Wiedersehen in Tschernigow – Besuch bei Holocaust-Überlebenden im Norden der Ukraine

Wiedersehen in Tschernigow – Besuch bei Holocaust-Überlebenden im Norden der Ukraine

Zerstörte Häuser
Viele Gebäude in Tschernigow sind besonders in den ersten Kriegswochen von russischen Raketen getroffen worden. Alle Fotos: CSI

Mit dem Kriegsverlauf ändert sich auch die Geografie der Orte, die wir mit unserem Team von Christen an der Seite Israels (CSI) in der Ukraine besuchen können. Jeden Tag fallen Menschen den russischen Raketen zum Opfer. Immer wieder neu muss abgewogen werden, welche Fahrten zu verantworten sind und wie wir gleichzeitig die Zeit nutzen, die wir haben. Denn die materielle Not wächst, die Einsamkeit auf dem Land ist herzzerreißend und die Hoffnung, die wir mit unseren Besuchen bringen können, unbezahlbar.

Von Anemone Rüger

Die intensive Sonne strahlt durch das dichte Blätterwerk der Bäume auf unserem Weg durch die nördliche Ukraine. Hin und wieder eine alte, bunt beschriftete Bushaltestelle aus Beton im Sowjet-Dekor. Eine kleine Umleitung auf eine Ausweichstraße. Erst nachdem wir vorbeigefahren sind, realisiere ich, dass die Straße einen Raketen-Treffer abbekommen hat.

Am liebsten wäre ich seit langem wieder einmal nach Sumy gefahren. Nur einmal war das bisher möglich. Das war noch vor dem Krieg. Seitdem ist die nahe der russischen Grenze gelegene Stadt praktisch nicht zugänglich. Im Frühjahr, als viele Gläubige gerade zum Ostergottesdienst auf den Beinen waren, trafen russische Raketen das Stadtzentrum und löschten Dutzende Menschenleben aus. Die Gemeindeleiterin weinte am Telefon, als sie mir von denen erzählte, die sie selbst kannte.

Ich bin so dankbar für unser Team in der Ukraine, für die Treue und den Mut eines jeden unserer Mitarbeiter, dort zu sein, wo sie gebraucht werden – und gleichzeitig für unser gemeinsames Abwägen, was sinnvoll und möglich ist. Und so entscheiden wir, dass wir für Sumy auf bessere Zeiten warten müssen. Aber ein Besuch im etwas westlicher gelegeneren Tschernigow ist machbar. Auch da bin ich seit mehr als drei Jahren nicht gewesen.

Hübsche Holzhäuschen und viel Einsamkeit

Je höher man in den Norden kommt, desto malerischer werden die Ortschaften mit ihren traditionellen Schnitzereien an den holzverkleideten Hütten. Wir machen Halt in Priluki, Neschin, Koselez. Überall haben wir Adressen von Holocaust-Überlebenden, die hier auf dem Land noch einsamer sind – und noch glücklicher über einen Besuch.

Stanislaw kommt eilig zu seinem Gartentor gehumpelt und bittet uns in sein Häuschen. Außer uns ist niemand da. Es ist still, zu still hier. Seine Frau, seine große Liebe, fehlt ihm. „Ich habe sie im Bus kennengelernt, in Odessa, wo ich studiert habe“, erinnert sich Stanislaw. „Sie war die Schaffnerin. Ich hatte mich aus Versehen auf ihren Platz gesetzt. Daraus ist eine lebenslange Liebe geworden.“

Diese Liebe holte ihn ins Leben zurück. So viel hatte er schon verloren. „Papa war den ganzen Krieg an der Front“, berichtet Stanislaw. „Er war im Waisenhaus aufgewachsen: Seinen Vater hatten die Stalinisten eines Tages abgeholt, seine Mutter war früh gestorben. Seine Schwester wurde hochschwanger von den Deutschen erschossen.“

