Das Leben feiern mitten im Krieg

Das Leben feiern mitten im Krieg

CSI-Mitarbeiterin Anemone mit der Holocaust-Überlebenden Ludmila in der Ukraine. Alle Fotos: CSI

Holocaust-Überlebende in der Ukraine sind unendlich dankbar für die vielfache Unterstützung durch Paten aus Deutschland. CSI-Mitarbeiterin Anemone Rüger hat einige von ihnen besucht und bewegende Begegnungen erlebt.

Es ist strahlender Frühling und es ist Krieg. Was für eine seltsame Mischung. Schreckliches geschieht, Wunder geschehen. Diese zwei Realitäten stehen nebeneinander, während unser Team in der Ukraine ein Stück Hoffnung und Lebensfreude zu den vielen Überlebenden des Holocaust bringt, die auf Hilfe vor Ort angewiesen sind. Für jedes Lächeln auf ihren Gesichtern lohnt sich der Einsatz.

„Hier in diesem Dorf standen die russischen Truppen“, erzählt mir mein Kollege Kolja, während wir an der Peripherie von Kiew zu unserem nächsten Besuch bei Holocaust-Überlebenden und bedürftigen jüdischen Senioren unterwegs sind. „Sie sind über Weißrussland reingekommen, bis hierher nach Busowar. Von hier aus wollten sie die Hauptstadt einnehmen. Siehst du da drüben den Wohnblock? Den haben sie getroffen.“ Immer wieder zeigt Kolja auf eine zerstörte Brücke, ein beschädigtes Haus.

Kriegszerstörungen bei Kiew.

Doch man muss genau hinschauen, denn die Vororte der Hauptstadt präsentieren sich gerade in frischem Grün. Die Obstbäume blühen, überall bricht der Frühling hervor. Schwer vorzustellen, dass nur wenige hundert Kilometer weiter östlich die Hölle los ist.

Am Vorabend des Kriegsausbruchs vor mehr als einem Jahr sei er müde von einer Fahrt zurückgekommen und habe überlegt, das Tanken auf den nächsten Tag zu verschieben, erzählt Kolja. „Aber ich hatte den Eindruck, ich soll es gleich machen. Am nächsten Morgen gegen fünf sind wir im Krieg aufgewacht. So schrecklich es war – wir waren vorbereitet. Wir haben unsere Sachen geschnappt und konnten mit unserem vollgetankten Auto gerade noch vor dem großen Panik-Stau in eine ruhigere Gegend entkommen.“

„Was ihr für uns tut, ist nicht zu ermessen!“

Heute wartet die jüdische Gemeinde von Belaja Zerkow auf uns. Wir haben die mobilen Senioren aus unserem Programm ins Restaurant eingeladen – ein unerschwinglicher Luxus für die meisten, und für uns eine gute Möglichkeit, vielen gleichzeitig eine Freude zu machen.

Schon auf dem Platz vor dem Eingang kommen uns die Leute entgegen und umarmen uns. Eine herrliche Erwartung liegt in der Luft, wie kurz vor der Weihnachtsbescherung. Von weitem sehe ich einen Rollstuhl kommen. Ludmila, eine warmherzige Überlebende, die im Holocaust ihre Mutter verloren hat, umarmt mich und will mich kaum wieder loslassen. „Wie ich mich freue, das kann ich dir kaum sagen!“ Es ist das erste Mal seit Corona und Krieg, dass wir uns wiedersehen.

„Als wir unsere Leute gefragt haben, wer mit Anemone und Alina Kaffee trinken möchte, konnten wir uns kaum retten vor Anfragen“, erzählt mir Tanja, unsere Ansprechpartnerin. „Ludmila kann kaum noch ein paar Schritte gehen, aber sie wollte unbedingt dabei sein!“

Restaurantbesuch mit jüdischen Senioren des CSI-Patenschaftprogramms.

Langsam füllt sich der Raum. Auf den langen Tafeln werden Wareniki (ukrainische Maultaschen), Blintschiki (gefüllte Crepes), Salate und Gebäck aufgetragen. Tanja eröffnet unser Zusammensein, und ein Musikertrio beginnt, wundervolle Kaffeehausmusik zu spielen.

Ich schaue in die Runde, in all die Gesichter der Überlebenden und Bedürftigen, die sonst schon froh sind, wenn wir ihnen mit Grundnahrungsmitteln und Medikamenten helfen, schlichtweg zu überleben, und spüre, was es für ein besonderer Nachmittag für alle ist.

Ich überbringe diesen altgewordenen Kriegskindern von damals, die uns so ans Herz gewachsen sind, die Segensgrüße von Hunderten und Tausenden von Paten und Freunden und ermutige sie, aus den Psalmen Hoffnung für jeden neuen Tag zu schöpfen. Dann beginne ich auch zu essen und erwarte, dass Musik und Schlemmen jetzt noch ein halbes Stündchen vor sich hinplätschern.

Tiefe Dankbarkeit

Da steht die erste Dame auf und bittet um Aufmerksamkeit. „Was ihr für uns tut, ist nicht zu ermessen!“, sagte sie. Dann ist die Stimme weg; sie wischt sich die Augen und überreicht uns einen Blumenstrauß.

