Sechs Jahre alt war Zilia an jenem Junitag vor 83 Jahren, als ihre Kindheit endete. Am 22. Juni 1941 marschierten deutsche Soldaten in der Sowjetunion ein. Lange bevor sie russischen Boden betraten, überzogen sie das Baltikum, Weißrussland und die Ukraine mit Gewalt und Leid. Bis heute ist dieser Tag dort ein Gedenktag, der mit schmerzhaften Erinnerungen verbunden ist. CSI-Mitarbeiterin Anemone Rüger hat Zilia kürzlich in Winniza besucht.
Zilia ist sich nicht sicher, ob sie an diesem Maiwochenende Besuch haben will – Besuch von einer Deutschen. Wir kennen uns noch nicht, doch unser Ukraine-Team hat sie schon öfters besucht. „Keine Sorge, Anemone ist so eine wie wir, eine von uns“, beruhigt meine Kollegin Alina sie. Das funktioniert: Ich darf kommen. Mit Blumengesteck, frischen Erdbeeren und original israelischen Clementinen vom Markt mache ich mich auf den Weg.
Zilia wirkt viel zerbrechlicher, als ich sie auf dem Foto von Alina in Erinnerung habe, die ihr zu Chanukkah eine Kuschelwärmflasche mit einem Gruß von uns brachte. Doch sie ist eine hervorragende Erzählerin und mit den Blumen ist das Eis schnell gebrochen.
Aufgewachsen im Schtetl Tultschin
Aufgewachsen ist Zilia in Tultschin, einem ehemaligen jüdischen Schtetl etwa eine Autostunde von Winniza entfernt, wo vor dem Krieg mehr als 5600 Juden lebten. Tultschin ist unserem Team sehr vertraut: Bei jeder Begegnungsreise verbrachten wir einen Tag dort, um an Ort und Stelle die Berichte der Überlebenden ein Stück nachzuempfinden.
„Am Anfang hat niemand geglaubt, dass von so einem kultivierten Volk wie den Deutschen irgendeine Gefahr ausgehen könnte“, beginnt Zilia ihren biografischen Bericht. „Deshalb sind meine Eltern, Aron und Leja, mit uns zwei Mädchen erst im allerletzten Moment geflohen. Sie haben irgendeinen Pferdewagen angeheuert und sind mit uns Richtung Osten zum nächsten größeren Bahnhof aufgebrochen.“ Doch die vierköpfige Familie kam nicht weit. Im nächsten Dorf liefen sie schon der Wehrmacht in die Arme. Es half alles nichts – sie mussten zurück. Schon fielen die ersten Bomben.
„Ich war ja damals schon sechs und ich erinnere mich an vieles“, erzählt Zilia. „Ich sehe noch, wie die Kampfflieger im Tiefflug immer näherkamen, um ihre Bomben abzuwerfen. Wo sollten wir hin? Wir konnten nur ins Feld rennen. Mama hat sich über mich und meine kleine Schwester geworfen. Ich weiß noch, wie ich zu Mama gesagt habe: ‚Aber Mama, hier ist doch so viel Platz im Feld, warum musst du dich denn auf uns legen?‘ Ich habe das alles erst später verstanden.“
Aus dem eigenen Haus geworfen
So gelangte Zilia mit ihrer Familie unter großen Gefahren wieder dorthin, wo sie hergekommen waren. „Papa musste sich gleich verstecken, denn die Männer haben sie zuerst deportiert“, berichtet Zilia weiter. „Mama ist mit uns Mädchen in den Ort gelaufen. Es war schon Nacht, als wir an unserem Haus ankamen. Inzwischen war jemand bei uns eingezogen. Wir konnten nicht wissen, dass es jemand von der örtlichen Hilfspolizei war.
Wir haben geklopft, und Mama hat erklärt, dass wir eigentlich da wohnen. Sie hat nicht einmal gebeten, dass wir da übernachten können. Sie hat nur gefragt, ob sie schnell etwas von unseren Vorräten mitnehmen kann, damit sie für uns etwas zu Essen hat. Aber der Polizist hat sie wie ein Stück Dreck behandelt. Er hat sie angeschrien, dass sie sich davonmachen soll. Dann hat er sie mit seinem Stiefel so in den Bauch getreten, dass Mama von der Veranda gefallen ist. Ihr ganzes Leben hat sie daran gelitten. Mama hat angefangen zu weinen, wir auch. Irgendwo sind wir dann hin und haben die Nacht verbracht. Meine Eltern hatten viele Bekannte in der Stadt.“
„Nützlicher Jude“
Die meisten Juden aus Tultschin und Umgebung wurden unter deutscher Besatzung noch im Herbst 1941 ins Todeslager Petschora deportiert. Dieses Schicksal drohte auch Zilias Familie, wenn sie sich nicht irgendwie nützlich machen konnten. „Papa hat die Schuhfabrik geleitet. Sie haben ihn noch gebraucht, deshalb haben sie ihn am Leben gelassen“, so Zilia. „Mama hat auch sehr schwer gearbeitet. Wir sind alle zusammen ins Ghetto Tultschin gekommen. Dort haben wir auf engstem Raum zusammen gehaust. Es gab kaum etwas zu essen.
Eines Tages, das war schon 1943, haben sie Papa abgeholt. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht hat ihn jemand verleumdet. Auf jeden Fall haben sie ihn in den Gestapo-Keller gebracht. Sie haben ihn so zugerichtet, dass er am nächsten Tag nur noch ein paar Stunden gelebt hat. Dann ist er gestorben.“ Außer dem furchtbaren Schock hatte Zilias Mutter nun auch noch große Sorge, dass ihre Familie nach dem Tod ihres Mannes den Status als „nützliche Juden“ verloren hätte und ebenfalls deportiert würde.
