Vom Ghetto Minsk bis in die Händelstadt Halle: Die lange Odyssee eines jüdischen Jungen

Vom Ghetto Minsk bis in die Händelstadt Halle: Die lange Odyssee eines jüdischen Jungen

Viktor mit Tatjana und Anemone
Viktor und Tatjana sind Ehrengäste bei der Gedenkveranstaltung zum Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale). Foto: privat

86 Jahre nachdem in Deutschland jüdische Bücher verbrannt wurden, durfte Christen an der Seite Israels (CSI) daran mitwirken, dass wieder jüdische heilige Schriften geschrieben werden: Gemeinsam mit unserem israelischen Partner Keren Hayesod haben wir der jüdischen Gemeinde in Halle (Saale) eine neue Tora-Rolle übergeben, die dank zahlreicher Spenden hergestellt werden konnte. Es war ein Zeichen gegen Antisemitismus und für Solidarität und Freundschaft mit der jüdischen Gemeinschaft. Am Rande der Übergabe gab es eine bewegende Begegnung mit dem Holocaust-Überlebenden Viktor. Unsere Mitarbeiterin Anemone Rüger hat seine Geschichte aufgeschrieben.

Von Anemone Rüger

Es ist der 9. Oktober 2024 in Halle, der fünfte Jahrestag des versuchten Anschlags auf die Synagoge. Der erste Teil der Gedenkveranstaltung ist vorbei. Es ist Mittagspause. Ich schaue mir noch einmal das Programm für die feierliche Übergabe der neuen Tora-Rolle am Nachmittag an. Unter denjenigen, die zusammen mit dem israelischen Schreiber die letzten Buchstaben in den heiligen Text einfügen dürfen, wird auch ein gewisser Viktor Tsessarskiy angekündigt, 90 Jahre alt.

90 Jahre – das klingt nach einer Geschichte, denke ich mir, und mache mich auf die Suche nach Viktor. Tatsächlich sitzt er, gut eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung, mit seiner Frau Tatjana bereits in einer Ecke der Synagoge und wartet geduldig. Viktor hat eine Geschichte – und nicht nur irgendeine. Unser Gespräch, das bis zum Ende der Pause dauert, endet mit einer emotionalen Umarmung und ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

„Papa war Geiger in der Minsker Philharmonie; Mama war Schauspielerin am Jiddischen Theater“, so beginnt Viktors Lebensgeschichte in der weißrussischen Hauptstadt, wo in der Zwischenkriegszeit schätzungsweise 80.000 Juden lebten. Natan Salomonowitsch, benannt nach Großvater Salomon, war noch in Österreich geboren worden. Als er fünf war, übersiedelten die Eltern mit ihm vom Kaiserreich ins Zarenreich, nach Odessa, wo Natan später Viktors Mutter Chaja kennenlernte. Im weißrussischen Minsk, wo sich die junge Familie niederließ, spielte Vater Natan die erste Geige im Orchester. Oft dirigierte er auch, wenn es auf Tournee ging.

„Ich war gerade sieben geworden, als der Krieg anfing“, erzählt Viktor. „Das Orchester ist sofort in den Ural evakuiert worden. Aber Papa hat keinen Grund zur Aufregung gesehen. ‚Hitler schafft es niemals bis hierher!‘, war seine Überzeugung. So ist er mit einem weiteren Kollegen dageblieben.“ Erst als bereits die Bomben fielen, versuchte auch Viktors Familie Hals über Kopf zu fliehen. „Wir haben uns zu Fuß in den endlos langen Strom von Flüchtlingen auf der Straße nach Mogilow eingereiht – Papa, Mama mit meinem Schwesterlein Bellotschka, die erst neun Monate war, und ich an Mamas Hand“, so Viktor. „Wir hatten kaum etwas dabei. Papa hat unseren einzigen Koffer getragen.“

Viktors Familie
Viktor (vorne links) mit seiner Mutter Chaja (links) und seinem Vater (hinten Mitte stehend) sowie den Geschwistern seiner Mutter mit Familien. Foto: privat

