„Jeder Tropfen Blut erzählt eine Geschichte“ – Als Ehrenamtlerin bei der Bergungsorganisation ZAKA

„Jeder Tropfen Blut erzählt eine Geschichte“ – Als Ehrenamtlerin bei der Bergungsorganisation ZAKA

Irene Nurith Cohn vor ausgebrannten Autowracks
Irene Nurith Cohn hat nach dem 7. Oktober geholfen, die sterblichen Überreste aller Toten einzusammeln. Foto: privat

Bis zum 7. Oktober 2023 hatten die Mitarbeiter der israelischen Freiwilligenorganisation ZAKA geglaubt, schon alles gesehen zu haben. Doch den Anblick des Schlachtfeldes, das die Hamas-Terroristen hinterließen, kann ein Herz kaum verkraften. Eine, die mittendrin war, und in deren Seele sich die Bilder und der Geruch des Grauens eingebrannt haben, ist Irene Nurith Cohn. Fast drei Monate lang hat sie die sterblichen Überreste von Hunderten Toten eingesammelt – die der Täter und die der Opfer.

Die freiwilligen Helfer der israelischen Bergungsorganisation ZAKA sind in Israel Helden. Nach Katastrophen, Unfällen oder Terroranschlägen sind sie die ersten vor Ort. Sie retten zuerst die Lebenden und bergen dann die Toten. Mit Spachtel und Pinzette sind sie unterwegs, um auch den kleinsten Tropfen Blut, den winzigsten Fetzen Haut zu sammeln, um eine würdige Bestattung der Toten zu ermöglichen. Ihr Dienst gilt als wahre Nächstenliebe. Denn die Toten sagen nicht Danke.

Irene Nurith Cohn ist eine von zwei Frauen, die nach dem Massaker vom 7. Oktober die sterblichen Überreste der mehr als 1200 Menschen einsammelten, die von den Hamas-Terroristen ermordet worden waren. Bei diesem Einsatz war alles anders. Es ging nicht um drei, zehn oder 20 Tote und Verwundete, sondern um Tausende.

Die Terroristen hatten Zeit zum Foltern

Bei Terroranschlägen ist es oft eine Bombe, die Menschen zerfetzt. Oder Personen werden mit Messern angegriffen, mit Autos angefahren. „Doch hier hatten die Terroristen Zeit zum Foltern, Vergewaltigen, Verstümmeln und Morden und um die schlimmsten Dinge zu tun. Sie haben ihre wahren Gesichter gezeigt. Das waren Menschen – keine Tiere, keine Monster. Monster existieren nicht. Diese Menschen wussten genau, was sie tun, und haben sich bewusst dafür entschieden, so zu handeln“, sagt Irene im Gespräch mit Christen an der Seite Israels. Viele der Terroristen hätten zwar unter Drogen gestanden, doch dies seien keine Drogen, die „high“ gemacht hätten, sondern solche, die Energie gaben.

Mehr als zwei Wochen habe es gedauert, bis alle Leichen und größeren Körperteile geborgen waren, erzählt Irene und fügt hinzu: „Insgesamt haben wir drei Monate gebraucht, bis wir aus jedem Haus, jedem Auto, jedem öffentlichen Schutzraum in der gesamten Umgebung jeden Zahn, jeden Fetzen Haut, jeden Tropfen Blut eingesammelt hatten.“ Auch die Leichen von rund 1500 palästinensischen Terroristen seien geborgen worden. „Doch bei den Palästinensern interessiert sich niemand dafür. Sie liegen hier in Israel, anständig aufbereitet, aber auf palästinensischer Seite fordert sie keiner ein.“

Irene ist bei der Tauchereinheit von ZAKA. Seit acht Jahren setzt sie sich ehrenamtlich für die Organisation ein. Sie wird gerufen, wenn Leichen aus dem Wasser geborgen werden müssen. „Deshalb war ich auch die erste Woche nach dem 7. Oktober bei den Bergungen nicht dabei. Aber dann war ich auf der Beerdigung von einem Mitglied unserer Einheit, das bei dem Massaker getötet wurde“, erzählt Irene. Dort sei ihr bewusst geworden, dass jeder gebraucht werde und so habe sie sich gemeldet.

