„Wir brauchen mehr Aufklärung für Nicht-Juden“ – Ein jüdischer Kindergarten in Deutschland

„Wir brauchen mehr Aufklärung für Nicht-Juden“ – Ein jüdischer Kindergarten in Deutschland

Zwei Jungen spielen auf dem Fußboden
Die Jungen tragen eine größere Kippa, damit diese beim Spielen nicht so leicht herunterfällt. Alle Fotos: JCSI

Jüdisches Leben in Deutschland wird 80 Jahre nach der Schoah immer schwieriger; wer seine jüdische Identität offen zeigt, riskiert Anfeindungen. Diese Entwicklung macht leider auch vor Kindern nicht Halt. Simon Schauer, Mitarbeiter von Junge Christen an der Seite Israels (JCSI), hat mit Erzieherinnen in einem jüdischen Kindergarten in Stuttgart über ihre Herausforderungen und Erfahrungen gesprochen.

Von Simon Schauer

Leuchtende Kinderaugen begrüßen mich interessiert, als ich in den Gruppenraum komme. „Ich bin Simon und wer seid ihr?“ – „Mein Name fängt mit ‚E‘ an. Rate mal den zweiten Buchstaben!“ Ehe ich mich versehe, sitze ich inmitten einer Traube aus Kindergartenkindern, deren aller Namen ich gleichzeitig raten soll. Ich bin zu Gast im jüdischen Kindergarten in Stuttgart. Dass vor der Tür immer ein Streifenwagen steht und man den Gebäudekomplex, zu dem auch eine Synagoge gehört, nur durch eine Sicherheitsschleuse betreten kann, stört die Kleinen nicht. Für sie ist es normal. In diesem Alter reflektieren sie so etwas noch nicht so sehr, erzählen mir zwei Erzieherinnen, mit denen ich mich für ein Interview verabredet habe.

Viel Singen, Tanzen und Lachen „In der jüdischen Erziehung ist es wichtig, dass die Kinder mit einbezogen werden. Dass sie zum Beispiel von klein an alles erklärt bekommen, auch was die Feste bedeuten. Man nimmt sie hinein, weil es auch etwas mit ihrer Identität zu tun hat. Sie sollen ihre Geschichte kennenlernen, erfahren, was geschehen ist, und was noch kommt. Jede Geschichte hat einen Hintergrund“, erzählt mir die jüdische Erzieherin Zoe.

„Was mich als Nicht-Jüdin bei euch immer sehr beeindruckt ist, wie ihr feiert. Mit Singen und Tanzen und Lachen. Es ist fröhlich. Es wird alles sehr spielerisch vermittelt und man lernt sehr viel von euch. Es ist sehr lebendig, so dass die Kinder die Geschichten sehr gut verstehen können“, bekundet Daniela ihrer Kollegin. Zoe ergänzt: „Wir sind hier nicht streng religiös oder ultra-orthodox. Man lernt die Feiertage als Kind mit einer Leichtigkeit. Die ganzen Geschichten, Lieder, Feste, Bräuche und Traditionen sind wie für Kinder gemacht. Das verbinde ich selbst ganz mit meiner Kindheit.“

Etwa 70 Kinder besuchen den Kindergarten. 15 Erzieherinnen und Erzieher arbeiten hier, sechs von ihnen sind jüdisch. Nicht alle Kinder sind jüdisch. Das ist einerseits eine städtische Vorgabe, aber auch gewünscht. Der Kindergarten möchte offen sein, alle Kinder sind willkommen. Beim Essen und bei Sitzkreisen, wenn es um die jüdischen Feste geht, tragen alle Jungs eine Kippa, die religiöse Kopfbedeckung männlicher Juden. Ansonsten ist es ihnen freigestellt, die meisten Kinder stammen nicht aus streng religiösen Familien.

„Nächstes Jahr in Jerusalem“: Die Papp-Pyramiden mit dem traditionellen Gruß zum Pessachfest erinnern an den Auszug aus der Sklaverei in Ägypten.

Da der Kindergarten mitten in der Stadt liegt, ist es wichtig, mit den Kleinen auch nach draußen in die Natur zu gehen. Ich frage, ob sie dort die Kippas aufbehalten können. „Auf keinen Fall!“, antwortet Daniela. „Wir müssen uns schützen. Wenn wir als Gruppe draußen sind, zum Beispiel in der U-Bahn, dürfen unsere Kinder tatsächlich keine Lieder auf Hebräisch singen. Sie dürfen auch nicht sagen, in welchem Kindergarten sie sind. Einfach aus Sicherheitsgründen.“ Wie erklärt man dies Kindern im Alter zwischen drei und sechs Jahren? „Wir sagen, dass sie nicht singen sollen, aber wir nennen ihnen nicht die Begründung. Viele Kinder machen sich noch nicht so viele Gedanken. Wir machen es eher spielerisch und indirekt. Wir versuchen ihnen ein Stückweit ihre Kindheit zu lassen.“

Der 7. Oktober – eine Zäsur

Der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 war eine Zäsur für alle Juden und Israelis weltweit. Und so frage ich nach, wie die Kindergartengemeinschaft die Zeit nach dem 7. Oktober erlebt hat. „Direkt am Montag danach war es ein großes Thema. Ich hatte einen Sitzkreis mit weinenden und unsicheren Kindern. Sie hatten viele Fragen. Manchen war es zu viel“, berichtet Daniela. „Unsere Vorschulkinder sind älter, sie reflektieren schon mehr. Sie haben gewusst, da ist was geschehen. Viele hatten große Angst. Eltern haben mir erzählt, dass sie Freunde in Israel verloren haben.

