International gilt die Zwei-Staaten-Lösung als favorisierter Ansatz zur Lösung des Nahostkonflikts. Der Nahost-Experte Mordechai Kedar warnt hingegen vor den Gefahren eines palästinensischen Staates und plädiert für eine Lösung, die auf den traditionellen Stammesstrukturen der arabischen Gesellschaft basiert. Im Gespräch mit Christen an der Seite Israels (CSI) erläutert er seinen für westliche Denkweise ungewöhnlichen Ansatz.
Mordechai Kedar, ein renommierter israelischer Nahost-Experte und ehemaliger Geheimdienstoffizier, ist in Israel und der arabischen Welt für seine kontroversen Ansichten zum israelisch-palästinensischen Konflikt bekannt. Der Professor an der israelischen Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan hat sich im Laufe seiner Karriere auf die arabische Kultur, den Islam und insbesondere den israelisch-palästinensischen Konflikt spezialisiert. Mit CSI hat Kedar über seine Ansichten zur Zwei-Staaten-Lösung, die soziokulturellen Grundlagen der arabischen Welt und die tiefgreifenden Missverständnisse des Westes gegenüber der islamischen Denkweise gesprochen.
Die Zwei-Staaten-Lösung: Eine Bedrohung für Israel
International gilt die Zwei-Staaten-Lösung als vielversprechendster Weg zur Befriedung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Kedar hingegen betrachtet diese Lösung nicht nur als unpraktikabel, sondern auch als gefährlich für die Existenz Israels. Seine Ablehnung der Zwei-Staaten-Lösung begründet er aus völkerrechtlicher und sicherheitspolitischer Perspektive.
So würde die Schaffung eines palästinensischen Staates aus Kedars Sicht gegen Artikel 80 der UN-Charta verstoßen. Dieser Artikel übernimmt frühere Entscheidungen des Völkerbundes, so auch der San-Remo-Konferenz von 1920. Dort wurde die Balfour-Erklärung von 1917 für rechtlich bindend erklärt, in welcher Großbritannien die Schaffung einer „nationalen Heimstätte“ für das jüdische Volk in Palästina unterstützte. Laut Kedar mache diese völkerrechtliche Grundlage die Zwei-Staaten-Lösung illegal, da das gesamte Gebiet westlich des Jordans vom Völkerbund als jüdische Heimstätte definiert wurde und somit keinem palästinensischen Staat zugesprochen werden könne.
Darüber hinaus betrachtet Kedar die Zwei-Staaten-Lösung als eine existenzielle Bedrohung für Israel. „Nehmen wir an, es würde ein palästinensischer Staat gegründet und dieser wäre anfangs eine Demokratie, in der freie Wahlen stattfänden“, argumentiert er. „Der Westen würde das wunderbar finden. Aber die Lage würde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr schnell ändern.“ Islamistische Gruppen könnten auf rechtmäßigem und demokratischem Weg an die Macht kommen und der Demokratie mit ihrer Machtübernahme ein Ende setzen, so seine Befürchtung. Diese Sorge ist nicht unbegründet, wenn man die Erfahrungen vieler arabischer Länder betrachtet, in denen islamistische Parteien wie die Muslimbrüder oder ihre Ableger zunächst demokratische Strukturen nutzten, um an die Macht zu gelangen, und diese dann zur Etablierung von Diktaturen oder autoritären Regimen umkrempelten.
„Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass freie Wahlen im Nahen Osten automatisch zu westlichen Demokratien führen“, betont Kedar. Islamische Parteien hätten in vielen Ländern sehr wohlklingende Namen, wie „Gerechtigkeit und Entwicklung“ in der Türkei oder „Die Auferstehung“ in Tunesien. „Sie versuchen immer den Fakt schönzufärben, dass sie islamistische Parteien sind, und stellen sich dann für die Wahlen auf, nur um danach die Macht an sich zu reißen, wie es 2006 mit der Hamas im Gazastreifen passiert ist.“ Auf diese Weise könnte sich, so Kedars Befürchtung, ein „palästinensischer Staat“ recht schnell zu einem „islamistischen Staat“ entwickeln.
