Zwischen Sowjetwohnung und Reisepass

Zwischen Sowjetwohnung und Reisepass

Die jüdische Gemeinde in Uman trifft sich nach wie vor in einer kleinen Wohnung aus Sowjetzeiten. Anemone Rüger (2.v.l.) hat die Senioren im Oktober dieses Jahres besucht. Foto: CSI

Während zehntausende Juden seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine das Land verlassen und in Israel eine neue Heimat gefunden haben, sind die meisten Vertreter der älteren Generation dageblieben. Viele von ihnen können aus gesundheitlichen Gründen ihre Wohnung kaum noch verlassen. Dass es Christen gibt, die ihnen mit Gebet und Tat zur Seite stehen, schenkt ihnen neue Hoffnung.

Es ist nachts um zwei. Ich wache vom gellenden Klang einer Sirene auf. Ist das jetzt live oder hat der Hotelnachbar seine Warn-App auf eine weiter östlich gelegene Stadt in der Ukraine eingestellt? Zum ersten Mal seit einem Jahr bin ich wieder hier. Wären da nicht die Panzersperren am Straßenrand, würde man in diesem goldenen Oktoberland keinen Krieg vermuten. Gott hat mir mit einem kleinen Team ein Zeitfenster und einen Fahrer geschenkt, um einige der vielen Bedürftigen aus unserem Patenschaftsprogramm zu besuchen, die dageblieben sind – und das sind die meisten. Wer zu Sowjetzeiten über seine Arbeitsstelle eine Wohnung vom Staat bekam und sein ganzes Leben darin verbracht hat, tut sich schwer, diese jetzt im Alter hinter sich zu lassen.

Wie eh und je sitzen die Senioren der jüdischen Gemeinde Uman an der karierten Plastiktischdecke im Erdgeschoss eines Wohnblocks, das als Treffpunkt dient. Die meisten von ihnen sind Holocaustüberlebende. Seit unserem letzten Besuch sind etliche verstorben; andere sind nachgerückt. Es gibt selbstgebackenen Honigkuchen und „Scharlottka“ – einen köstlichen Apfelkuchen. Wie dankbar sie sind, in dieser schweren Zeit um ihre christlichen Freunde zu wissen. An der Wand hängen Fotocollagen von unseren vielen Besuchen – vor Corona regelmäßig mit internationalen Reisegruppen. Dann machen wir uns auf den Weg, um die weniger mobilen Senioren zu besuchen.

Als wir, bepackt mit einer Lebensmitteltüte, bei Galina klingeln, führt sie uns ins Wohnzimmer und bricht sofort in Tränen aus. „Schaut euch das an, das hat mir mein Schwiegersohn von der Front geschickt. Das haben ihm Ehrenamtliche gebracht, und er schickt es mir, damit ich versorgt bin!“

Weinen mit den Weinenden

Vor der Schrankwand steht eine große Tüte mit Trockenmahlzeiten, daneben ein Paar Filzstiefel. Wolodja ist irgendwo im Osten der Ukraine im Einsatz. Er lag gerade zwei Wochen mit Gehirnerschütterung von einem Gefecht im Lazarett, dann musste er wieder an die Front. So viele Tränen. Es ist eine Zeit, mit den Weinenden zu weinen und Galina in den Arm zu nehmen, mit den Worten aus Psalm 91: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt, … der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg…“


Anemone Rüger überreicht Galina handgestrickte Socken aus Deutschland. Foto: CSI

Galina weiß, dass Menschen in Deutschland für sie beten und das teilen, was sie haben. Das tröstet sie. Besonders soll ich der Frau danken, die diese wunderbaren Socken für sie gestrickt hat. „Ich möchte das Ende des Krieges noch erleben“ „Ich gehe wieder von dieser Welt, wie ich in sie hineingekommen bin – mitten im Krieg“, sagt Lilia, die als Vierjährige mit ihrer jüdischen Großmutter ins Ghetto kam. Ihre ukrainische Mutter konnte sie später freikaufen und verstecken, die Großmutter wurde erschossen. Dann korrigiert sich Lilia. „Nein. Ich möchte das Ende des Krieges noch miterleben!“

Lilia freut sich über eine Tüte mit Lebensmitteln und Hygieneprodukten. Foto: CSI

Bevor wir uns verabschieden, nimmt Lilia ihren Krückstock und kämpft sich Stufe um Stufe die Treppe hinunter. „Ich habe so viel eingekocht. Himbeeren, Johannisbeeren, saure Gurken – ich möchte, dass ihr etwas mitnehmt!“ Es wird schon dunkel. Vor wenigen Stunden ist Koen, der Leiter unserer Ukraine-Arbeit, mit seinem Team und vielen hundert frisch gepackten Lebensmitteltüten Richtung Saporosche aufgebrochen – ins Auge des Sturms. Am Morgen war die Stadt schwer bombardiert worden. In der jüdischen Gemeinde warten nun die einen auf materielle Versorgung, die anderen auf einen Platz im Bus, der sie in Sicherheit bringt. 81 Angehörige der jüdischen Gemeinde werden in dieser Woche von unserem Team aus der brennenden Stadt evakuiert. Ständig kommen neue Anfragen. Rückkehr nach Zion – die Alijah, Trösten, Essenspakete, Zuhören und Umarmen sind Wege, auf denen das jüdische Volk Wiederherstellung erlebt. Helfen Sie mit?

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