Wir mussten zusammen einen Weg finden, wie wir damit umgehen. Wir hätten es lieber nicht thematisiert, weil es nicht hier in Deutschland passiert ist. Aber wir konnten es nicht verhindern, weil die Kinder untereinander geredet haben. Fragen danach musste ich erlauben“, führt Daniela bedrückt aus. Für manche Kinder, wie die nicht-jüdischen, sei es kein Thema gewesen.

„Gott ist auch hier”

Direkt am Montag nach dem Terrorüberfall wurden die Sicherheitsmaßnahmen des Kindergartens verschärft. Es gab einen Elternabend mit Polizei und Sicherheitsdienst. „Zwei Monate lang durften wir das Kindergartengelände mit den Kindern nicht verlassen, um mal ins Grüne zu kommen. Ich fühlte mich wie in Corona-Zeiten zurückversetzt.“ Die Kinder sind sehr lebendig, sie brauchen viel Spielraum und Fläche. Das hatten sie nicht und waren so lauter und unruhiger. Mich interessiert, wie die Erzieherinnen mit dieser neuen Situation umgegangen sind. Daniela erklärt, dass sie als pädagogische Maßnahmen versucht haben, die Gruppe stärker zusammenzuführen und den Kindern zu vermitteln, dass sie einander haben. Manchmal habe es auch geholfen, Lieder zu singen, im Sitzkreis darüber zu sprechen oder zu malen. „Da wir ein jüdischer Kindergarten sind, konnten wir sagen ‚Gott ist auch hier‘“, erinnert sich Daniela.

Ich frage Zoe, ob der Antisemitismus in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023 zugenommen habe. „Er hat drastisch zugenommen!“, antwortet sie prompt. „Es gab Zeiten, da habe ich gerne gesagt, dass ich jüdisch bin. Jetzt verstecke ich es eher oder gehe solchen Themen aus dem Weg.“ Die Zeit nach dem brutalen Hamas-Überfall auf Israel beschreibt Zoe so: „Ich hatte Angst um meine Großeltern in Israel und sie hatten große Angst um uns. Sie haben mitbekommen, wie es in Deutschland gerade so läuft. Meine Oma hat verboten, dass ich aus dem Haus gehe. Ich hatte aber weniger Angst als andere, die um mich Angst hatten.“ Warum? „Vielleicht weil ich dieses Gefühl traurigerweise schon immer kenne. Dass man vorsichtig sein muss. Klar, es ist mittlerweile wieder ein Stück besser geworden. Aber trotzdem, man hatte große Angst. Man stellt sich schon fast jeden Tag die Frage: ‚Bin ich hier sicher?’“

Identität stärken: Von klein auf lernen die Kinder die Bedeutung der jüdischen Feiertage und Feste kennen.

„Ich hasse alle Juden!“

Als Zoe selbst noch zur Schule gegangen ist, hatte sie dort schon immer Konflikte: „In manchen Freundesgruppen habe ich meine Religion nicht erwähnt. Muslime wollten nicht mit mir befreundet sein, als sie erfahren haben, dass ich jüdisch bin.“

Ich frage nach, ob Zoe eine Gewichtung des Antisemitismus feststellen kann, ob er von links, von rechts oder von islamistischer Seite stärker geworden ist. „Er hat sich in allen Bereichen verstärkt. Es hat sich so vermischt, ich kann das schwer beantworten“, meint Zoe und führt weiter aus: „Ich wurde zum Glück nie geschlagen. Mein jüngerer Bruder wurde mal auf dem Fußballfeld verprügelt und musste ins Krankenhaus, da war er zwölf. Ich hatte schon immer Diskussionen und dumme Sätze gehört wie: ‚Ich hasse alle Juden!‘ Und dann habe ich zurückgefragt: ‚Kennst du überhaupt Juden außer mir?‘ ‚Nein‘ lautete die Antwort.“

Wie geht es weiter?

Mich beschäftigt die Frage, was die jüdische Gemeinschaft in Deutschland nach dem 7. Oktober bräuchte. „Aufklärung!“, antwortet Zoe bestimmt. Aufklärung für Nicht-Juden im Allgemeinen, aber auch für Kinder: „Wir müssen Kinder aufklären, denn diese mobben auch. Auch in den Sozialen Medien muss aufgeklärt und erklärt werden, denn da verstecken sich viele Jugendliche.“

Zurück zum Kindergarten. Hier funktioniert das Miteinander noch sehr gut, doch wie werden die Kleinen auf die Zeit nach dem Kindergarten vorbereitet? „Der Großteil der Kinder hier geht auf die jüdische Grundschule, die sich im gleichen Gebäude befindet, daher betrifft uns das hier nicht“, berichtet Daniela und fügt hinzu: „Es ist eher eine familiäre Herausforderung. Die Eltern handhaben es unterschiedlich. Manche wollen, dass ihre Kinder offen leben und sagen, dass sie jüdisch sind, manche nicht.“

Ab der 5. Klasse müssen die jüdischen Kinder dann eine öffentliche Schule besuchen. Wie es ihnen dann außerhalb des bis dahin geschützten Rahmens ergeht, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 141. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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