Der gescheiterte Nationalstaat
Der Westen habe den Fehler gemacht, seine eigene Vorstellung von Nationalstaaten auf den Nahen Osten zu übertragen, ohne die tiefen Stammes- und Familienstrukturen der arabischen Gesellschaft zu verstehen, so Kedar. Während der Westen auf das Individuum fokussiert sei, drehe sich in der arabischen Welt alles um die Familie. Dieses „Stammesdenken” bilde den Grundpfeiler der Gesellschaft und auch der Politik. Die einzelnen Stämme und Familienclans lebten getrennt voneinander und betrachteten einander meistens als Feinde. Man heirate niemanden aus einem anderen Stamm und vermische sich nicht. Diese stammesbasierten Strukturen würden es also schwer machen, einen einheitlichen palästinensischen Staat zu bilden, da die verschiedenen Clans und Familien, die in Konkurrenz zueinander stehen, wenig Interesse an einer zentralen Autorität hätten.
Weitere Gründe für Probleme in arabischen Staaten wie Syrien, Irak, Libanon, Jemen, Libyen oder Sudan seien die unterschiedlichen Ethnien und religiösen Gruppen, die durch die Entstehung des Nationalstaats gezwungen wurden, miteinander in einem Land unter einer zentralen Autorität zu leben, so Kedar. Allein im Irak gebe es zehn Religionen und in Syrien seien es mindestens vier.
Muslime und Christen teilten sich wiederum in verschiedene Sekten und Strömungen auf. Im Sudan gebe es sogar mehr als 600 Stämme, die fast alle ihre eigene Gottheit anbeteten, was hunderte verschiedene Religionen bedeute. All diese Gruppen könnten nur durch eine staatliche Diktatur zusammengehalten werden, die wiederum immer in der Hand eines Stammes liege. Deshalb betrachteten viele den Staat prinzipiell als Feind.
Die nahöstlichen Staaten wurden künstlich von den europäischen Kolonialmächten geschaffen, ohne Rücksicht auf die tatsächlichen soziokulturellen Gegebenheiten vor Ort, kritisiert Kedar. „Der Westen glaubt, sobald man eine Regierung, einen Präsidenten, eine Armee, eine Polizei, ein Schulsystem, eine Flagge, eine Nationalhymne hat – dann werden alle eins, sitzen am Lagerfeuer und singen ‚Kumbaya‘. Das funktioniert so aber nicht. Denn Sunniten bleiben Sunniten. Araber bleiben ihrer arabischen Tradition treu und Kurden ihrer kurdischen. Juden und Christen vermischen sich nicht miteinander. Und Sippen bleiben Sippen. Der moderne Staat hat es nicht geschafft, traditionelles Stammesdenken zu ersetzen.“
Doch es gebe Ausnahmen, wo das Nationalstaatensystem funktioniert hat, räumt Kedar ein. Was Staaten wie Kuweit, Katar, die Arabischen Emirate, den Oman und Saudi-Arabien eine, sei die Tatsache, dass jeder Staat auf einem Stamm basiere. „In Kuwait gehört der Staat der Familie al-Sabah, in Katar der Familie al-Thani und in Saudi-Arabien der Familie al-Saud“, erklärt Kedar. Das bringe mehr Stabilität als nur Geld in Form von Ölquellen zu haben, da sich eine Familie nicht untereinander bekämpfe. Wie Recht Kedar hat, lässt sich am Beispiel des gescheiterten Irak oder Libyen erkennen – beides Länder mit reichlichem Ölvorkommen.
Eine Alternative, basierend auf Stammesstrukturen
Nach Vorbild der erfolgreichen Arabischen Emirate sollten laut Kedars Plan auch Städte wie Hebron, Nablus und Ramallah jeweils von lokalen Familienclans regiert werden und auf diese Weise als unabhängige Stadtstaaten fungieren. Diese Stadtstaaten könnten sich dann eigenständig entwickeln, während Israel weiterhin die Kontrolle über ländliche Gebiete behielte. Diese Struktur passe viel besser zur sozialen Realität in der Region, sagt Kedar. Auch, weil die Menschen oft stark an ihre Heimatstädte gebunden seien und es in der arabischen Gesellschaft unüblich sei, über längere Distanzen hinweg zu heiraten oder zu migrieren.
Ein solcher Ansatz würde auch die Bildung eines islamistischen Staates verhindern, da die Macht auf viele kleine, lokale Einheiten verteilt wäre, die es extremistischen Gruppen erschweren würden, die Kontrolle zu übernehmen.
