Und plötzlich zu siebt: Ein neues Leben nach dem 7. Oktober

Und plötzlich zu siebt: Ein neues Leben nach dem 7. Oktober

zerstörte Häuser in Kfar Aza
Teile des Kibbutz Kfar Aza wurden durch den Hamas-Überfall und die darauffolgenden Kämpfe komplett zerstört. Foto: Dana Nowak

Tom Alon hat mit seiner Familie den 7. Oktober 2023 überlebt. Über Nacht sind zu seinen drei kleinen Kindern zwei hinzugekommen – Zwillinge, die am Tag des Hamas-Überfalls auf Israel neun Monate alt waren und zu Waisen wurden.

Am 7. Oktober waren Tom und seine Familie zu Hause in Kfar Aza, einem kleinen Kibbutz an der Grenze zum Gazastreifen. Tom liebt diesen Ort. Schon seine Eltern haben in der Gegend gelebt. Wie die meisten Israelis, die sich im Grenzgebiet zum Gazastreifen niedergelassen haben, glaubten sie an Frieden mit den palästinensischen Nachbarn. Doch das Kfar Aza, das sie alle kannten, gibt es nicht mehr. Seit Februar wohnt Tom mit seiner Familie im Kibbutz Schfaim, nördlich der Mittelmeerstadt Herzlia.

Idyllisch sieht es hier aus. Schattenspendende Bäume säumen die Wege, Blumen blühen, Vögel zwitschern und gelegentlich bellt ein Hund. Ansonsten ist es ruhig an diesem Freitagnachmittag im Juli, kurz vor Schabbatbeginn. Ich habe gerade das große Metalltor passiert, das die von einem Sicherheitszaun umgebene kleine Ortschaft schützen soll. Nun halte ich Ausschau nach Tom. Vor mehreren kleinen aneinandergereihten Flachdachgebäuden entdecke ich ihn. Er winkt und hat einen kleinen Jungen auf dem Arm, der sich fest an ihn klammert. Wir gehen in eines der Häuser. Im Wohnbereich kümmern sich zwei Frauen um weitere Kinder. Toms Frau Ofir nimmt ihm den Jungen ab und Tom macht Kaffee. Dann setzen wir uns auf die schattige Terrasse.

Stundenlang allein: Babies überleben

„Mit fünf kleinen Kindern ist bei uns rund um die Uhr Party im Haus“, sagt Tom lachend. Dann wird er ernst und erzählt vom 7. Oktober. Wie durch ein Wunder haben Tom, Ofir und ihre drei Kinder überlebt. Damals waren die Jungen ein Jahr, fünf und sieben Jahre alt. Die Familie hatte sich im Schutzraum des Hauses verbarrikadiert. Den Terroristen war es nicht gelungen einzudringen. „Unser Nachbar wurde getötet. Später haben wir erfahren, dass Ofirs Schwester Hadar und ihr Mann ermordet wurden“, erzählt Tom.

Die Geschichte von Hadar und Itay Berdichevsky ging später um die Welt. Das Ehepaar hatte gegen die Terroristen gekämpft, die in ihr Haus eingedrungen waren. Dabei wurde es getötet. Mehr als zwölf Stunden später retteten Soldaten zwei Babys aus dem Haus. Zwillinge, neun Monate alt – ohne Nahrung oder Flüssigkeit hatten sie überlebt. „Unser Jüngster ist nur ein paar Monate älter als die Zwillinge. Wir haben nicht gezögert, die Kinder aufzunehmen. Wir sind jetzt eine neue Familie, haben geliebte Menschen und unser Zuhause verloren. Aber wir versuchen, so gut es geht mit dieser neuen Wirklichkeit klarzukommen“, sagt Tom.

Blick von Kfar Aza nach Gaza
Sein Sicherheitszaun hatte Kfar Aza nicht vor den Hamas-Terroristen schützen können. Mehr als 60 der rund 760 Einwohner wurden am 7.10.2023. ermordet. Im Hintergrund die Stadt Gaza. Foto: Dana Nowak

Bevor sie in das Haus in Schfaim kamen, mussten sie zwei Mal umziehen. Die kleinen Wohneinheiten in dem Kibbutz wurden von der Regierung innerhalb weniger Monate für evakuierte Israelis errichtet. Sie sollen nur eine temporäre Lösung sein. Das Haus ist klein für eine siebenköpfige Familie. „Aber es ist ein guter Ort“, sagt Tom. Die Zwillinge seien ein Teil der Familie geworden. „Unsere drei Kinder haben die neue Situation sehr schnell angenommen. Als wir ihnen erklärt haben, dass Guy und Ron jetzt zu uns gehörten, hat unser Ältester gefragt, ob sie nun seine Brüder seien. Sie waren ja Cousins. Am nächsten Tag hat ihn jemand gefragt, wie viele Geschwister er hat und er sagte, wir sind fünf Brüder.“