Doch die flüchtenden Familien kamen nicht weit. Nach wenigen Tagen wurden sie von der vorrückenden Wehrmacht angehalten. Es wurde angeordnet, dass sich alle Männer zu registrieren haben. „Und Papa ist als obrigkeitshöriger Österreicher hingegangen“, bemerkt Viktor mit einem bitteren Lächeln. „Es stand für ihn außer Frage, einer behördlichen Anordnung Folge zu leisten. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Vermutlich haben sie die Männer alle sofort erschossen. Aber das wussten wir anfangs nicht. Also haben wir nach ihm gesucht. In der Nähe gab es ein Kriegsgefangenenlager, Trostinez. Ein furchtbarer Ort. Wir dachten, dass er vielleicht dort sein könnte. Irgendwo hat Mama etwas Buchweizen organisiert und ihm einen Brei gekocht. Am Tor haben sie uns alles abgenommen. Und Papa gefunden haben wir auch nicht.“

Ins Ghetto

Schweren Herzens trat die Familie den Rückweg nach Minsk an. „Zu Fuß natürlich“, fügt Viktor hinzu. „Im Juli gab es dann überall Aushänge: Alle Juden haben ins Ghetto Minsk überzusiedeln. So auch wir: Mama, mein Schwesterlein und ich; dazu auch Mamas zwei Schwestern mit ihren Kindern. Nebenan gab es ein Sonderghetto, das hieß das ‚Hamburger Ghetto‘. Dahin kamen die Juden aus Deutschland und Österreich. Die Erwachsenen mussten schwere Zwangsarbeit verrichten. Es gab nichts zu essen, nichts zum Anziehen. Und langsam wurde es kalt. Wir haben alles, was wir noch hatten, gegen etwas Essbares eingetauscht; immer im Müll nach etwas gesucht …“

Schnell wurden die Kinder in den Ghettos die Ernährer der Familie – sie konnten noch am ehesten unbemerkt unter dem Stacheldrahtzaun durchkriechen und in der Außenwelt etwas erbetteln. „So wurde ich zu Papas Kollege aus der Philharmonie geschickt“, berichtet Viktor weiter. „Er war Russe, deswegen war er nicht in Gefahr. Er hat mir ein paar Kartoffelschalen gegeben und daraus hat Mama eine Art Kartoffelpuffer gemacht.“

Jeden Morgen verließen die Häftlinge das Ghetto kolonnenweise zur Arbeit; am Abend kamen sie erschöpft zurück. So verging der Winter 1941. Der Frühling nahte bereits, als eines Tages Chajas Kolonne nicht mehr zurückkehrte. Kein einziger daraus. „Mamas Schwestern haben mich losgeschickt zu Papas Kollegen, mit einem Zettel, dass ich nicht wiederkommen soll. Und das war’s. Ich habe niemanden von ihnen wiedergesehen. Sie sind alle dort umgekommen – mein Vater, meine Mutter, meine Tanten Chasja und Etja mit ihren Kindern. Das Schicksal meiner Schwester Bella habe ich nie erfahren; sicher konnte sie ohne Mama nicht überleben.“

Ins Heim

Einige Zeit fand Viktor Zuflucht bei der russischen Musikerfamilie. Doch dann drohten die Nachbarn, seine Retter zu verraten. Viktor musste verschwinden. Gewissenhaft lernte er seinen unverfänglichen Aufsager auswendig, damit er im örtlichen Heim für unbeaufsichtigte Kinder aufgenommen wurde. Mit der deutschen Besatzungsmacht lauerte der Tod überall.

Viktor schaffte es, keinen Verdacht zu wecken. Doch ein Zuhause hatte er damit nicht. Nirgendwo gab es genug zu essen. Mit fortschreitendem Kriegsverlauf wurde jeder unzerstörte Quadratmeter gebraucht. In eins der Heime wurde ein Wehrmacht-Lazarett einquartiert. Zu Weihnachten sangen die Kinder jenen, wegen denen sie Waisen geworden waren, „Oh Tannenbaum“. Viktor lernte zusammen mit den anderen Kindern, sich durchzuschlagen, zu betteln, Geräte auf der Müllhalde zu „reparieren“ und gegen ein Stück Brot einzutauschen, hier und da auf dem Markt ein paar Piroggen zu entwenden. Zweimal wurde er todkrank.

