Drei Jahre nach Ausbruch des russischen Kriegs in der Ukraine, der vielerorts bereits länger andauert als die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg, bringt das Team von Christen an der Seite Israels (CSI) Hoffnung und Hilfe zu den Holocaust-Überlebenden und bedürftigen jüdischen Senioren. Selten war diese Zuwendung wichtiger, wie der Besuch bei Alla in Nikolajew zeigt.
Von Anemone Rüger
Die Entscheidung, nach Nikolajew zu fahren, ist nicht leicht, denn die Stadt liegt nicht weit von der Frontlinie und wird täglich beschossen. Aber dann überwiegt doch der Wunsch, wieder die Freude in den Augen der Einsamen zu sehen. Keins der praktischen Hilfsgüter ist für die Bedürftigen auch nur annähernd so wichtig wie die bloße Tatsache, dass jemand kommt, um sie in ihrer Not zu besuchen.
In jüngerer Zeit haben unsere Besuche in den jüdischen Gemeinden der Ukraine immer zwei Schwerpunkte. Die allerschlimmste Krankheit unter den Überlebenden ist die Einsamkeit. Daher versuchen wir zunächst, einen halbwegs sicheren Ort zu finden, wo wir alle zu einem festlichen gemeinsamen Essen einladen. Und ein Fest ist es immer wieder für jeden Einzelnen. Man holt das beste Kleid aus dem Schrank, geht mitunter extra zum Friseur, legt leuchtenden Lippenstift auf. Und dann sitzen die Überlebenden für ein paar Stunden mit uns und ihren Freunden an einer langen Tafel wie in guten alten Zeiten, hören den Worten des Rabbiners und unseren Grüßen von christlichen Unterstützern aus der ganzen Welt zu, genießen ein Hauskonzert zum liebevoll zubereiteten Essen und gehen später mit einem kleinen Geschenk wieder heim.
Nachdem wir alle glücklich gemacht haben, die noch mobil genug für solche Veranstaltungen sind, machen wir unsere Runde und besuchen all diejenigen, die nicht mehr in der Lage sind, in einem Haus ohne Aufzug die Stufen aus dem fünften Stock hinunterzugehen und so ihre Jahre eingesperrt in ihren vier Wänden verbringen.
Wer hat die Blumen mitgebracht?
Bei unserem jüngsten Treffen in der historischen Synagoge von Nikolajew, wo wir bei Geigenklängen einen fröhlichen Nachmittag in Gemeinschaft verbrachten, hatte jemand einen Blumenstrauß auf den Tisch am Eingang gelegt. Wir fragten herum und trauten unseren Ohren kaum. Für uns? Von Alla? Alla, die Holocaust-Überlebende? Wir setzten Alla an die erste Stelle unserer Besuchsliste für den nächsten Tag.

Nikolajew war früher wegen der berühmten sowjetischen Schiffswerft eine wohlhabende Stadt. Jetzt fragen wir uns, wie hier überhaupt noch jemand leben kann. Wir fahren an vielen Häusern mit vernagelten Fenstern vorbei; aus manchen hochgeschossigen Gebäuden wurden ganze Stücke herausgerissen.
Allas Tränen
Alla bittet uns an ihren Küchentisch. Wir brauchen sie nicht nach ihrer Geschichte zu fragen – sie fließt automatisch von ihren zitternden Lippen. Alla ist völlig erblindet, aber die Erinnerungen scheint sie glasklar vor ihren inneren Augen zu haben.
„Meine Mutter war Ukrainerin, mein Vater war von den Karaim, den Krim-Juden. Wie alle anderen Männer musste auch er an die Front. Wir wurden mit Mama ins Konzentrationslager gebracht. Sie haben uns von einem Lager zum anderen geschleppt. Eines Tages haben sie angefangen, die jungen Frauen zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu deportieren. Die Wachen waren gerade dabei, sie auf die Lastwagen zu verladen, als mein Bruder sah, wie meine Mutter hinten auf dem Lastwagen nach uns rief.
Er kam zu mir gerannt: ‚Alla, sie bringen Mama weg! Komm schnell!’ Wir rannten ihnen hinterher. Ich habe verzweifelt geweint und nach Mama geschrien. Ein Soldat ist wütend geworden und hat auf mich geschossen. Ich hatte mehrere Kugeln im Oberschenkel, eine Kugel im Bauch und drei gebrochene Rippen. Mein Bruder hat mich dann in eine Scheune getragen.“ Fortan mussten die beiden Kinder für sich selbst sorgen. Alla laufen die Tränen über die Wangen, aber die schrecklichen Erinnerungen müssen raus.

