Ende November ist eine Mitarbeitergruppe von Christen an der Seite Israels (CSI) in Israel unterwegs: um da zu sein, zuzuhören und so gut es geht Trost zu spenden – kurz: um einfach an der Seite Israels zu stehen. Es ist und bleibt bitter nötig.
Von Anemone Rüger
Auch wenn mittlerweile im Rahmen eines Abkommens am 19. Januar drei junge Frauen aus der Geiselhaft entlassen wurden und weitere Freilassungen angekündigt sind – für die allermeisten Angehörigen geht das Bangen um ihre Lieben weiter. Wie geht es ihnen? Leben sie überhaupt noch? Im Forum für die Angehörigen der Geiseln in Tel Aviv sind all diese Fragen präsent. Hier werden wir erwartet.
„Es ist so unglaublich wertvoll für uns, dass ihr da seid, gerade jetzt!“ sagt Merav, die uns in Empfang nimmt. Ja, den Satz haben wir während unseres Besuchs schon häufig gehört. Aber jeder sagt ihn nochmal anders und wieder neu, aus tiefstem Herzen, mit einigem Kraftaufwand, mit brennenden Augen. Nicht nur das Trauma des 7. Oktober verursacht den Betroffenen unerträgliche Schmerzen, sondern auch dass es die Hamas geschafft hat, die Opfer in der internationalen Öffentlichkeit als die eigentlichen Täter zu präsentieren.
Merav stellt uns Ety und Brith vor: Tante und Cousine von Itay Chen, aus dem Kibbutz Nachal Oz. „Itay war bei der Armee. Er war auch ein großartiger Basketball-Spieler“, erzählt Ety. „Er hatte am 7. Oktober Dienst bei einer Panzer-Einheit nahe am Gazastreifen. Sie haben die Horden von Terroristen kommen sehen und haben sie ins Visier genommen. Irgendwann ging ihnen die Munition aus.“

Hilfloses Warten
Vier Tage später erst kam die israelische Verteidigungsarmee (IDF) dazu, den Panzer zu öffnen. Einen Soldaten fanden sie tot darin, die anderen drei waren verschwunden. „Als mein Bruder angerufen hat, dass Itay entführt wurde, waren wir kurioserweise erstmal erleichtert“, so Ety. „Aber ein halbes Jahr später kam das gefürchtete Klopfen an der Tür. Ein Vertreter der Armee überbrachte uns die Nachricht, dass Itay mit 99-prozentiger Sicherheit nicht mehr lebt.“
Die Familie hängt immer noch in der Luft, denn Itays Leiche wird bislang von der Hamas gefangen gehalten – wohl wissend, wie wichtig es für Juden ist, einen Toten würdevoll zu bestatten. „Man braucht irgendetwas, um eine Beerdigung zu halten – wenigstens ein T-Shirt, das der Verstorbene am Leib hatte. Wir haben nichts. Ich habe vergessen, wie meine eigene Küche aussieht. Das Familienforum hier ist unser zweites Zuhause geworden“, erzählt Ety. „Itay war so jemand, der um sich herum immer gute Laune verbreitet hat“, sagt die 15-jährige Brith. „Ich bin Einzelkind; Itay war wie ein Bruder für mich.“

Eine Weile kann man sich als Zuhörer zusammenreißen, dann erwischen einen die Emotionen plötzlich. Ich habe drei ganz unterschiedliche handgestrickte Tücher mit, für den Fall der Fälle. Sofort sehe ich, was auf welche Schultern gehört – das orange für Ety, das weiße für Brith und das lilafarbene für Merav, die ganz Schwarz trägt. Gottes Vaterliebe sickert durch das Strickmuster durch.

Ein berührender Blick
Wir sind schon in der Lobby auf dem Weg nach draußen, da werden wir gebeten, einen Moment zu warten. Jemand wolle uns noch sehen. Im nächsten Moment steht ein älterer Herr vor uns und stellt sich vor als Dani, Vater von Omri. Von Omri aus dem Nachal-Oz-Zelt. Sein Kampf um seinen Sohn hat ihn bis zum Papst geführt, leider ohne sichtbaren Erfolg. Trotzdem hat diese Begegnung Dani viel bedeutet. „Ich habe in seinen Augen meinen Vater gesehen“, sagt Dani. „Es war ein heiliger Moment. Wir haben einen Gott, das glaube ich.“

Danis Familie kam 1951 aus dem Irak nach Israel. Den Überfall der Hamas am 7. Oktober erlebte Omris Familie zusammen in Nachal Oz. „Dann wurden sie getrennt: Omri haben die Terroristen mitgenommen, seine Frau und die beiden kleinen Töchter haben sie dagelassen. Sie haben alles mit angesehen.“
Wir überreichen Dani unsere Karte: ISRAEL, DU BIST NICHT ALLEIN! Alle haben unterschrieben. Alle umarmen Dani zum Abschied. „Wie sich ein Vater über seine Kinder erbarmt“ – diese Worte aus Psalm 103 kommen mir plötzlich in den Sinn, mit einem abgewandelten Wortlaut: „Wie ein Vater um seine Kinder kämpft“ … und für sie bis ans Ende der Welt geht. Danke, Dani, dass du uns das Herz des Vaters gezeigt hast!