Lebensmut nach dem 7. Oktober: Ein 100-Jähriger blickt nach vorne

Lebensmut nach dem 7. Oktober: Ein 100-Jähriger blickt nach vorne

Walter Bingham
Der Israeli Walter Bingham gilt mit 100 Jahren als der älteste aktive Journalist der Welt. Foto: Café Europa, Jerusalem Foundation

Von Hannah Trusch

Der älteste aktive Journalist der Welt, Walter Bingham, konnte über einen Kindertransport nach England dem Holocaust entkommen. Am 8. Oktober 2023, im Schatten des Terrorangriffs durch die Hamas auf Israel, bringt ihn seine Geschichte zurück in jenes Land, aus dem er damals geflohen ist: Deutschland. Walter Bingham blickt zurück und anschließend nach vorne.

Auf die Frage, wie es ihm aktuell gehe, antwortet Walter Bingham: „Mir geht es gut. An einem guten Tag fühle ich mich wie 40, an einem schlechten Tag wie 50, und heute ist ein guter Tag.“ Der 100-Jährige besitzt neben seinem Humor einen unerschütterlichen Glauben in sein Land, Israel. Er ist ein regelmäßiger Gast im von Christen an der Seite Israels unterstützten Café Europa in Jerusalem. Hier können sich Schoah-Überlebende austauschen, Kaffee genießen und Unterhaltungsangebote in Anspruch nehmen.

Binghams Geschichte

1924, vor genau 100 Jahren, wurde Walter Bingham in Deutschland geboren. Er ging noch zu Zeiten der Weimarer Republik in die Schule. Alles veränderte sich, auch sein Schulalltag, als Hitler an die Macht kam. Walter Bingham gelang es rechtzeitig, mit der religiös-zionistischen Jugendbewegung auf einem der Kindertransporte nach England zu fliehen. Dort diente er über vier Jahre in der Armee. Zu seinem Armeedienst findet er diese Worte: „Ich hatte kein Land, für das ich gekämpft habe. England war nicht mein Land. Meine Motivation war nicht für England zu kämpfen, sondern gegen die Nazis zu kämpfen.“

Als Rettungswagenfahrer war er 1944 auch bei den Landungen alliierter Soldaten in der Normandie beteiligt. Durch eine wundersame Versetzung in ein Büro in London überlebte er den Krieg, heiratete in London und lebte wegen der Liebe seiner Frau zu England 50 Jahre im Vereinigten Königreich. Nach ihrem Tod wanderte seine Tochter nach Israel ein und er folgte ihr schließlich.

Auf den Spuren des Kindertransports

Am 7. Oktober 2023 bereitete sich Bingham gerade darauf vor, Israel einen Tag später zu verlassen. Der Kindertransport, der ihn aus Deutschland rettete, wurde zum Anlass für ihn, nach Deutschland zurückzukehren: Die Organisation „March of the Living“ wählte drei ehemalige Geflohene aus und lud sie nach Deutschland ein, um ihre Reise nachzuverfolgen. Einer von ihnen war Walter Bingham.

Bingham berichtet, dass es ihm unglaublich schwergefallen sei, Israel am 8. Oktober im Schatten des Terrorangriffs durch die Hamas zu verlassen. „Wäre es nicht für dieses wichtige Thema gewesen, der Welt [von den Kindertransporten] zu erzählen, hätte ich mein Land niemals verlassen.“ Seine Reise, auf der er den Kindertransport erneut durchlebte, weckte viele Erinnerungen.

„Ich möchte nicht die Gräueltaten Deutschlands beschreiben. Ich kann nicht die Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober beschreiben“, beginnt Bingham. Doch zwischen diesen beiden Grausamkeiten bestehe ein entscheidender Unterschied. Während der Holocaust ein staatlich organisierter Vorgang war, wurde der 7. Oktober von einer Terrorgruppe orchestriert, so Bingham. Obwohl die Hamas über Gaza herrsche, habe es sich nicht um einen Staat gehandelt. Deshalb könne man es nicht miteinander vergleichen. „Der 7. Oktober war unbeschreiblich grausam, aber es war nicht der Holocaust“, betont er. Deshalb sei er entsetzt gewesen, als er den israelischen UN-Botschafter nach den Ereignissen des 7. Oktober einen gelben Stern tragen sah. Dies schmälere den Holocaust und seinen Einfluss.

Einen weiteren Unterschied sieht Bingham in der Existenz Israels. Der Holocaust war eine organisierte Tötungsmaschine über einen langen Zeitraum. Der 7. Oktober war eine Terrorattacke mit grausamster Brutalität, die jedoch auf den Staat Israel traf, der sich wehren könne. Bingham betont: „Wir sind in der Lage, diese Terroristen zu bekämpfen. Wir tun es und wir besiegen sie.“

Sein Aktivismus kommt hier zum Vorschein: Er würde gerne in der Armee dienen. Nicht an der Front, aber an einem Checkpoint. Er könne damit umgehen. Diese Hingabe an sein Land ist ganz seiner Überzeugung zuzuschreiben: das Land zuerst, das Individuum danach. Davon ist er auch überzeugt in Bezug auf die Geiseln, so schlimm wie es sei. Aber, so wiederholt er sich, das Land sei wichtiger als die einzelne Person.

Binghams Hoffnung

Immer wieder kommt Binghams Zuversicht in den israelischen Staat zum Vorschein. Er zählt die vergangenen Weltreiche auf: das Römische Reich, die Ottomanen, das Britische Weltreich, … „Die sind alle weg. Aber wir sind noch hier und wir werden immer hier sein.“ Am Israel chai („Das Volk Israel lebt”), sagt er voller Gewissheit.

In den guten, alten Zeiten zu schwelgen, wie es alte Leute gerne tun würden – damit kann Bingham sich nicht anfreunden. Alt fühle er sich nur vor dem Spiegel, ansonsten liebe er das Leben, er habe noch viel zu tun. Sein Motto „Heute ist der Tag zu leben“ spiegelt sich auch in seiner Perspektive auf die zunehmende Gewalt in Israel wider. Er erklärt: „Leider haben wir hier ein paar Probleme. Aber wir leben in einem Zeitalter, das das Paradies sein könnte. Ich sehe eine wunderbare Zukunft. Wir gehen nirgendwohin. Wir werden sie alle besiegen, so wie wir das in der Vergangenheit getan haben.“ Erneut schimmert das „Am Israel chai“ durch seine Worte hindurch. Das jüdische Volk wird leben.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 137. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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