Nun gelte es, Stabilität zu schaffen, sagt Tom. „Die Kinder sind der Antrieb weiterzumachen. Wir arbeiten daran, mit dem Trauma, mit der Trauer umzugehen. Wir haben keine andere Wahl, als das neue Leben anzunehmen. Wenn man das nicht macht, wird es für die Kinder noch schwerer. Sie brauchen jetzt Stabilität, etwas, auf das sie sich verlassen können. Am Anfang haben wir zu siebt in einem kleinen Raum gewohnt, wir haben Kinderbetten und Spielzeug bekommen. Die Kinder waren durcheinander, wer schläft wo, wem gehört was. Wir haben gesehen, wie wichtig es ist, für die Kinder etwas Stabiles zu schaffen. Eine sichere und geordnete Umgebung.“

In ihrem aktuellen Zuhause kann die Familie ein Jahr lang bleiben. Wie es danach weitergeht, weiß Tom noch nicht. „In Kfar Aza wollten wir ein neues Haus bauen“, erzählt er. „Die Pläne vom Architekten lagen vor, das Traumhaus war geplant und alles war für den Bau vorbereitet, aber das ist nun vorbei“, sagt Tom und lächelt traurig. Dann erkundigt er sich nach der Arbeit von Christen an der Seite Israels (CSI) und möchte mehr darüber wissen. Es bewegt ihn, als er von den verschiedenen Hilfsprojekten von CSI hört und davon, dass es in Deutschland so viele Unterstützer an der Seite Israels gibt.

Tom und ein Soldat
Tom Alon vor seinem beschädigten Haus in Kfar Aza mit einem der Soldaten, die ihn und seine Familie am 7. Oktober gerettet haben. Foto: privat

Deutsche Wurzeln

„Für mich ist die Beziehung zu Deutschland etwas Besonderes. Weltweit gibt es so viel Hass und negative Ansichten über Israel und die Juden. In diesen dunklen Stunden ist Deutschland wohl das Land, aus dem wir am meisten Unterstützung erfahren – von der Regierung, der Bevölkerung, von Fußballclubs und von Organisationen wie eurer, das ist wunderbar, auch sehr überraschend und so wichtig. Das Bild von Deutschland in Israel scheint im Moment das Beste zu sein, das es je gab“, sagt Tom, der deutsche Wurzeln hat.

Blumen nach Rafah

Seine Großeltern väterlicherseits stammten aus Deutschland. Sein Opa wurde in Köln geboren, seine Oma nahe der polnischen Grenze. 1935 verließen sie das Land. Sie hatten die drohende Lebensgefahr rechtzeitig erkannt. Der Rest der Familie ist geblieben. Und wurde ermordet. Sein Vater, so erzählt Tom, habe sich an der Grenze zum Gazastreifen niedergelassen und einen Landwirtschaftsbetrieb errichtet. „Er hat Blumen gezüchtet und sie in die Niederlande exportiert. Von dort gelangten sie nach ganz Europa.“

Tom erinnert sich an die großen Friedenshoffnungen in den 1990er Jahren: „Wir wollten einfach nur in Frieden leben und diesen Teil Israels zum Blühen bringen. Und wir wollten, dass es auch den Palästinensern gut geht. Die Arbeiter meines Vaters kamen aus Rafah im Gazastreifen. Irgendwann hat mein Vater gesagt: ,Warum die Blumen erst eine Stunde zum Ben-Gurion-Flughafen nach Tel Aviv fahren? Zum Flughafen in Rafah sind es fünf Minuten. Ich verschicke meine Blumen von dort aus.‘ Was für eine Utopie. Wir haben von Frieden geträumt. Und was haben wir bekommen?“

ein Orangenbaum in Kfar aza
Die Bewohner Kfar Azas hatten ihren Kibbutz zum Blühen gebracht. Foto: Dana Nowak

Selbst als Südisrael fast 20 Jahre vom Hamas-beherrschten Gazastreifen aus immer wieder mit Raketen beschossen wurde, glaubten die meisten Israelis in der Grenzregion an Frieden. Doch dieser Glaube wurde erschüttert oder ganz zerstört, als Tausende palästinensische Terroristen am 7. Oktober in israelischen Wohnzimmern standen und den größten Mord an Juden seit dem Holocaust begingen. Nach den Terroristen kamen die Zivilisten aus Gaza, um zu vergewaltigen, zu rauben und zu plündern.

„Vielleicht haben wir alle noch nicht genug gelitten“

„Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Auch die Menschen im Gazastreifen tun mir leid, sie leiden. Aber was sollen wir tun? Wenn die Armee die Terroristen nicht gestoppt hätte, wären sie weitergezogen und hätten alle Juden auf ihrem Weg abgeschlachtet“, sagt Tom. Nachdenklich fügt er hinzu: „Vielleicht haben wir alle noch nicht genug gelitten. Vielleicht muss die Situation im Nahen Osten erst noch richtig eskalieren, damit es dann Frieden geben kann. Wie in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.“

Ofir kommt und setzt Tom einen der Zwillinge auf den Schoß. Der kleine Junge schlingt die Arme um seinen neuen Papa und schmiegt sein Gesicht an ihn. Und Tom hält ihn fest, gibt ihm Geborgenheit. Stabilität. Weitermachen. Schritt für Schritt.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 138. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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