Wenn wir mit unserem Team von Christen an der Seite Israels (CSI) in der Ukraine unterwegs sind, um Holocaust-Überlebende erster und zweiter Generation zu besuchen, stehen wir immer wieder vor der Frage: Wie können wir dem unbeschreiblichen Leid begegnen, das sie erlebt haben? Den unfassbaren Grausamkeiten der Nazizeit, eingebettet in die stalinistischen Verfolgungen vor und nach dem Krieg, der Einsamkeit ihres Alters, bis hin zu den Schrecken, die der aktuelle Krieg auslöst?
Von Anemone Rüger
Sind wir als Mitarbeiter vor Ort in der Ukraine, stellt uns Gott immer wieder die einfache Frage, die er einst Mose stellte: Was hast du in deiner Hand? Dank unserer treuen Unterstützer haben wir immer etwas in der Hand: eine Lebensmitteltüte, einen Blumenstrauß, eine Wärmflasche. Und mit diesen einfachen Dingen verbindet sich die Liebe des Vaters und bringt Heilung in die verwundeten Seelen der Überlebenden. Mit dem folgenden kleinen Rundblick möchten wir unsere Beter und Spender teilhaben lassen an den vielen Herzenswundern, die in den Dankesworten unserer jüdischen Senioren zum Ausdruck kommen.
Meris größtes Geschenk
Wir sind kaum zur Tür herein, da fließt schon ein Strom von Dankesworten über Meris Lippen: „So eine Ehre, dass ihr mich besuchen kommt! So viel Aufmerksamkeit für mich! Wie habe ich das bloß verdient? Gott gebe euch Gesundheit!“ Meri lebt in Krementschug. Sie hat viel gesehen – sie ist seit 1928 auf dieser Erde. „Erst der große Hunger in der Ukraine, dann die Überschwemmung in Krementschug, dann der Krieg und die Flucht und dann das große Erdbeben, als wir in Aschchabad gelebt haben.“
Meris Großmutter war sehr religiös und hielt alle jüdischen Feiertage. „Großvater ist nicht mit uns gekommen, als wir weg sind“, erzählt Meri. „Die Nazis haben ihn an ein Pferd gebunden und durch das Dorf geschleift. So ist er umgekommen. Das haben uns die Leute erzählt, als wir zurückgekehrt sind.“ Unvorstellbare Kindheitserinnerungen. „Nach dem Krieg, ja, da gab es wieder Juden in der Stadt, die zurückgekehrt sind. Sie sind heimlich in einen Keller gegangen, wo sie sich zum Gebet getroffen haben.“
Und noch einmal bedankt sich Meri: „Danke ist ein viel zu geringes Wort für alles, was ihr für uns tut! Danke für all die Geschenke! Aber mein größtes Geschenk ist, dass ihr gekommen seid!“
Nahrung für Leib und Seele
In Krementschug arbeiten wir mit der Synagogengemeinde zusammen, damit bedürftige Senioren Medikamente, warme Mahlzeiten und Nahrung für ihren Geist bekommen. Anlässlich des Neujahrsfestes Rosch HaSchana haben wir 30 jüdische Senioren aus unserem Programm in die Synagoge eingeladen. Bewirtet werden wir von den Köchinnen, die auch das Essen für die Bedürftigen zubereiten. Dass sie kochen können, wissen wir schon von unseren vorherigen Besuchen.
Wir haben 30 Geschenke gekauft und gehen davon aus, dass mindestens die statistischen zehn Prozent der Geladenen ausfallen, umso mehr in dieser Altersgruppe. Als alle Platz genommen haben, sind es 33. Alle wollen dabei sein, wenn es die Möglichkeit für ein Wiedersehen gibt. Als die Musik erklingt, nimmt Rabbi Salamon selbst das Mikrofon in die Hand und reißt die Gäste mit „Hava Nagila“ mit.
„Ich bin wieder gesund geworden“
Soya möchte uns unbedingt sprechen. „Als ich damals die Krebsdiagnose bekam, musste ich alles verkaufen, was ich hatte, um mir die Operation leisten zu können,“ sagt Soya. „Damals dachte ich, mein Leben ist vorbei. Aber dann seid ihr gekommen. Dank euch lebe ich!“
Auch Igor, die rechte Hand des Rabbis, kommt auf uns zu. „Erinnert ihr euch? Ich bin der, für den Pastor Johannes und seine Frau Ute damals gebetet haben. Ich hatte gerade eine schwere Krebsoperation hinter mir und hatte nur geringe Überlebenschancen. Das ist nun schon viele Jahre her. Ich bin wieder gesund geworden!“
Worte der Hoffnung
Ira ist so dankbar für die Medikamente, unser Lebensmittelpaket, die Geschenke; doch am meisten berührt sie die handgeschriebene Karte einer Unterstützerin aus Deutschland. „Fürchte dich nicht“ – die Worte Jesajas gehen ihr ins Herz. „Ich bin so bewegt“, sagt Ira. „Wie sehr brauchen wir gerade jetzt solche Worte der Hoffnung, wenn jeden Tag die Sirene geht! Ich werde die Karte an einen gut sichtbaren Ort stellen, damit ich sie jeden Tag lesen kann!“
Unser Arzt, unser Köni
„In Fălești haben wir gewohnt“, erzählt Mira im moldawischen Belz. „Papa hat in einem Dorf als Schuster gearbeitet. Wir waren eine große Familie. Dann mussten wir fliehen, mit dem Pferdewagen, Richtung Soroca. Als wir am Fluss ankamen, konnten nicht alle mit. Ich bin mit Mama und meinem Bruder auf die andere Seite übergesetzt und Papa ist mit Oma und einem Bruder zurückgeblieben. Dann wurden wir aus der Luft angegriffen. Wir haben noch einen Tag auf sie gewartet, aber sie sind nie gekommen …“
Evi, CSI-Ehrenamtlerin, drückt Mira ein rotes Herz in die Hand. „Du bist etwas Besonderes“ steht darauf. „Voriges Jahr war ein Deutscher hier“, sagt Mira. „Er hat für mich Geige gespielt. Er hat auch um Vergebung gebeten für das, was hier passiert ist. Ich weiß, Gott wird unsere Herzen heilen. Er ist unser Arzt; er ist unser König.“
Was Nikolai noch auf dieser Erde hält
Nikolai, unser lieber Nikolai … Er erwartet uns schon am Hauseingang zu seinem Wohnblock in Ungheni an der rumänischen Grenze. So viel hat er verloren und so viel bedeutet ihm unser Besuch. Als wir ihn vor gut einem Jahr kennenlernten, war der Verlust seiner Frau und seiner einzigen Tochter noch frisch. Sie waren beide innerhalb einer Woche an Corona gestorben.
