Schokoherzen, Geigenklänge und Raketen: Besuche bei Holocaust-Überlebenden in Odessa

Schokoherzen, Geigenklänge und Raketen: Besuche bei Holocaust-Überlebenden in Odessa

Auch wenn es viele Tränen kostet – Dionysia möchte ihre schmerzvolle und verlustreiche Lebensgeschichte teilen. Alle Fotos: CSI

Der zweite Kriegswinter in der Ukraine steht bevor. Seit mehr als 20 Monaten toben im Osten und Südosten des Landes heftige Kämpfe. Doch auch Städte im Landesinneren stehen immer wieder unter russischem Raketenbeschuss, darunter Odessa – eine Schwarzmeerstadt, in der man traditionell eigentlich Urlaub macht. Hier leben auch rund 100 Holocaust-Überlebende und jüdische Senioren, die durch das Patenschaftsprogramm von Christen an der Seite Israels unterstützt werden. Sie haben sich dem Flüchtlingsstrom zu Kriegsbeginn nicht angeschlossen und hoffen, dass sie in ihren vertrauten vier Wänden bleiben können.

Der Sommer hat nochmal verlängert. Anfang Oktober sind die Außenbereiche der Restaurants in der beliebten Hafenstadt Odessa immer noch voll besetzt. Der Geruch des Meeres hängt in der Luft. Dankbar für einen Tag voller Besuche bei den Überlebenden gehe ich mit meiner ukrainischen Kollegin Alina zurück ins Hotel und ordne meine Sachen für den nächsten Tag: Adressen, Waffelherzen, Strickgeschenke. Endlich kann ich in Ruhe die Eindrücke des Tages verarbeiten. Da reißt mich die Sirene aus meinen Gedanken. Ein schriller Alarmton, zwei Minuten lang. Hier erinnert er uns fast täglich an die Realität des Krieges.

Doch heute sind es keine Shahed Drohnen, die massenweise Richtung Ukraine losgeschickt werden. Ein langgezogenes dumpfes Grollen, dann ein lauter Donner – die Rakete wurde in der Luft abgeschossen, Gott sei Dank. Dann die nächste. Die Einwohner sind schon an vieles „gewöhnt“, weil das Leben irgendwie weitergehen muss. Doch diesmal eile ich ins Kellergeschoss. Jedenfalls habe ich jetzt Zeit zum Schreiben.

Malen gegen die Angst

Galina hat nicht die Kraft aufzustehen, als wir ihr Wohnzimmer betreten. „Schaut mich an, wie ich aussehe“, ruft sie uns zu. „Das war im August, als sie das Einkaufszentrum in der Stadt bombardiert haben. Ich konnte nicht einschlafen und bin nachts in die Küche gegangen. Ich hatte die Fenster auf. Plötzlich der Einschlag. Die Druckwelle hat mich umgeworfen. Ich konnte nicht aufstehen. Irgendwann bin ich ins Wohnzimmer gekrochen und habe den Krankenwagen gerufen. Seitdem tut mir alles weh.“ Galina hat als Kleinkind schon einen Krieg erlebt, der ihr die Eltern und die Kindheit raubte. Sie wuchs bei ihrer Oma auf; ein großer Teil der Familie wurde ermordet. Die Wände ihres ärmlich eingerichteten Wohnzimmers hängen voller Bilder. „Die habe ich gemalt. Das lenkt mich ein wenig ab. Meine Enkelin kauft mir die Vorlagen und die Farben und dann male ich. Stundenlang. Das ist meine Therapie.“

Galina wurde bei einem russischen Raketenangriff von der Druckwelle zu Boden gerissen.

Wir machen jeden Tag so viele Besuche wie nur möglich – bei Wladimir, den ein Schlaganfall ans Bett gefesselt hat und der schon seit Wochen ständig fragt, ob wir heute kommen. Bei Fejga, die bald 100 wird; bei Rosalia, die aus Nikolajew hierher geflüchtet ist und weint, als sie erzählt, dass sie nie die Kraft hatte, die Überlebensgeschichte ihrer Mutter zu hören. „Eure Hilfe ist für uns etwas Übernatürliches“, ruft sie aus. „Dass ihr ausgerechnet jetzt gekommen seid und uns hier gefunden habt, das ist wie ein Wunder!“

Doppelt verfolgt

Gleich neben dem jüdischen Sozialwerk Chesed hat Roman Schwarzman sein Büro. Er hat als Fünfjähriger das Ghetto in seinem Heimatort Berschad überlebt und leitet den Verband der Holocaust-Überlebenden in Odessa. Stolz zeigt Roman auf ein gerahmtes Bild an der Wand. Es zeigt ihn mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar sprach er im Bundestag: „Ich habe ihnen gesagt: Hitler wollte mich damals umbringen, weil ich Jude bin; heute will mich Putin umbringen, weil ich Ukrainer bin!“ Er setzt sich unermüdlich für ein würdiges Holocaust-Gedenken in der Ukraine ein. Roman hat auch eine lange Liste von Überlebenden, mit denen er in Kontakt steht. „Wie viele Adressen wollt ihr haben?“ fragt er.

Roman Schwarzman, hier mit Anemone Rüger, hat das Ghetto Berschad überlebt und leitet den Verband der Holocaust-Überlebenden in Odessa.

„Ich habe nicht mal ein Foto von Papa“

Dionysia wohnt in einem typischen zweigeschossigen Haus aus der Vorrevolutionszeit, die Odessa so besonders machen: hohe Decken, verzierte Treppen, abgewetztes Parkett. Sie ist 93 und vor zwei Jahren erblindet. „Mein Papa, Meir, war Schneider“, beginnt sie ihre Geschichte. „Er hatte eine Singer-Nähmaschine. Er konnte fast kein Russisch. Zu Hause haben wir nur Jiddisch gesprochen.“ Als sie ein Jahr alt war, starb ihre Mutter; als sie elf war, marschierte die Wehrmacht ein.