Zwei Kriege und ein bisschen Trost

Die Mutter tauchte mit Stanislaw und seinem kleinen Bruder unter. „Mama hatte einen Bekannten bei der Polizei, der hat sie immer informiert, wenn eine Razzia war. Dann mussten wir in den Keller und ganz still sein. Ich erinnere mich an die Bombardierungen und dass alles brannte.“ Einmal wurden sie von drei deutschen Soldaten überrascht. „‚Kinder‘, haben sie gerufen. Wir sind sehr erschrocken“, erinnert sich Stanislaw. „‚Habt keine Angst‘, hat der eine Soldat gesagt. ‚Ich habe auch drei Kinder. Ich wollte nicht an die Front, aber ich musste.‘ Und dann hat er mir Kekse gegeben.“

Stanislaws Vater Isaj hatte eigentlich Ende April Geburtstag. Doch das Feiern hob er sich immer für den 9. Mai auf, den Tag der Befreiung. Isaj – das ist Jesaja auf Russisch. Wie das Kärtchen, das ich Stanislaw mitgebracht habe: „Fürchte dich nicht … Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.“ Vor zwei Jahren starb Stanislaws älterer Sohn. Er kommt nicht darüber hinweg und kämpft mit den Tränen. Der andere Sohn wohnt in Russland und ist für ihn damit aufgrund des Krieges unerreichbar.

Frau überreicht altem Mann Tüte mit Geschenken
Stanislaw hat den Holocaust im Versteck überlebt. Nun ist er ganz allein übriggeblieben. Der Besuch unseres CSI-Teams bedeutet ihm unendlich viel.

„Spar dir die Blumen bei den Männern, die können eh nichts damit anfangen“, hatte man mir geraten. Aber Stanislaw ist so einsam. Und er hat einen kleinen Garten. Zwei späte Tulpen blühen noch. Ich frage ihn, ob er Blumen mag. „Ja, sehr!“, sagt Stanislaw. Schnell hole ich den Blumenkorb aus dem Auto. Und Stanislaw strahlt über das ganze Gesicht. Für dieses Strahlen hat sich die ganze Reise schon wieder gelohnt.

Zwischen beschädigten Fassaden und Straßencafés

Die letzten Tage war es ruhig in Tschernigow. Aber diese Nacht schlafe ich wenig. Obwohl ich mir das Handy leise gestellt habe, wache ich drei Mal von Luftalarm auf. Aber am Morgen ist der Himmel wieder klar, bevor wir uns auf den Weg machen. Ich bestelle noch eine Tasse Kaffee und bete um eine extra Portion Kraft.

Im Stadtzentrum fahren wir immer wieder an Verwaltungsgebäuden vorbei, die mit Spanplatten vernagelt und zum Teil schon wieder provisorisch hergerichtet sind. Die Bezirksverwaltung hat es besonders schlimm erwischt. Die Fensteröffnungen sind noch geschwärzt vom Feuer. „Das war zu Beginn des Krieges, als unsere Stadt so schlimm angegriffen wurde“, sagt unsere Begleiterin von der jüdischen Gemeinde.

Ich erinnere mich, wie mir damals Vera, die Programm-Verantwortliche, am Telefon sagte: „Unsere Stadt wird belagert! Alle Brücken sind beschädigt und besetzt; keiner kommt raus oder rein. Wir legen uns abends schlafen und wissen nicht, ob wir morgen früh aufwachen werden.“ Und ich erinnere mich, wie mir Bassja, eine Holocaust-Überlebende, sagte: „Weißt du noch, das handgestrickte Dreieckstuch, das du mir aus Deutschland mitgebracht hast? Ich habe es die ganze Zeit um die Schultern. Es gibt mir ein Gefühl Geborgenheit.“

Abgesehen von den beschädigten Fassaden ist Tschernigow so schön, wie ich es in Erinnerung hatte – und noch ein bisschen schöner. Unzählige Kirchen, die die Jahrhunderte überdauert haben, Restaurants, Parks und Straßencafés. Und viele jüdische Senioren, die wir lange nicht gesehen haben.

