Während der Krieg im Nachbarland Ukraine in den zweiten Winter geht, kämpfen auch in Moldawien jüdische Senioren ums Überleben. Doch weder Kälte noch Geldknappheit schmerzen annähernd so wie die Einsamkeit. Unsere Mitarbeiterinnen Alina (Ukraine) und Anemone Rüger (CSI Deutschland) haben sie besucht.
Moldawien. Ich liebe dieses Land, wo man kilometerweit durch unbewohnte Weite fährt; und wenn man dann im nächsten Ort wieder Menschen trifft, sind sie sehr gastfreundlich. In den Städten können wir unsere Besuche einigermaßen eng durchtakten. Auf dem Land, wo im Norden um die Stadt Belz herum viele unserer Senioren im Patenschaftsprogramm leben, funktioniert das kaum. Dort hat man sich meist stundenlang vorbereitet auf unseren Besuch.
So auch Nikolai, über den wir in unserer Zeitung Israelaktuell berichtet hatten. Seine Adresse lag auf dem Weg, und so wollten wir kurz bei ihm vorbeischauen. Er empfing uns am Hauseingang, fuhr mit uns in einem sehr abenteuerlichen sowjetischen Fahrstuhl in den achten Stock und bat uns ins Wohnzimmer. Dort hatte Nikolai seinen kleinen Klapptisch liebevoll gedeckt – mit dem Sonntagsgeschirr, den leckeren moldawischen Weintrauben und Gebäck.
In den offenen Fächern seiner Schrankwand stehen Fotos von Frau und Tochter, die letztes Jahr innerhalb einer Woche an Covid starben. Nikolai trägt die gute, abgetragene Anzugjacke, die ihm von vielen Auftritten mit seinem Ensemble geblieben ist, und bewirtet uns. Es tut gut, die Freude über unseren Besuch in seinen Augen zu sehen.
Eine Begegnung wie eine Energiequelle
Anatoli haben wir heute früh im häuslich eingerichteten Büro des jüdischen Sozialwerks Chesed in Belz kennengelernt. Er strahlte von einem Ohr zu anderen, als er im Besprechungsraum auf uns zukam. „Ich schaue euch an und weiß nicht, was ich sagen soll“, sagt er. „Von euch geht so eine Güte aus! Dass ihr in so einer schweren Zeit zu uns kommt und uns Hilfe bringt!“ Seine Mutter floh im Krieg mit ihrer Mutter und ihren Brüdern unter Beschuss mit dem Boot über den Fluss Prut. Anatolis Großvater fiel. „Ich habe Opa im Archiv gefunden, im Goldenen Buch! Das war so wichtig für mich! Ich habe alles dokumentiert. Mama hat überlebt, aber sie hat den Schrecken des Krieges ihr ganzes Leben mit sich getragen!“
Ich drücke Anatoly ein Waffelherz von einer deutschen Mama in die Hand. Eigentlich nicht viel mehr als ein paar Gramm Mehl, Zucker und Butter, doch Anatoli ist überwältigt. „Nein, so etwas habe ich noch nicht erlebt! Euer Besuch macht mich einfach glücklich! Die Begegnung mit euch ist für mich wie eine Energiequelle!“ Dann verrät uns Anatoli noch, dass er Gedichte schreibt. „Wenn ihr das nächste Mal kommt, schreibe ich ein Gedicht nur für euch!“
Liebe findet einen Weg
An jedem Tag gibt es eine Begegnung, die man nicht vergisst – zum Beispiel, wenn sie eine unerwartete Wende nimmt. Lew redet nicht, von ihm werden wir nicht viel erfahren, wurden wir von den Mitarbeitern gewarnt. Und tatsächlich – die Begrüßung am Gartentor als kühl zu beschreiben, wäre noch etwas untertrieben. Glücklicherweise hat Gott uns schon einiges gelehrt im Laufe der Zeit. Gerade diese Menschen brauchen eine Berührung mit seiner Liebe am meisten.
Das erste Wunder ist, dass Lew uns nach ein paar knappen Sätzen eines ersten Kommunikationsversuchs ins Haus bittet. Dort liegt seine Frau auf dem Sofa – nach einem Schlaganfall vor vier Jahren ist sie bettlägerig. Lew ist für sie Pflegekraft und Koch und Krankenschwester. Sein erwerbstätiges Leben lang hat er auf dem Bau gearbeitet.
Nun erzählt er uns doch ein bisschen von seiner Familie. Rosa hieß die Mutter, Grigori der Vater. „Oma und Opa waren kurz vor Kriegsbeginn aus Wassilkow bei Kiew hierher nach Moldawien gekommen. Opa war hier Apotheker. Dann wurden sie zusammen mit Papa und Mama und Tante Malwina in ein Lager getrieben … irgendwo in der Ukraine nicht weit von der Grenze … Ja, Mogilow-Podolski, das kann sein. Was sie durchgemacht haben, ist nicht zu beschreiben. Jeden Tag haben sie gedacht, es ist ihr letzter.“ Lews Eltern überlebten – schwer traumatisiert. Noch bevor Lew geboren wurde, verließ der Vater die Familie.
Ich versuche, Worte der Versöhnung zu finden, einen Spalt in der Mauer der Bitterkeit zu entdecken, die Lew umgibt; erzähle von meinen Freunden, meiner Familie in Deutschland, die das jüdische Volk von Herzen lieben.
„Die Juden haben so viel durchgemacht in der Geschichte!“ sagt Lew noch einmal, als wir uns vor der Haustür verabschieden. Dann umarmt er mich und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Wieder hat die Liebe des himmlischen Vaters die Dunkelheit in einem Menschenherzen besiegt.