Moisej und seine Geschichte, die er nicht erzählen konnte

Moisej und seine Geschichte, die er nicht erzählen konnte

alter Mann mit nachdenklichem Blick
Moisej hat als kleines Kind im Todeslager Petschora Dinge gesehen, die er bis heute nicht erzählen kann. Alle Fotos: CSI

Als es noch kein Corona und keinen Krieg in der Ukraine gab, kamen jährlich hunderte Besucher mit Christen an der Seite Israels ins Land, um jüdischen Gemeinden zu begegnen. Nie durfte das Städtchen Tultschin fehlen, wo Rita in Etappen erzählte, wie sie das Todeslager Petschora überlebte. Sie sprach für eine ganze Generation von damals inhaftierten Kindern, die das erlebte Grauen selbst nie in Worte fassen konnten. Unter ihnen ist auch Moisej, der bis heute regelmäßig von unseren CSI-Mitarbeitern besucht wird.

Von Anemone Rüger

Moisej möchte gleich mit uns anstoßen. Seine Frau hat den Hof in einen kleinen botanischen Garten verwandelt. Um den Cognac kommen wir gerade so herum mit dem Hinweis, dass es noch früh am Tag und sehr warm ist. Über die Torte freut sich Moisej, über die Blumen seine Frau. Das Wichtigste für beide ist, dass sie nicht vergessen sind. Dass jemand neben ihnen auf der Gartenbank sitzt und Grüße aus Deutschland überbringt.

Moisej lebt mit seiner Familie – das ist seine Frau und seine behinderte Tochter – in Tultschin, einer ukrainischen Kleinstadt bei Winniza. Einst war Tultschin weithin bekannt. Der polnische Graf Potocki brachte die Stadt – und bewusst auch das jüdische Leben in ihr – ab Ende des 18. Jahrhunderts zur Blüte. Es gab mehr als 10.000 jüdische Einwohner, 18 Bethäuser und 70 jüdische Schulen, bevor die Oktoberrevolution und die darauffolgenden Pogrome die Bevölkerung dezimierten und der Sowjetstaat religiöses Leben in den Untergrund trieb. Als die Wehrmacht im Sommer 1941 einmarschierte, war die jüdische Gemeinde Tultschin mit 5600 Mitgliedern immer noch die größte der Region.

„Papa war Schoicher, koscherer Metzger. Naum hieß er“, erzählt uns Moisej. „Er kam aus einer großen Familie, drei Brüder und sechs Schwestern. Mama hieß Riva, von Rebekka; sie war Näherin. Ich war damals zwei.“ Was genau dann passierte, werden wir von Moisej nie erfahren. Er kann es nicht erzählen – auch nach 80 Jahren nicht.

Mit Typhus infiziert

Das meiste, was wir über die Juden von Tultschin wissen, hat uns Rita erzählt, Rita Schwejbysch. Sie war drei Jahre älter als Moisej und sie hat sich alles gemerkt. Mit den Deutschen kam das Ghetto. Nach Monaten von Demütigungen und Gewalt wurden die Juden Anfang Dezember in der jüdischen Schule zusammengetrieben.

„Drei Tage sind wir dort festgehalten worden“, erinnerte sich Rita. „Es gab einen ukrainischen Arzt, Beretzki hieß er. Der hat uns Spritzen verabreicht. Spritzen mit Typhus-Erregern. Dann mussten wir duschen. Als wir wieder herauskamen und unsere Kleider gesucht haben, waren sie durchweicht und verlaust – damit sich der Typhus schneller ausbreitet. Dann haben sie uns auf den Todesmarsch getrieben.“ Dabei waren auch Moisejs Mutter, mit ihrem kleinen „Mosik“ auf dem Arm. Und die anderen Familienmitglieder? Moisej bittet, nicht zu fragen. Unter Tränen.

Frau und Mann auf Gartenbank
Moisej wird regelmäßig von unseren CSI-Mitarbeitern besucht, wie hier von Anemone Rüger.