Eine Frau bedankt sich für die Friseuse, die ihr mit ihrem Hausbesuch wieder ein bisschen Würde und Lebensfreude geschenkt hat. Eine andere lobt die medizinische Fußpflege, dank derer sie jetzt wieder laufen kann. Eine Holocaust-Überlebende ruft mich zu sich und sagt auf Deutsch für alle: „Wir lieben dich!“

Ein gut gekleideter älterer Herr kommt auf mich zu und sagt: „Wenn hier einer unserer Offiziellen gesprochen hätte, hätte er vielleicht große Worte gemacht, aber so etwas interessiert die Leute nicht. Du hast von deinem Herzen gesprochen, wie du glaubst und wie du praktisch hilfst – das ist uns direkt ins Herz gefallen. Du hast den Menschen hier so eine Hoffnung gegeben! Es ist so wichtig, dass wir jetzt solche Worte hören!“ Dann spielt die Musik ein bekanntes ukrainisches Liebeslied, und die Senioren fordern ihre Nachbarinnen zu einem Tänzchen auf.

Gruppenfoto zum Abschluss des gemeinsamen Essens.

Die Tränen kommen mir oft erst hinterher, wenn ich diese kostbaren Momente zu Papier bringe. Ich habe – stellvertretend für Sie, liebe Freunde und Unterstützer – so viel Liebe und Dankbarkeit in Empfang nehmen dürfen, obwohl eigentlich ich den altgewordenen Waisen und Witwen schlicht eine Freude machen wollte. Alle wollten mir nochmal die Hand schütteln, nochmal Danke sagen; vielen kamen dabei die Tränen. Ein Stück Himmel auf Erden, mitten im Krieg.

Ein Gedicht von Herrn Abramow

Ganz am Schluss kommt Herr Abramow auf mich zu. Er rezitiert ein Gedicht voller Wärme und Dankbarkeit und bittet Alina es aufzunehmen, damit ich es mir immer wieder anschauen kann. Er sei vor einem Jahr aus Slawjansk mitten im Kriegsgebiet im Osten der Ukraine geflohen; ich solle mir mal seine Geschichte notieren, bittet mich Tanja. Vielleicht können wir ihn ja mit in unser Programm nehmen.

Iwan ist 1948 geboren, im Gründungsjahr Israels. „Ich hatte keinen Vater; ich habe nie etwas über ihn erfahren“, beginnt Iwan seinen Bericht. Anstelle von „unbekannt“ hätten die Behörden einfach „Iwan Iwanowitsch“ bei seiner Geburtsurkunde eingetragen. „Aber über Mamas Familie weiß ich einiges“, so Iwan. „Sie haben in einem Dorf bei Isjum gelebt, nicht weit von Charkow. Dort gab es einen jüdischen Gutsverwalter, noch vor der Revolution. Als mein Großvater Samuil 1908 seine Frau verlor, hat der Gutsverwalter seine drei Söhne adoptiert. Opa hat dann dessen Hausmädchen geheiratet und nochmal drei Kinder bekommen; eine davon war meine Mutter.“

Als der Krieg ausbrach, musste Pawel, der geliebte Bruder von Iwans Mutter, an die Front; Großvater Samuil war schon verstorben. Pawel kam in deutsche Kriegsgefangenschaft. Vier Jahre verbrachte er in einem Lager; er überlebte nur knapp. Dafür, dass er in deutsche Gefangenschaft geraten war, verurteilte ihn Stalin dann noch einmal zu zehn Jahren Haft im Gulag.

CSI-Mitarbeiterin Anemone mit Iwan Abramow.

„Mama und Oma haben es nicht geschafft zu fliehen“, berichtet Iwan. „Irgendwie haben sie es geschafft zu überleben. Sie haben sich in den Dörfern versteckt – mal hier, mal da. Oma hatte ihre jüdischen Papiere vernichtet. Das war eine schlimme Zeit. Sie haben dort so viel mitgemacht, dass beide nie darüber gesprochen haben.“

1949 ging die Familie nach Slawjansk. Iwan wurde später Mechaniker, gründete eine Familie, baute zwei Betriebe mit auf. Vor einem Jahr musste die ganze Familie aus dem brennenden Donbass fliehen. Die jüdische Gemeinde in Belaja Zerkow nahm sie auf.

Bis auf eine winzige Rente hat Iwan kein Einkommen, seine geflüchteten Kinder haben noch keine Arbeit gefunden. Alle Ausgaben, insbesondere die Gesundheitsversorgung betreffend, müssen privat bestritten werden.

Semjon und Bassja sind vor den Raketen zu Freunden aufs Land geflohen.
Valentina freut sich über eine selbstgestrickte Wärmflaschenhülle.

Solange die wehrpflichtigen Angehörigen aufgrund des andauernden Kriegs das Land nicht verlassen dürfen, tun sich viele Familien schwer zu gehen. Für die Senioren ist es ohnehin eine fast unüberwindliche Hürde, im vorgerückten Alter woanders noch einmal neu anzufangen.

Gott sei Dank gibt es die Mitarbeiter der jüdischen Gemeinden vor Ort, die in allen Städten unseres Programms weiterhin für die Bedürftigen da sind. Und zum Glück gibt es immer wieder Menschen in friedlichen und wohlhabenderen Ländern wie Deutschland, die einen der Notleidenden mit aufs Herz und in ihr Budget aufnehmen. Helfen Sie mit?

Hunderte jüdische Senioren und Holocaustüberlebende in der Ukraine und in Moldawien warten auf einen Paten, durch den sie nicht nur materiell ein Stück versorgt werden, sondern das Gefühl bekommen, in dieser schweren Zeit nicht allein zu sein.

Alle Infos auf https://csi-aktuell.de/holocaust-ueberlebende/

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