Eine wahre Freundin in der Not
„Mama hatte eine Freundin auf dem Dorf, die ist heimlich jede Woche ins Ghetto gekommen und hat uns etwas zu essen gebracht“, berichtet Zilia weiter. „Irgendwie hat sich Mama mit ihr geeinigt, dass sie uns mitnimmt. Maria hieß sie. ‚Ich kann dir nicht versprechen, dass ich dich retten kann‘, hat sie zu Mama gesagt. ‚Aber die Mädchen nehme ich mit‘.
Dann war es so weit. Eines Nachts kam sie, um uns in Sicherheit zu bringen. Irgendwie hat sie die Wachen bestochen; ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat. Ich habe versucht, mich zusammenzureißen. Ich war ja die große Schwester. Aber meine kleine Schwester hat furchtbar geweint. Mama hat auch geweint. Dann hat uns Maria zu sich ins Dorf gebracht und versteckt.
Gerettet
Ich erinnere mich, wie sie zu mir gesagt hat: ‚Du heißt ab jetzt nicht mehr Zilia, sondern Lilia. Willst du leben? Dann präge es dir gut ein!‘ Dann hat sie jeder von uns ein Halskettchen mit einem Kreuz umgehängt. Ich habe zu ihr gesagt: ‚Tante Maria, so trägt man das doch nicht. Man trägt das Kreuz unter der Bluse, ganz nah am Herzen!‘ Aber sie hat mir erklärt, warum wir das Kreuz so tragen müssen, dass es alle sehen können. Es war unser Schutz.“
Noch einmal setzte Maria, eine unbekannte Gerechte in der dunkelsten Zeit der Geschichte, alles aufs Spiel. Diesmal war es noch gefährlicher, aber sie riskierte einen zweiten Versuch, um auch ihre Freundin freizubekommen. Die Flucht gelang. „Sie hat Mama erstmal bei einem Bekannten auf einem Pferdehof in einem anderen Ort versteckt“, erzählt Zilia. „Mama hat dort zwei Tage im Stroh gesessen. Jedes Mal, wenn jemand kam, um mit einer großen Mistgabel Stroh für die Pferde zu holen, hat sie die Luft angehalten.“
Dann kam der Moment, als Zilia und ihr Schwesterchen Inna die Mutter wiedersahen. „Es ist kaum zu beschreiben, wie glücklich wir waren, Mama wiederzuhaben. Ich weiß nur noch, dass wir etwas herrlich Leckeres zusammen gegessen haben.“
Maria schaffte es, ihre jüdische Freundin Leja und die Mädchen sicher durch die Wirren und Gefahren der letzten Monate deutscher Besatzung in der Region zu bringen. Die gesamte Familie von Zilias Vater Aron – mindestens 14 Personen – kam im Todeslager Petschora um.
Ein Denkmal für die Mutter
„Ich bin euch so dankbar, dass ihr euch um uns kümmert!“ sagt Zilia, deren braune Augen trotz allem Schmerz eine große Freundlichkeit ausstrahlen. „Ich freue mich immer, wenn mich jemand besuchen kommt.“ Dann erzählt sie weiter.
Später träumte Zilia davon, Journalistin zu werden. „Ich hatte in allen Fächern mit Auszeichnung abgeschlossen“, erinnert sie sich. „Aber als ich mich an der Universität einschreiben wollte, haben sie mich nicht zugelassen. Das waren die frühen 50er Jahre, die letzten Jahre unter Stalin, als es nochmal besonders schlimm wurde. Wahrscheinlich hat ihnen meine Nationalität nicht gefallen.“
Doch viele Jahre später kam Zilia doch noch zum Schreiben. Ihre Schwester hatte inzwischen Alijah gemacht und war nach Israel gegangen. Dort wurde Mitte der 1990er ein Wettbewerb ausgeschrieben. Gesucht wurden Geschichten über Mütter, die im Krieg ihre Kinder gerettet haben. „Es wurde ja viel – und zurecht – über die Opfer gesprochen, die im Holocaust umgekommen sind“, so Zilia. „Aber was es meine Mutter gekostet haben muss, uns beide am Leben zu erhalten! Sie hat alles für uns gegeben. Diese Geschichten müssen auch erzählt werden! Ich habe damals über Mama geschrieben. Ich bin so froh, dass ich ihr dieses Denkmal gesetzt habe.“
Zilia holt ein Heft, um sich meine Nummer aufzuschreiben. Es ist, wie ich sehe, ein besonderes Heft: Hier hat sie sich die Telefonnummern aller Holocaust-Überlebenden aus Winniza und Umgebung aufgeschrieben. Viele Namen sind schon durchgestrichen, auch die von Rita und deren Freundin Raja, die unseren Gruppen in Tultschin immer ihre dramatische Überlebensgeschichte erzählt haben. Doch um die 20 Personen gibt es noch in Winniza, die ähnlich Schlimmes wie Zilia erlebt haben und wir verabreden uns auf ein Wiedersehen.
Gerne können Sie unsere Arbeit mit Holocaust-Überlebenden und bedürftigen jüdischen Nachkriegskindern mit einer Spende unterstützen oder auch eine langfristige Patenschaft für eine konkrete Person übernehmen. Weitere Informationen finden Sie hier.