Irene Nurith Cohn und Dana Nowak
ZAKA-Ehrenamtlerin Irene Nurith Cohn (l.) und CSI-Redaktionsleiterin Dana Nowak im ZAKA-Quartier im israelischen Beit Schemesch. Foto: privat

Dass sie als Frau bei der Hilfsorganisation arbeitet, ist noch immer etwas Besonderes – auch, wenn die anfangs rein männliche Organisation hier mittlerweile offener ist. Unter den rund 3500 freiwilligen Helfern gibt es laut Irene nur eine Handvoll Frauen, geleitet wird ZAKA von Rabbinern. Die meisten Ehrenamtler sind verheiratete ultra-orthodoxe Männer. Sie tun diesen Dienst mit schriftlicher Erlaubnis ihrer Frauen. Doch mittlerweile arbeiten auch einige säkulare oder muslimische Israelis bei ZAKA.

Am 7. Oktober hatten die Freiwilligen mit ihrer Arbeit auf dem Gelände des Nova-Festivals begonnen. Dort hatten Terroristen mehr als 360 Menschen brutal ermordet. „Bis vier Uhr am nächsten Morgen, also über Nacht, haben sie Leichen eingesammelt. Es waren noch Terroristen da, aber es war wichtig, dass ZAKA die Leichen sammelt, damit sie nicht als Geiseln genommen werden“, erzählt Irene.

Normalerweise mache die Polizei an Unglücks- oder Verbrechensorten verschiedene Tests oder Fotos. „Aber hier war kaum Zeit dafür. Glücklicherweise haben einige Kollegen doch Bilder von den Toten gemacht. Das machen sie sonst nicht, es ist nicht ehrenhaft. Aber diese Taten mussten festgehalten werden. Da waren junge Menschen, mit verbrannten Genitalien …“, Irene schluckt und macht eine Pause. Dann erzählt sie davon, wie wichtig die Arbeit von ZAKA für die Angehörigen war: „Wir haben mit Eltern gesprochen. Sie dachten, ihre getöteten Kinder lagen mehrere Tage dort draußen. Aber ZAKA konnte ihnen sagen, dass sie sofort da waren und sich um die Körper gekümmert haben. Das hat den Eltern Trost gegeben.“

Während die Helfer von ZAKA mehr als zwei Wochen lang Leichen einsammelten, stellte die Armee sicher, dass keine Terroristen mehr vor Ort waren. Soldaten gingen von Haus zu Haus, sicherten die Gebäude, entfernten Sprengfallen, die zum Teil an Leichen befestigt waren, und entschärften herumliegende Granaten.

Helfer trösten sich gegenseitig
Was die ZAKA-Mitarbeiter sehen mussten, kann ein Mensch kaum ertragen. Foto: Irene Nurith Cohn

Dann begann für die ZAKA-Mitarbeiter die nächste Runde: das Säubern der Häuser. Manchmal haben wir uns in den Arm genommen und ein Lied gesungen, um uns zu stärken, bevor wir mit der Arbeit beginnen konnten. „Als kleine Teams sind wir von Haus zu Haus gegangen. Wir trugen Schutzanzüge und mussten Masken aufziehen. Der Geruch … nach zwei Wochen, die Leichen verwesten. Manchmal haben wir uns in den Arm genommen und ein Lied gesungen, um uns zu stärken, bevor wir mit der Arbeit beginnen konnten. Zwei unserer Mitarbeiter sind an einem Herzinfarkt gestorben. Ein weiterer hat einen Infarkt überlebt. Er hat gesagt, dass ein Herz das nicht aushalten kann. Die zerstückelten Körper, die Blutspuren auf dem Flur, die Einschüsse in den Türen, dahinter Blut, du siehst ein Babybett, Blut überall, dann siehst du die Familienbilder an der Wand und weißt, alle sind tot. Jedes Haus, jeder Tropfen Blut erzählt eine Geschichte, eine, die vielleicht nie bekannt wird. Wir haben sie alle im Kopf, diese Geschichten.“

„Gott hat mir Kraft gegeben“

Auf die Frage, wie sie es geschafft hat, diese drei Monate durchzuhalten, sagt Irene: „Ich danke Gott, dass er mir die Kraft gegeben hat, das zu tun. Bei allem Schmerz und allem Leid müssen wir tun, was getan werden muss. Es hört sich verstörend an, aber tagsüber haben wir die Leichen aufgesammelt, in dieser Umgebung, in der alles zerstört war, und abends haben wir ZAKA-Mitarbeiter für die Soldaten gegrillt, um sie aufzubauen, wir haben getanzt und gesungen. Ich war am ersten Tag schockiert darüber, aber es war genau das, was wir und die Soldaten gebraucht haben, um weiterzumachen. Später im Laufe der drei Monate kamen immer wieder Freiwillige, die für uns ZAKA-Helfer Essen gebracht haben, um uns zu ermutigen. Die Terroristen werden unseren Geist nicht brechen. Wir sind hier. Und wir leben.“