„Sofort ging die Jagd auf die Juden los“, erzählt Dionysia. „Aber Papa hat gesagt: ‚Wieso soll ich mich verstecken? Ich habe niemandem etwas getan!‘“ Ein Genosse aus dem Komsomol verriet ihn. Zunächst hatte die SS kein Interesse an ihm. Doch die Henker kamen wieder – in Form der örtlichen Hilfspolizei. „Sie haben Papa auf die Kommandantur mitgenommen“, sagt Dionysia. „Am nächsten Tag wollte Papas Schwester ihm etwas zu Essen bringen. Da hat sie ihn am Fenster stehen sehen, blutig geschlagen. ‚Wir werden jetzt zur Erschießung gebracht‘, hat er zu ihr gesagt. Sie haben sie barfuß durch den Schnee getrieben und erschossen, einen nach dem anderen, Papa als letzten.“ Dionysia kann kaum reden vor Tränen, doch sie will ihre Geschichte teilen.

„Ich musste ins Waisenhaus. Bei meinen Papieren haben sie eingetragen: ‚Vater unbekannt‘. Am ersten Schultag ging die Lehrerin die Klassenliste durch. Jedes Kind wurde aufgerufen, aber mein Name stand nicht auf der Liste, und so durfte ich nicht mehr in die Schule gehen.“ Wieder wird Dionysia von einem Weinkrampf geschüttelt. „Nach dem Krieg kamen die Hungerjahre. Ich musste bei fremden Leuten in der Hauswirtschaft arbeiten. Ich habe nicht mal ein Foto von Papa, nur ein kleines Passbild.“ Dionysias tränenerfüllter Blick ist in die Ferne gerichtet. „Ich war ganz allein“, sagt sie noch einmal in einem mühevollen Versuch, ihren unbeschreiblichen Schmerz in Worte zu fassen. „Ich war immer fremd. Ich habe nirgends dazugehört. Ich wusste nicht einmal meinen Geburtstag.“ Meine Tränen mischen sich mit den ihren.

Endlich heimkommen

Später zog Dionysia nach Odessa. Es dauerte noch bis zum Ende der Sowjetunion, dass eine Wende in ihr Leben kam. „Erst als Chesed in Odessa gegründet wurde, hat das Leben für mich angefangen. Zum ersten Mal war ich willkommen! Plötzlich hatte ich eine Familie, eine jüdische! Als Roman mir zum ersten Mal zum Geburtstag gratuliert hat, habe ich geweint – es war, als hörte ich Papas Stimme!“

Es gibt Tschai, kandierte Orangenscheiben und die Schokoherzen, die wir mitgebracht haben. Und eine Wärmflasche, um Dionysia Herz und Seele zu wärmen. Jetzt lacht sie. Ein herrliches Geschenk bei den hohen, kalten Räumen, findet sie. Die Tageslosung aus Jesaja 30 scheint für Dionysia geschrieben: „Des Mondes Schein wird sein wie der Sonne Schein, und der Sonne Schein wird siebenmal heller sein, wenn der HERR den Schaden seines Volks verbinden und seine Wunden heilen wird.“

Geigenklänge und Piroschki für die Überlebenden

Laufen kann Viktoria nicht mehr. Aber Geige spielen! Sie hat am Konservatorium studiert und viele Jahre im sibirischen Irkutsk gearbeitet, wo man die Juden wegen ihrer Nationalität weniger schikanierte als anderswo. Ihr Mann ist längst verstorben, der Sohn ist an der Front. Heute spielt sie für uns. An die 40 jüdische Senioren haben wir eingeladen. Einige Gesichter erkenne ich sofort, andere sind neu hinzugekommen, zwei sind aus dem benachbarten Nikolajew geflohen. Viele sitzen schon, bevor wir fertig gedeckt haben: Obst und Piroschki, Saft und Süßigkeiten. An jedem Platz liegt eine Tafel israelische Schokolade.

40 Senioren aus dem Patenschaftsprogramm von Christen an der Seite Israels genießen bei gutem Essen und Musik einen Lichtblick in ihrem schweren Kriegsalltag.

Die Klänge von Viktorias Geige erheben sich über den vielen Lebensgeschichten, über diesem Babi-Yar Gedenktag, an dem vor 82 Jahren die Juden Kiews ermordet wurden. Hier sitzt Israil, dort Riweka, deren Vater seine ganze große Familie im Lodzer Ghetto verlor. „Großvaters Brüder waren damals gerade in Kiew zu Besuch“, erzählt mir Inga. „Plötzlich hieß es: Sachen packen und am nächsten Tag am Stadtrand erscheinen. Sie sind alle erschossen worden.“ Inga ist nach einem Herzinfarkt gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. Heute trägt sie ihr schönstes Kleid; sie wollte unbedingt mit dabei sein.

Es gibt Umarmungen, Worte und Tränen der Dankbarkeit. Als ich die Grüße aus Deutschland überbringe und erzähle, wie die Lebensgeschichte eines jeden zu einem konkreten Paten gelangt ist und dort wertgeschätzt wird, geht ein Raunen durch die Reihen; Taschentücher werden hervorgeholt. Es ist diesen Menschen so wundersam, dass sie für jemanden wichtig sind. Viele Überlebende und Nachkriegskinder warten noch auf einen Paten. Vielleicht auf Sie?

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 135. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

Mehr über unser Patenschaftsprogramm für Holocaust-Überlebende finden Sie hier.

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