Auch für den Gazastreifen hat Kedar eine Lösung. „Bis zum Krieg habe ich Gaza als einen Staat unter der Führung der Hamas anerkannt“, gibt er zu. „Seit der Krieg angefangen hat, bin ich der Meinung, dass die Hamas eliminiert werden sollte.“ Die Ägypter haben den Gazastreifen während ihrer Besatzungszeit in fünf Distrikte unterteilt: Beth Lahiye, Beth Hanun, Deir al-Balah, Chan Yunis, Rafah. „Sobald die Hamas ihre Macht verliert, müssen die ‚Familienoberhäupter’ eines jeden Stammes das Regiment für ihren Distrikt wieder übernehmen und dann würde Frieden herrschen.“
Damit wären es insgesamt also nicht mehr nur acht, sondern sogar zwölf palästinensische Emirate: Der Gazastreifen mit seinen fünf Distrikten, Ramallah, Jericho, das arabische Hebron, Nablus, Kalkiliya, Tulkarem und Dschenin. Dies sei die einzige Lösung, die zur arabischen Gesellschaft passe, findet Kedar. „Die meisten israelischen Politiker kommen aber nicht auf diese Idee, weil sie westlich denken.“
Islamische Perspektive auf Israel
Völlig unterschätzt werde laut Kedar im Westen die islamische Lehre, dass Land, das einmal von Muslimen regiert wurde, niemals in die Hände einer anderen Religion fallen darf. Die Idee, dass der jüdische Staat in einem Gebiet existiert, das einst unter muslimischer Herrschaft stand, sei also aus dieser Sicht inakzeptabel und erkläre die tiefe Feindseligkeit vieler islamistischer Gruppen gegenüber dem Staat Israel. Niemand habe nach dieser Lehre das Recht, dieses ehemals muslimisch regierte Land dem Islam wegzunehmen, auch nicht der Völkerbund.
Im Islam reiche der Besitzanspruch über das Land hinaus, erklärt Kedar weiter. Dieses Denken teilten die Hamas-Schlächter des 7. Oktobers 2023: Alle „Ungläubigen“, die auf ihrem „islamischen Land“ leben, betrachteten sie als ihr Eigentum: Mädchen, Frauen, den Besitz der Israelis sowie das Gebiet selbst. Da diese Frauen ihrer Auffassung nach „ihnen gehörten“, rechtfertige dies deren Missbrauch, einschließlich Vergewaltigung und Geiselnahme. Obwohl das nicht den islamischen Werten entspreche, sei dieses Vorgehen Gang und gebe im stammestypischen Verhalten.
Denn im Nahen und Mittleren Osten müsse man stark sein, erklärt Kedar. Wer in dieser wasserarmen Gegend eine Quelle findet, habe sie vor allem früher aufs härteste verteidigen müssen. Möchte sich ein kleiner Stamm gegen größere Stämme durchsetzen, müsse er sehr brutal sein: Gegner müssten auf schlimmste Weise umgebracht und ihre Körperteile abgeschlagen werden, um vor anderen Stämmen die eigene Macht und Boshaftigkeit zu demonstrieren. Genau das habe die Hamas getan.
Islam hat Ersatztheologie weiterentwickelt
Außerdem stelle Israel auch eine spirituelle Bedrohung für den Islam dar. „Der Islam hat im Grunde genommen die christliche Ersatztheologie weiterentwickelt“, erläutert Kedar. „Die Christen haben die Juden ‚abgeschrieben’ und sich als neues auserwähltes Volk gesehen. Dann haben die Muslime beide Gruppen abgelöst und sehen sich als die letzte und vollendete Religion. In ihrer Geschichtsschreibung sind die jüdischen Erzväter Muslime und David und Salomo waren muslimische Könige. Das geht so weit, dass Muslime glauben, Salomo habe auf dem Tempelberg eine Moschee erbaut. Wenn das Judentum wieder aufersteht und der jüdische Staat erfolgreich ist, stellt das die islamische Vorstellung von der Vorherrschaft des Islam infrage.“ Denn der ganze Existenzgrund des Islam sei es letztlich, das Judentum zu ersetzen.
All dies sind laut Mordechai Kedar Gründe dafür, warum radikal-islamische Gruppen wie die Hamas oder der Islamische Dschihad Israel so vehement bekämpfen. Kedar ist überzeugt: Der Westen müsse radikal umdenken, wolle er nicht in Zukunft vor noch größeren Problemen stehen.
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 139. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.