Überlebt – damals und heute

Sieben Holocaust-Überlebende erwarten uns schon im Restaurant, in das wir sie eingeladen haben. Sie haben sich schick gemacht und drücken uns fest. Ich bin sprachlos: Meine liebe Bassja und meine liebe Vera, die als Kind allein mit ihrem Bruder überlebt hat, haben sich mit ihren 90 Jahren seit meinem letzten Besuch überhaupt nicht verändert. Sie sind fit, sie kommen zu jeder Veranstaltung, sagt uns die Gemeindeleiterin.

Bassja, die ihren einzigen Sohn begraben hat und ihren zweiten Krieg durchmacht, hat eine innere Stärke, die andere inspiriert.

„Viele von uns haben den Krieg damals überlebt, weil wir aus gemischten Familien kamen“, sagt Bassja. Tatsächlich haben die meisten Holocaust-Überlebenden hier im Norden den Krieg als Kleinkinder bei nicht jüdischen Angehörigen auf dem Dorf in einem Versteck verbracht, während ihre Landsleute im Großraum Odessa fast alle ins Ghetto oder KZ kamen. Und nun verbringen sie ihre letzten Jahre wieder wie die ersten: im Krieg.

„Einer von uns, Viktor, ist umgekommen zu Beginn des Krieges“, erzählt Bassja. „Wir sind ja alle miteinander in Kontakt. Nach einem Angriff habe ich bei ihm angerufen. Da ging jemand Fremdes ans Telefon und sagt: ‚Viktor ist von uns gegangen. Seine Frau und seine Tochter hatten sich auf den Boden geworfen. Sie haben überlebt. Viktor stand. Er wurde von der Rakete getroffen‘.“

Unser wichtigstes Geschenk: Zeit

Grigorij hat seinen behinderten Sohn mitgebracht, um den er sich rührend kümmert. Er dient auch den Damen als Chauffeur. Ursprünglich kommt er aus der Nähe von Winniza. „Mama hat damals gedacht, uns passiert nichts. Deshalb sind wir dageblieben. Als die Deutschen kamen, haben sie Mama geschlagen, obwohl sie Ukrainerin war. Jemand hat sie verraten. Sie hat dann meinen Namen geändert und meine neue Geburtsurkunde vorgezeigt. Damit ist sie erstmal durchgekommen. Dann haben wir uns im Garten eine Art Höhle gebaut. Dort haben wir uns bis Kriegsende versteckt.“

Die Runde ist klein genug, dass wir uns für jeden der Überlebenden Zeit nehmen können. Auch für Vera, die sich mit leuchtenden Augen an unseren ersten Besuch erinnert; und für Alla, die bei den Großeltern überlebte, da der Großvater ein geachteter Lehrer war; und für Klara, die als hübsches kleines Mädchen beinahe auf der deutschen Kommandantur verschwunden und zur Adoption freigegeben worden wäre.

Gruppenfoto
Die Holocaust-Überlebenden in Tschernigow treffen sich regelmäßig, um sich gegenseitig zu unterstützen. Die Einladung von CSI ins Restaurant ist ein großer Festtag für sie.

„Ihr könnt euch einfach nicht vorstellen, wie viel eure Besuche für die Menschen hier bedeuten!“, sagt Jelena, die das jüdische Sozialwerk Chesed in Tschernigow seit Beginn des Krieges leitet. „Als der Krieg ausbrach, war ich ein paar Wochen in Winniza und habe von dort aus die Angelegenheiten hier geregelt. Als ich wieder zurückkam und unsere Leute gesehen habe, haben wir uns einfach bei den Händen gefasst und miteinander geweint. Und haben gesagt: Wenn wir das überlebt haben, dann haben wir auch noch eine Aufgabe. Also machen wir weiter.“

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 142. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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