„Bring Maya home now!“ – Das Vermächtnis einer getöteten Geisel

„Bring Maya home now!“ – Das Vermächtnis einer getöteten Geisel

Plakate mit Fotos der Geiseln hängen in Tel Aviv
Plakate am Rothschild Boulevard in Tel Aviv erinnern an die immer noch gefangen gehaltenen Geiseln der Hamas. Foto: privat

Ein Beitrag von Gastautorin Brigitte B. Nussbächer

Am letzten Abend unseres Besuches in Israel zu Kriegszeiten, im April 2024, kommt es zu einer besonderen Begegnung, die Spuren in unseren Seelen hinterlässt und ein Erbe beinhaltet. Dieser Artikel ist die Einlösung unseres Versprechens.

Am 17. April 2024, dem letzten Abend unseres zehntägigen Israel-Besuches, sitzen wir auf unserer schönen Dachterrasse im Bezalel-Hotel in Jerusalem, aktualisieren unsere Webseite „ARC to ISRAEL“ mit Bildern und Eindrücken der letzten Tage und genießen dabei den Sonnenuntergang. Außer uns ist noch ein Paar da, ein stilles Paar, in schwarz gekleidet. Er mit breiten Schultern, sie schmal und zart. Was mir an ihr auffällt, sind die Haare, die seit ein paar Monaten nicht mehr nachgefärbt wurden. Da die Frau sehr gepflegt ist, frage ich mich, ob das mit einem besonderen Vorkommnis zusammenhängt.

Wegen des schönen Lichts wollen wir ein Selfie machen, da bietet der Mann uns seine Hilfe an. Wir stellen uns vor und kommen ins Gespräch. Smadar und Shlomo erzählen, dass sie nach Jerusalem gekommen sind, um beim Oberrabbiner und beim Präsidenten Jitzchak Herzog vorzusprechen: wegen der nach Gaza entführten und dort festgehaltenen Leiche von Smadars Schwägerin Maya.

Smadar und Shlomo
Eine besondere Begegnung auf der Dachterrasse: Smadar und Shlomo erzählen ihre bedrückende Geschichte. Foto: privat

Auf einmal hat sich die Atmosphäre geändert – die Idylle ist zerplatzt. Wir stehen vor nacktem, ungeschminktem Leid! Vorsichtig frage ich, ob sie mehr erzählen möchten, und sie setzen sich zu uns. Wir erfahren, dass Smadar Gorens Bruder Avner mit seiner Frau Maya und den vier Kindern bis zum 7. Oktober 2023 in Nir Oz wohnte, einem Kibbutz an der Grenze zum Gazastreifen. Eine fröhliche Familie – zwei der Kinder auf der Universität, eines bei der Armee und das andere in der Vorbereitung für den Armeedienst.

Die Tragödie von Nir Oz

Am 7. Oktober, zur Zeit des Massakers, hielten sich Maya und Avner in Nir Oz auf. Das 1958 gegründete Kibbutz, zwei Kilometer von Gaza entfernt, gehört zu den am stärksten betroffenen Orten. Es gibt erschütternde Aufzeichnungen von diesem Tag, die letzte Kommunikation von verzweifelten Menschen, die nicht verstehen, was geschieht, die miterleben, wie Terroristen in ihre Wohnungen eindringen, deren Häuser angezündet und damit zu Todesfallen werden. Die um Hilfe flehen, die nicht kommt. Der Ort ist zerstört, die Häuser in Trümmern oder abgebrannt. Als die Armee endlich eintraf, fand sie nur Tod, Asche und unerträglichen Schmerz vor. Von den rund 400 Einwohnern wurden 40 getötet und 79 entführt!

Avner, der Familienvater, versuchte an dem Morgen im Schutzraum Sicherheit zu finden – vergebens. Die Terroristen brachen die Tür auf und töteten ihn. Maya war in der Frühe im Kindergarten, um den nächsten Tag vorzubereiten. Sie war den Terroristen wehrlos ausgeliefert und wurde entführt. Shlomo sagt uns, sie hätten ein Video erhalten über das, was mit Maya damals geschah – aber sie zeigen es nicht und wollen nicht darüber sprechen.

Smadar und ihr Bruder Avner
Ein Bild aus glücklichen Tagen: Smadar mit ihrem Bruder Avner. Foto: privat

Avners Leiche konnte erst zehn Tage später identifiziert werden. Er wurde in Nir Oz, dem Kibbutz, in dem er geboren worden war und sein ganzes Leben zugebracht hatte, beerdigt. Mayas Telefon wurde im Gazastreifen geortet. Am 1. Dezember wurde die Familie von der IDF (Israel Defense Forces) benachrichtigt, dass auch Maya ermordet worden war. Ein Ehepaar, beide 56 Jahre alt, tragisch aus dem Leben gerissen. Vier Kinder blieben als Waisen zurück: Assif (25), Bar (23), Gal (21) und Dekel (18).

Man spürt ihre Tränen, aber man sieht sie nicht

Das Licht des Tages verblasst, während Shlomo und Smadar erzählen. Ihre Stimmen sind leise und sehr beherrscht. Tiefe Trauer klingt durch, aber keine Vorwürfe, keine Wut und kein Hass. Man spürt ihre Tränen, aber man sieht sie nicht. Ich danke ihnen für ihre Offenheit und frage, wie sie es ertragen können, das Geschehene immer wieder zu erzählen. Ihre Antwort ist sehr klar: Dadurch halten sie die Erinnerung an ihre Lieben lebendig und sie sehen es als ihre Pflicht an, diese Geschichte zu erzählen, weil der Kampf noch nicht vorüber ist.