Die Todesstraße

Insgesamt waren es schätzungsweise 12.000 Juden aus der ganzen Gegend, die in den Adventswochen jenes eisigen Dezembers in drei Gruppen eingeteilt und dann von deutschen Einsatztruppen und ukrainischen Polizisten mit Schäferhunden vor sich hergetrieben wurden. „Wir mussten laufen, laufen, laufen“, erinnert sich Rita. „Etwa zwanzig Kilometer waren es am ersten Tag. Viele der Älteren sind unterwegs zusammengebrochen; sie wurden gleich erschossen. Deshalb heißt die Landstraße ‚Todesstraße‘.“

Am Abend erreichten die Überleben den des ersten Tagesmarsches das Dorf Torkiw, wo sie die Nacht eng zusammengedrängt in einem Pferdestall verbringen mussten. „Einige haben den Verstand verloren“, so Rita. „Wir hatten nichts – nichts zu essen, nichts zu trinken, nichts, um unsere Notdurft zu verrichten. Als es wieder hell wurde, hatten sich viele an den Stricken, die für das Vieh vorgesehen waren, erhängt.“

Petschora – die „Todesschlinge“

Nach einem weiteren Tagesmarsch kamen die Juden von Tultschin am Abend des 8. Dezember 1941 in Petschora an. Ein hübsches kleines Dorf am Waldrand, mit einem großen Sanatorium. Auf drei Seiten von einer Mauer umgeben und auf der vierten vom Fluss Bug begrenzt, wurde das Territorium der Heilanstalt über Nacht zu einem Todeslager, „Todesschlinge“ genannt. Es sollte von Historikern als das grausamste Konzentrationslager im rumänisch besetzten Teil der Ukraine eingestuft werden. Und das, obwohl hier nur selten ein Schuss fiel. Die Gefangenen wurden einfach ohne jegliche Versorgung den Naturelementen überlassen.

Einige wenige Sätze über das Lager gibt Moisej doch preis. „Im Winter war es schrecklich: Schnee, Eis und bittere Kälte. Das ganze Gelände war überfüllt mit Menschen, die auf dem Boden kauernd dahinvegetierten. Viele bekamen Typhus und Ruhr; Fieber und Krätze waren allgegenwärtig. Man war ständig auf der Suche nach etwas Essbarem. Die Leute haben ihre Kleider dafür eingetauscht. Sogar um ein paar Halme Gras hat man gekämpft.“

Die einzige Chance zu überleben war, ab und zu herauszukommen und zu betteln. „Es gab verschiedene Aufseher“, berichtete Rita. „Wenn Ruschilo Schicht hatte, hat er uns Kinder rausgelassen. Es gab andere wie Smetanski, die waren grausam und haben die Kinder zu Tode geprügelt. Es gab nur den Fluss, um Wasser zu bekommen. Der Bug war die Grenze zur deutschen Zone. Am anderen Ufer haben die Soldaten Mundharmonika gespielt. Wenn es jemand aus dem Lager geschafft hat, in die Nähe des Flusses zu kommen, haben sie Zielschießen gemacht.“

Unsägliches Grauen vor Kinderaugen

Während die einen starben, wurden immer neue Gruppen von Juden in das Lager deportiert; aus der Bukowina, aus Rumänien, aus Bessarabien. Sie waren etwas wohlhabender und konnten noch eine Weile durch Tauschhandel überleben. Rita und Moisej hatten bald keine Familie mehr. Sie hatten nichts, was sie am Zaun bei der Dorfbevölkerung tauschen konnten. Ihre Bäuche waren vor Hunger aufgedunsen. Ab und zu steckte ihnen jemand etwas durch den Zaun zu – eine rote Rübe, ein paar Kartoffelschalen, einen Kartoffelsack, um sich zuzudecken.

Sie sahen, wie kleine Kinder an den Beinen gepackt und gegen einen Baum geschlagen wurden; wie ihre Mütter daneben zusammenbrachen und die Kinderleichen lange liegenblieben. Sie erlebten, wie Häftlinge, die versucht hatten zu fliehen, am Eingangstor von den Wächtern totgeprügelt wurden. Sie waren dabei, wenn alle am Brunnen Aufstellung nehmen mussten: Alte und Kinder auf die eine Seite, junge Arbeitskräfte auf die andere. Letztere kamen nie wieder – wenn eine Gruppe einen Abschnitt der neuen Straße nach Woronowiza fertiggestellt hatte, wurden sie erschossen und unter dem Straßenbelag verscharrt.