Alleingelassen – immer wieder
„Wir mussten uns verstecken – bald in der Kanalisation, bald in Kellern und Dachkammern und Ruinen. Mama ist mit den anderen Frauen in einen Zug nach Deutschland gesteckt worden. In Polen haben die Partisanen den Zug angegriffen. Mama konnte fliehen. Sie hat uns wieder gefunden. Sie hat die Verstecke abgesucht, wo wir uns vorher schon versteckt hatten. Da ist es dann leichter geworden; Mama konnte wieder für uns sorgen.“ Die Familie überstand den Krieg, doch die Nachkriegszeit brachte wenig Schönes.
„Papa wurde schwer verwundet an der Front“, berichtet Alla weiter. „Er kam nach Taschkent ins Lazarett. Dort hat er eine andere Frau kennengelernt. Er ist nicht zu uns zurückgekehrt. Wir haben in so einer Armut gelebt nach dem Krieg. Mama musste uns allein durchbringen. Und dann ist auch noch mein Bruder kurz nach dem Krieg gestorben, 1947. Sie haben ihm im KZ viel Blut abgenommen. Das haben sie mit vielen jüdischen Kindern gemacht – Blutkonserven für die Wehrmacht. Dann war ich mit Mama allein. Sie hat alles für uns gegeben.“
Und auch nach dem Krieg blieb „Jude“ ein Schimpfwort in Allas Umfeld. Daran hat sich für sie bis heute wenig geändert. „Ich habe meine Pflegerin gebeten, mich nicht wie üblich bei meinem Vatersnamen – Alla Isaakowna – zu nennen. Ich habe mich selbst umbenannt in Alla Iwanowna. Ich will nicht, dass die Nachbarn wissen, dass ich jüdische Wurzeln habe. Es gibt so viele Menschen, jetzt plötzlich neidisch sind, dass die Juden Hilfe bekommen, besonders die Holocaust-Überlebenden. Das ist gefährlich.“

Eine kostbare Krone
Es gibt noch einen Punkt, der Alla schmerzt – vielleicht am allermeisten. „Mein ganzes Leben bin ich als Jüdin beschimpft worden; was habe ich nicht für meine jüdischen Wurzeln alles gelitten. Und für die jüdische Gemeinde hier gelte ich nicht als Jüdin, weil nur mein Vater Jude war. Ich brauche keine Hilfeleistungen; darum geht es mir nicht. Aber ich gehöre für die orthodoxe Gemeinde nicht dazu. Das ist sehr bitter.“
Umso mehr strahlen Allas blinde, tränengefüllte Augen darüber, dass sie für uns unendlich wichtig ist. Dass sie für Gott unendlich wichtig ist, der zu ihr sagt: „Du wirst eine schöne Krone sein in der Hand deines Gottes.“ (Jesaja 62,3)

Mich bewegt es so sehr, dass ihr mich besucht!“, sagt Alla zum Schluss. „Mir hat es so gefallen gestern bei unserem gemeinsamen Essen. Die Geigen haben mich daran erinnert, wie ich meine Mutter beerdigt habe. Da musste ich weinen. Es war so ein schönes Konzert. Bevor wir losgefahren sind, habe ich zu meiner Pflegerin gesagt: ‚Jelena, es kommen besondere Gäste. Die muss man doch richtig empfangen!’ Deshalb habe ich für euch Blumen gekauft.“