für uns ist es besser, tot zu sein, als von den Nazis abgeschlachtet zu werden!“ Schockiert nahm er seine Waffe wieder an sich und sagte: „Kommen Sie, meine Dame, kommen Sie alle! Schnell!“
Ich erinnere mich, wie er mich hochhob und in den engen Durchgang eines winzigen Bootes setzte. Meine Eltern stolperten hinter mir her und mein Vater versuchte, meine Hand zu halten. Aber sie war eiskalt. Ich schüttelte sie ab und hüpfte freudig hin und her, tanzte durch den schmalen Gang und sang: „Pessy dreh dich, Pessy dreh dich, mach Hoppsa-sa-sa!“ Die lächelnden Gesichter der dicht gedrängten Soldaten sahen zu mir herab und mancher tätschelte mir im Vorbeigehen den Kopf.
Das Wunder der Wunder
Wie kam ich dazu, so zu singen? Noch mehr als achtzig Jahre später spüre ich immer noch die tröstenden Berührungen auf meinem Kopf. Ich habe keine Ahnung. Aber eines weiß ich. 1948 geschah ein weiteres Wunder: die Gründung des Staates Israel.

Mein Mann und ich haben es vor fast 50 Jahren in unser Gelobtes Land geschafft. Jetzt sitze ich verwitwet auf meinem sonnigen Jerusalemer Balkon und erzähle meinen israelischen Kindern, Enkeln und sogar Urenkeln ihre Geschichte: Wie meine Großeltern tragischerweise den Holocaust nicht überlebt haben. Wie ich und meine Eltern von Land zu Land flohen. Wie wertvoll es für uns war, in unserer eigenen Heimat zu sein, obwohl wir Schmerz und Freude, Unglück und Zuspruch nebeneinander erlebt haben. So wie unsere Herzen jetzt fühlen, verbunden mit unseren Geiseln und Soldaten in diesem schmerzhaften Krieg der „Eisernen Schwerter“.
Über alle Generationen hinweg sind wir als Familie in Dankbarkeit für allen Segen vereint. Und wir sind uns einig, dass Liebe hilft, die Traurigkeit zu überwinden. Gemeinsam singen wir mit Freude mein Siegeslied „Pessy, dreh dich“, gefolgt von unserer Nationalhymne Hatikvah – Die Hoffnung!
Hintergrund: Holocaust-Überlebende heute
Laut einer im Januar 2024 veröffentlichten Studie der Jewish Claims Conference gab es im August 2023 weltweit noch etwa 245.000 Holocaust-Überlebende in mehr als 90 Ländern. Knapp die Hälfte von ihnen lebt in Israel, 16 Prozent in den USA, 12 Prozent in Ländern der ehemaligen Sowjetunion. In Deutschland waren es noch rund 14.200, das entspricht knapp sechs Prozent.
Ein Jahr nach Veröffentlichung der Studie dürfte die Zahl der Überlebenden um mehrere Tausende zurückgegangen sein. Die noch lebenden Opfer der Schoah wurden laut der Studie zwischen 1912 und 1946 geboren, das Durchschnittsalter liegt bei 86 Jahren. Daraus folgt, dass mehr als 95 Prozent von ihnen den Holocaust als Kinder überlebt haben; bei Kriegsende waren sie im Schnitt sieben Jahre alt.
Knapp zwei Drittel der jüdischen Überlebenden der Schoah sind Frauen. Ein Großteil der Holocaust-Überlebenden (rund 40 Prozent) bezieht Unterstützung aus staatlichen oder nicht-staatlichen Hilfsprogrammen, beispielsweise in Form von Einmal- oder jährlichen Zahlungen. Aufgrund ihres hohen Alters benötigen viele der jüdischen Senioren häusliche Pflege; sie erhalten außerdem Leistungen wie Lebensmittel, Medikamente, Fahrdienste, soziale Kontakte und weitere Unterstützung nach individuellem Bedarf.
Die umfassende Demografie-Studie über die Überlebenden der Schoah ist laut Angaben der Claims Conference bis dahin einzigartig.
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 140. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.