Auch sieben Monate später sind 36 Geiseln aus Nir Oz noch immer in der Gewalt der Hamas. Man weiß, dass mindestens zehn von ihnen nicht mehr leben. Seit über 200 Tagen wartet die Familie darauf, zumindest Mayas Leiche zurückzubekommen.

Im Judentum kommt dem Umgang mit Toten eine hohe Bedeutung zu. Ein Leichnam muss respektvoll behandelt und vollständig (das heißt alle Körperteile und auch das vergossene Blut) begraben werden, möglichst innerhalb von 24 Stunden. Nicht bestattet und den Aasfressern als Beute vorgeworfen zu werden, gehört zu den unheilvollsten Dingen, die einen Menschen treffen können (Jeremia 16,4). Die Schändung von Leichen gehört zu den schlimmsten Mitteln der Demütigung und der Abschreckung, weil die Möglichkeit der Erinnerung und dadurch die Erhaltung der Existenz bedroht sind. Deshalb können die inneren Wunden der ganzen Familie nicht beginnen zu heilen, solange sie nicht wenigstens die Möglichkeit haben, Maya in Ehren zu begraben.

Plakat mit Maya
Die Familie kämpft darum, Maya ein würdiges Begräbnis bieten zu können. Foto: privat

Was für viele aus anderen Ländern längst abgeschlossen und vergessen ist, ist in Israel nach wie vor brandaktuell. Der Schmerz um die Geiseln, die – tot oder lebendig – noch immer in den Gaza Terrortunneln gehalten werden, ist hier allgegenwärtig. Überall hängen die Plakate, kein Gespräch, in dem es nicht auch um die Geiseln geht. Es ist, als könnte das Leben ohne ihre Rückkehr nur noch auf halber Stufe stattfinden. Wie Smadar es formuliert: „Eine Tragödie, die immer noch andauert und so viele Familien zerbricht“.

Wie soll man Pessach und Befreiung feiern, solange Geiseln in Hamas-Tunneln gequält werden?

Im Jahr 2024 wird in Israel Pessach vom 22. bis 30. April gefeiert: das Fest der Befreiung. Wie sollen sie dieses Fest mit den Kindern der Ermordeten begehen, wenn Mayas Leiche immer noch in Gaza ist und nicht befreit wurde? Deshalb waren Smadar und Shlomo beim Oberrabbiner und haben einen Termin beim Präsidenten. Sie wollen dafür sorgen, dass die Befreiung der lebenden und toten Geiseln eine Priorität für die israelische Regierung bleibt. Eine Woche später, als wir schon wieder zuhause sind, schreibt Smadar mir, dass die Termine erfolgreich waren und „ihnen mit großem Interesse zugehört wurde und sie mit viel Einfühlungsvermögen behandelt wurden“.

Smadar und Shlomo haben die Verantwortung für die vier hinterbliebenen Kinder übernommen, sie zu sich geholt und kümmern sich um sie. Die anderen noch lebenden Einwohner von Nir Oz wurden evakuiert. Sie hatten den einen Wunsch, zusammen zu bleiben, denn sie haben im Kibbutz als große Familie gelebt und werden auch weiterhin versuchen, sich gegenseitig beizustehen. Nach sieben Monaten ist immer noch völlig unklar, wie ihre Zukunft aussehen wird. Sie können nicht zurückkehren, weil die ganze Gegend nach wie vor Kriegszone ist und die Hamas noch nicht bezwungen wurde.

Es ist still geworden auf der Dachterrasse. Vor ein paar Stunden waren wir noch Fremde – und jetzt? Teilen wir ihr Leid und haben ein gemeinsames Erbe. Wir umarmen uns und vereinbaren, auch zukünftig in Verbindung zu bleiben. Wir übergeben ihnen eine Spende. Nicht, dass sie darum gebeten hätten. Im Gegenteil: Es fällt ihnen schwer sie anzunehmen, obwohl ihre kleine Familie durch das Morden der Hamas von fünf auf neun Mitglieder angewachsen ist. Aber es ist uns wichtig mit Fakten zu zeigen, dass wir die Bürde mittragen.

Zwei Ehepaare auf der Terrasse des Hotels
Sie möchten in Kontakt bleiben: Shlomo und Smadar Goren, Brigitte B. Nussbächer und ihr Mann, Harald Bottesch (v. l.). Foto: privat

Denn was ihnen wie allen Angehörigen der Geiseln Kraft gibt, ist zu sehen, dass auch andere Menschen in der Welt ihren Schmerz – sowohl den privaten als auch den nationalen – im Herzen tragen, die Tragweite dieser Tragödie des Schwarzen Schabbats verstehen und sich dafür einsetzen, dass alle Entführten zurückgeholt werden. Sie danken uns von Herzen, dass wir ihre Geschichte weitergeben werden und damit ihren Kampf unterstützen.

Mayas Vermächtnis

Die Begegnung mit Smadar und Shlomo gibt unserer Reise einen sinnvollen Abschluss. Es war unser Ziel, betroffene Familien zu besuchen, ihnen beizustehen, ihre Geschichten zu erzählen und ihnen praktisch wie finanziell zu helfen. Dies ist unser letzter Termin: ungeplant, aber kein Zufall! Eindrucksvoll wie kaum einer.

Dieser Artikel ist die Einhaltung unseres Versprechens. Wir geben Mayas Vermächtnis durch die Botschaft von Smadar und Shlomo weiter an die Welt: „Vergesst nicht, was am 7. Oktober geschehen ist! Wir müssen die Hamas bekämpfen und wir dürfen nicht aufhören, bis wir sie bezwungen und unsere Geiseln befreit haben! Seid an unserer Seite!“

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