Im Frühjahr 1944 kehrte Chajas Bruder Ajsik von der Front zurück und fand Viktor, der schon mit Tuberkulose monatelang zwischen Tod und Leben geschwebt hatte, apathisch und ausgemergelt in einem Krankenhaus. Onkel Ajsik ging heim und weinte, erfuhr Viktor später. Nun hatte Viktor wieder eine Familie. „Aber sie hatten es nicht leicht mit mir“, bekennt Viktor. „Ich bin immer wieder abgehauen. Ich war inzwischen gewohnt, auf der Straße zu leben und mich allein durchzuschlagen. Später hat mich mein Onkel Aron in Moskau aufgenommen, der andere Bruder von Mama, der auch an der Front war. Seine Familie hatte im Exil überlebt. Da hat es dann besser geklappt. Onkel Aron und Tante Nechama habe ich unendlich viel zu verdanken.“

Nach Deutschland

Viktor heiratete und arbeitete lange in einem Forschungsinstitut für Buntmetalle. Seine zwei Söhne, drei Enkel und drei Urenkel leben in Moskau. Anfang der 1990er kamen Viktor und seine Frau Tatjana als Flüchtlinge nach Deutschland. „Meine Freunde haben damals gesagt: ‚Was machst du da, Viktor?! Was willst du in diesem Land?‘ Aber ich war einfach neugierig. Ich wollte wissen, wie es sich da lebt. Und ich habe Halle von Anfang an gemocht.“

Nur ganz am Anfang gab es ein schwieriges Déjà-vu. Die Behörden hatten die Erstaufnahmestelle in Dessau mit Stacheldraht gesichert. „Und davor ein Wachposten in Uniform! Stocksteif stand er da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, genau wie damals in Minsk. Da habe ich einen Schreck bekommen. Aber dann habe ich gemerkt, dass rundherum ganz normale, nette Menschen leben. Halle hat mir auf Anhieb gefallen.“

Angekommen in Halle

Einige Wochen später. Endlich hält der Fahrstuhl im obersten Stockwerk. Viktor holt mich an der Fahrstuhltür ab. Tatjana hat gebacken: Piroschki gefüllt mit Kraut und Ei, und unendlich leckere kleine Mohnschnecken. „Ohne Margarine – alles mit Butter gebacken“, betont Tatjana. Viktors große Liebe stammt aus einer russisch-orthodoxen Priesterfamilie. Etliche von Tatjanas Verwandten bezahlten für ihren geistlichen Dienst mit ihrem Leben in einem der stalinistischen Gulags.

Viktor und Bundespräsident Steinmeier schreiben mit dem Toraschreiber den letzten Buchstaben
Ein besonderer Moment: Viktor (r.) schreibt zusammen mit Bundespräsident Steinmeier (l.) und dem Tora-Schreiber den letzten Buchstaben in die heilige Schriftrolle. Foto: Jason Terschüren

Die Studentenblumen blühen noch üppig auf dem Balkon. Wenn der Novembernebel nicht so dicht wäre, könnte man von hier über die ganze Stadt sehen. In einer elektrisch beleuchten Ecke hat Viktor seine CD-Sammlung einquartiert. Er liebt Musik. Doch das Herzstück seines Musiksalons bildet eine Schwarzweiß-Fotografie. „Das ist meine Familie“, erklärt Viktor. „Papa, Mama und ihre Geschwister mit ihren Familien. Viele sind umgekommen. Ich hatte nichts mehr nach dem Ghetto und den Kinderheimen. Aber Onkel Aron hatte noch ein Familienfoto. Das hat er mir geschenkt.“

Auch ein Fernsehbildschirm ist in Viktors Museum integriert. Es gebe eine ganze Reihe jiddischer Lieder auf YouTube, wo er mit seinem Freund Alexander Goldberg aus der jüdischen Gemeinde Halle singt, sagt Viktor. „Schau mal nach den ‚Papirosen’”, empfiehlt Tajana. Papirosen – das Ghettolied, in dem ein hungriger Waisenjunge die Passanten anfleht, ihm ein paar Zigaretten abzukaufen. „Ja, hier siehst du, wie unser Leben im Ghetto aussah“. Nur diesen einen Satz sagt Viktor, und ich traue mich kaum aufzuschauen. Ich muss mich so schon zusammennehmen. Viktor singt wie einer der ganz Großen. Wie der Kantor Estrongo Nachama, den mein Opa zu DDR-Zeiten heimlich freitagsabends versuchte, auf Rias Berlin durch das rauschende Radio hereinzubekommen.

Vor wenigen Monaten wurde Viktor 90. Und vor wenigen Wochen erhielt er seine Einbürgerungsurkunde – nach fast einem Vierteljahrhundert Lebenszeit in Halle. „Jetzt bin ich ein richtiger deutscher Staatsbürger“, sagt Viktor stolz. „Viktor“ bedeutet „der Siegreiche“. Es ist sein später Sieg über Hitler.

Mehr über das Tora-Rollenprojekt und die Übergabe der Schriftrolle an die Synagoge in Halle erfahren Sie in diesem Video auf YouTube.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 139. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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