Sie selbst habe zunächst geglaubt, als Sozialarbeiterin brauche sie keine Therapie. Doch mittlerweile habe auch sie therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen müssen. „Alle sind in Therapie, auch die Therapeuten. Was wir gesehen haben, sollte niemand sehen, es waren nicht einfach Leichen, es war das Böse – ein Kind mit abgeschnittenen Fingern, abgetrennten Beinen, Frauen mit abgeschnittenen Brüsten, Männer mit abgeschnittenen oder verbrannten Genitalien, ausgestochenen Augen. Und dann der Geruch … Ich bekomme die Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Aber ich glaube daran, dass sich meine Seele erholen wird. Immer wenn ich vor Gruppen spreche, sage ich, ihr seid meine Therapie – denn wenn ich rede, verarbeite ich. Aber das alles wird uns unser Leben lang begleiten.“

„Es geht um die Frage, ob wir in einem Jahr noch da sein werden“

Was Irene nie gedacht hätte: „Wir hätten nie geglaubt, dass wir irgendetwas beweisen müssten. Die Hamas selbst hat Videos von ihren Gräueltaten gemacht. Aber wir veröffentlichen das Material nicht, um die Würde der Opfer zu wahren. Wir zeigen die Bilder Journalisten, UN-Vertretern, Politikern, vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Aber viele wollen die Wahrheit vom 7. Oktober einfach nicht wahrhaben.“

Israel kämpfe einen Krieg gegen Terrorgruppen, nicht gegen Zivilisten. „Dabei geht es um Leben und Tod, um die Frage, ob wir in einem Jahr noch da sein werden. Wenn wir unser Land nicht schützen, wird es niemand tun“, sagt Irene. Sie hofft, dass sich die Menschen weltweit über die Fakten informieren: „Es sollte nicht so schwer sein, zwischen einer Terrorgruppe und einem demokratischen Land zu wählen. Es gibt immer Hoffnung. Wir werden hierbleiben und alles tun, um bleiben zu können. Dabei gehen wir den Weg größtmöglicher Moral. Wir halten uns an die internationalen Gesetze, während die Hamas jedes Gesetz bricht – Folter, Genozid, Vergewaltigung, alles ist dabei.“

Dennoch glaube sie, dass in jedem Menschen etwas Gutes ist. „Die Menschen im Gazastreifen werden dafür belohnt, wenn sie Böses tun. Wir haben ihnen Arbeit gegeben, haben sie in unseren Krankenhäusern behandelt, sie haben das ausgenutzt, es gegen uns benutzt. Was Gaza braucht, ist Bildung.“

Hintergrund ZAKA

Offiziell gegründet wurde ZAKA 1995. Ausschlaggebend dafür war ein Anschlag während der sogenannten „Ersten Intifada“ 1989. Ein Palästinenser hatte in einem vollbesetzten israelischen Bus auf dem Weg von Tel Aviv nach Jerusalem das Steuer an sich gerissen und das Fahrzeug in eine Schlucht gestürzt. 16 Menschen kamen ums Leben, 27 wurden verletzt. Der Attentäter, der 25-jährige Abdal-Hadi Rafa Ghanim aus dem Gazastreifen, überlebte – dennoch gilt der Angriff als das erste Selbstmordattentat. Ghanim kam im Jahr 2011 im Rahmen des Austauschs für den von der Hamas festgehaltenen israelischen Soldaten Gilad Schalit zusammen mit mehr als 1000 palästinensischen Terroristen frei.

Nach dem Anschlag waren ultra-orthodoxe Studenten einer nahegelegenen Talmud-Schule die ersten am Tatort, die Hilfe leisteten. Sie sammelten auch die Toten ein. Denn im Judentum soll ein Körper im Ganzen begraben werden. Es heißt, dass in jedem Tropfen Blut noch ein bisschen Seele ist. Einer der Freiwilligen vor Ort war Jehuda Meshi Zahav. Er gründete später ZAKA.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 138. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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