Nikolai hat wieder seinen kleinen Campingtisch im Wohnzimmer für uns gedeckt: Kuchen, Kaffee und Erdbeer-Secco zur Feier des Tages. Ja, in München sei er auch gewesen, erklärt er Evi – damals mit seinem Ensemble. Ganz früher war Nikolai Profi-Musiker, sein Instrument war die Klarinette. Damals, vor Tschernobyl. Nach seinem behördlich angeordneten Einsatz als Ersthelfer ohne Schutzausrüstung war seine Musiker-Karriere vorbei. Dass er jüdisch ist und sein Großvater deshalb ermordet wurde, hat die Familie lange geheim gehalten.
Instrumente gibt es schon lange keine mehr in Nikolais Wohnung. Auch die Freunde sind fast alle weg. „Einige meiner Schüler und Freunde sind in Israel bekannte Musiker geworden“, sagt Nikolai. Ich habe die Kraft nicht mehr. Mit meinem angeschlagenen Herzen komme ich kaum bis Kischinau. Was mich noch auf dieser Erde hält, ist, dass ich Freunde habe wie euch.“ Dabei bricht diesem großen, starken Mann die Stimme. Evi legt ihm ein mitgebrachtes rotes Herz in die Hand. Ein Handwärmer, auf dem steht: „Sei gesegnet“ – damit Nikolai etwas hat, das ihn daran erinnert, dass er wertvoll und geliebt ist.
Mit Uman fing alles an
Wir wählen trotz der schlechteren Straße die südliche Route für unseren Rückweg nach Winniza. Uman liegt auf dem Weg, eine der ersten jüdischen Gemeinden, die wir besucht und unterstützt haben. Als wir in die vertraute alte Sowjetwohnung kommen, tragen die Damen gerade einen Teller nach dem anderen aus der Küche: Blintischiki (gefüllte Crêpes), Honigkuchen, Obst und Käseteller, und – nicht zu vergessen – etwas zum Anstoßen. L’chaim! Und Schabbat Schalom – Ljuba hat gerade die Kerzen angezündet. Galinas Tochter hält mir ein Foto von ihrer Mutter hin. „Erinnerst du dich an die handgestrickte Decke, die ihr Mama mitgebracht habt? Sie hat sie den ganzen Winter auf den Knien!“
„Dass jemand unsere Geschichte kennt“
Als ich die Grüße aus Deutschland überbracht habe – besonders die Grüße der Paten, unbekannterweise – ergreift Dmitri das Wort. „Dass in Deutschland jemand unsere persönliche Geschichte kennt … und unser Foto bei sich stehen hat … und für uns betet, … das übersteigt meinen Verstand!“ Dmitri ist 1942 im Ghetto Uman geboren; seinen Vater und seine Mutter haben die Nazis am Leben gelassen, weil sie als Schuhmacher „nützlich“ waren.
Auch Sofia hat mit ihrer Mutter, die brutale Zwangsarbeit verrichten musste, das Lager überlebt. „Ich kann jetzt kaum noch laufen; ich bin den ganzen Sommer nicht aus dem Haus gegangen“, erklärt Sofia. „Aber als ich gehört habe, dass ihr kommt, habe ich zu meiner Tochter gesagt: ‚Da will ich unbedingt hin, egal wie! Irgendwie schleppe ich mich mit meinem Stock dahin!‘ Ihr habt uns allen heute wertvolle Tage zu unserer Lebenszeit hinzugefügt!“
„Wann immer wir deinen Namen hören, geht es uns warm und hell durchs Herz!“, fügt Olga hinzu. Die Olga, die die Erschießung in einem nahegelegenen Schtetl überlebte und von zwei kleinen Jungen verwundet aus der Leichengrube herausgezogen wurde. „Ihr bringt uns so viel Licht und Wärme in dieser schweren Zeit! Danke ist ein viel zu geringes Wort, euch unsere Herzen auszudrücken!“
Gerne können Sie einen Holocaust-Überlebenden erster oder zweiter Generation auf Ihr Herz nehmen und mit einer Patenschaft unterstützen. Auch Einmalspenden sind willkommen. Unsere Mitarbeiter kümmern sich darum, dass die Hilfe ankommt und die Botschaft der Liebe aus Deutschland, Österreich und der Schweiz bei persönlichen Besuchen übermittelt wird. Mehr über unser Patenschaftsprogramm für Holocaust-Überlebende finden Sie hier.
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 139. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.