Ein größeres Gebäude gab es, bis heute unvorstellbarerweise als Sanatorium genutzt. Dort suchten die Häftlinge Zuflucht. „Jeden Morgen sind die Aufseher durch die Räume gegangen und haben die Leichen hinausgetragen“, erinnert sich auch Moisej. „Im Winter sind wir fast erfroren, im Sommer verdurstet. Man konnte nirgends hin. Selbst wenn jemand entkam, ist er meistens ausgeliefert worden. Die Deutschen waren überall.“

Der Tag der Befreiung

Zehntausende Ermordete liegen in den Massengräbern im nahegelegenen Wald. Genaue Zahlen hat niemand. Nicht einmal Fotos vom Lager gibt es. Am Tag der Befreiung, am 14. März 1944, waren noch 330 Juden am Leben, zumeist Kinder. „Die Nazis sind so schnell abgerückt, dass sie nicht mehr dazu kamen, uns alle umzubringen“, so Rita. „Wir hatten uns alle in der Leichenhalle verbarrikadiert“, fuhr Rita fort. „Als es geklopft hat, hatten wir erst Angst aufzumachen. Aber dann haben wir gehört: ‚Wir sind es, die Rote Armee! Wir sind gekommen, euch zu befreien!‘ Da haben wir vorsichtig die Tür geöffnet. Wir konnten unser Glück nicht fassen. Wir haben die Soldaten und die Pferde abgeküsst. Einige sind bewusstlos geworden.“

Zu Fuß, wie sie gekommen war, lief die achtjährige Rita damals wieder zurück nach Tultschin. Doch es gab für sie kein Zuhause und keine Familie mehr. Verzweifelt beschloss sie, sich im Fluss zu ertränken. Eine ukrainische Frau rettete sie. Rita wurde später Hebamme und half tausenden ukrainischen Babys ins Leben.

Ritas Versprechen

Für jede unserer Gruppen, die zu einer Begegnungsreise in die Ukraine kamen, erzählte Rita ihre Geschichte. Wir standen mit ihr an der Garage in Tultschin, wo sie unsere Lebensmittelpakete für ihre kleine Gemeinde lagerte; dann im Schlamm am Pferdestall in Torkiw, im eisigen Wind an den Toren des Todeslagers, auf den mit Glockenblumen überwachsenen Massengräbern auf der Lichtung im Wald, wo Rita immer auf Jiddisch mit ihrer Mutter sprach und weinte.

„Es ist schwer für mich, darüber zu sprechen; ich erlebe alles noch einmal und schlafe nächtelang nicht“, sagte uns Rita einmal. „Aber ich habe damals ein Versprechen abgegeben, dort im Todeslager, wo ich jeden Tag gedacht habe, es ist mein letzter. ‚Allmächtiger‘, habe ich gesagt, ‚wenn ich überlebe, werde ich allen erzählen, was ich hier gesehen habe.‘“

Gruppe Menschen vor einem Mahnmal
Eine CSI-Reisegruppe mit Rita (r.) am Mahnmal für die im Lager Petschora ermordeten Juden.

Rita hielt ihr Versprechen, bis an ihr Lebensende. Sie tat es für eine ganze Generation – für ihre Freundin Raja und für Moisej, denen die Worte über all das Grauenvolle, das sie erlebt hatten, nicht über die Lippen kamen. Wenige Stunden, bevor sie heimging zu ihrem Gott, an den sie sich ihr ganzes Leben lang hielt, konnte unser Team noch einmal bei ihr sein; ihr danken für alles, was sie uns anvertraut hatte.

Rita hat ihren schweren Auftrag erfüllt. Raja starb wenige Wochen später. Moisej ist noch da. Wann immer wir in der Nähe sind, besuchen wir ihn. Sitzen ein wenig mit ihm und seiner Frau auf der Gartenbank und trinken ein Gläschen, L’chaim, „Auf das Leben!“ Am 9. Mai werden wir ihm gratulieren, dass vor 80 Jahren der Krieg vorbei war und Juden wieder leben durften.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 140. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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