Das Vaterunser – Christliches Gebet mit jüdischen Wurzeln (Teil 1)

Das Vaterunser – Christliches Gebet mit jüdischen Wurzeln (Teil 1)

Gefaltete Hände über einer Bibel
Auch wenn das Vaterunser das zentrale christliche Gebet ist, so ist es doch durch und durch jüdisch. Foto: Canva

Das Vaterunser ist das einzige Gebet, das Jesus Christus seine Jünger selbst gelehrt hat. In zwei Evangelien wird davon berichtet. Es ist das bekannteste Gebet der Christen und verbindet die Christenheit weltweit. Gleichzeitig ist es durch und durch jüdisch und eng mit anderen jüdischen Gebeten verwandt. In dieser Serie wollen wir die jüdischen Wurzeln des Vaterunsers näher beleuchten.

Von Kees de Vreugd, Übersetzung Marie-Louise Weissenböck

„Herr, lehre uns beten“, bittet einer der Jünger Jesus in einer bestimmten Situation: „Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte“ (Lukas 11,1). Diese Bitte passte für einen jüdischen Jünger in den Rahmen seiner Zeit. Der Jünger bezieht sich auf Johannes den Täufer, der selbst seine Jünger das Beten lehrte. Auch im jüdischen Talmud gibt es Lehrer, die ihren Schülern das Beten beibringen. Ein Beispiel ist Rabbi Elieser ben Hyrkanos (Ende des 1. Jahrhunderts), der ein kurzes Gebet lehrte: „Tue deinen Willen im Himmel oben und gib ein ruhiges Gemüt denen, die dich auf der Erde unten fürchten, und tue, was gut ist in deinen Augen, gesegnet seist du, Gott, der das Gebet hört.“

Jesus lehrt seine Jünger das Vaterunser (Matthäus 6 und Lukas 11). Es ist das vollkommene Gebet, das verständlicherweise und zu Recht durch die Jahrhunderte hindurch einen zentralen Platz in der Kirche eingenommen hat. Es taucht auch schon in einer der ältesten christlichen Schriften neben dem Neuen Testament auf, der Didache (die Lehre der Apostel, Ende 1. Jahrhundert).

Unser Vater im Himmel …
… dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
(Übersetzung nach Martin Luther aus Matthäus 6,9–13)

Auch wenn das Vaterunser das zentrale christliche Gebet ist, so ist es doch durch und durch jüdisch. In dieser Artikelserie wollen wir darauf besonders eingehen. Sowohl in der Struktur als auch im Thema ist es eng mit anderen jüdischen Gebeten verwandt. Die dreiteilige Struktur von Anbetung, Bitte und abschließendem Lob findet sich zum Beispiel auch im sogenannten Achtzehngebet, dem Gebet, das Juden täglich beten und das deshalb oft einfach Tefillah, Gebet, genannt wird, ohne weiteren Zusatz.

Es ist bemerkenswert, dass bei Lukas das abschließende Lob nicht vorkommt; auch in den alten Handschriften von Matthäus erscheint es nicht. In der Didache, der Matthäus sehr nahesteht, ist es jedoch vorhanden. Dies mag zeigen, dass es bereits im ersten Jahrhundert üblich war, es hinzuzufügen. Die Didache schreibt auch vor, das Vaterunser dreimal am Tag zu beten. Dies entspricht der damaligen und heutigen jüdischen Gebetspraxis, die sich wiederum auf den Gottesdienst im Tempel stützt. Dreimal am Tag wurden im Tempel die üblichen Opfer dargebracht, bei denen immer auch gebetet wurde. In diesem Sinne können wir auch die Aufforderung des Paulus verstehen, im Gebet auszuharren: nämlich im täglichen Gebet auszuharren.

Ein Vater im Himmel – „… der du bist im Himmel“

Jesus erinnert seine Jünger an die intimste Beziehung Gottes mit einem Volk, seine Beziehung zu Israel. Israel kennt Gott als Vater. So gab sich Gott zu erkennen, als Israel in Ägypten in Knechtschaft war: „Mein Sohn, mein Erstgeborener ist Israel.“ Gott selbst erinnert Israel daran: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“ (Hosea 11,1). Und in 5. Mose 14,1 sagt Mose zu Israel: „Ihr seid Söhne des Herrn, Gottes.“ Die Vaterschaft Gottes verweist auf seine Liebe zu seinem Volk, das er aus der Sklaverei befreit hat.

In jüdischen Gebeten wird Gott häufig als Vater angesprochen. Das war damals so und geschieht auch heute noch. Schon die frühen Rabbiner im Talmud lehrten, dass man sein Herz dem Vater im Himmel zuwenden soll. In jüdischen Gebeten taucht oft der Ausdruck „Unser Vater, unser König“ auf, wie zum Beispiel in den Gebeten zum Neujahrsfest Rosch HaSchana. In diesen Gebeten wird Gottes Liebe und seine Fürsorge für unsere Existenz bekundet. Gott ist ein Vater, der alle unsere Bedürfnisse kennt. Und um ein weiteres, ein zeitgenössisches Beispiel zu nennen: Das Gebet für den Staat Israel beginnt mit den Worten „Unser Vater im Himmel, Fels Israels und sein Befreier“.

Der Plural „die Himmel“ ist ein Semitismus. Das hebräische Wort für Himmel „Schamaim“ kommt nur im Plural vor. Der Himmel ist die Wohnstätte Gottes. In neutestamentlicher Zeit war er sogar zu einer Bezeichnung für Gott geworden, denn damals wie auch heute sprachen die Juden den Namen Gottes nicht aus. Deshalb spricht Matthäus immer vom Himmelreich, womit er nichts anderes meint als das Reich Gottes, die Herrschaft Gottes im Himmel und auf Erden.

Jesus lehrt uns zu beten: „Vater unser“. Als Beter ist man nie allein. Man betet gemeinsam mit anderen, auch wenn man in seinem eigenen Zimmer betet (siehe Matthäus 6,6). Gott ist der Vater Israels, wie wir bereits erfahren haben. Wenn Jesus dieses Gebet seine zwölf jüdischen Jünger lehrt, ist es auch in erster Linie ein Gebet Israels. Wenn wir also dieses Gebet beten, dann beten wir gemeinsam mit Israel, mit Bangen, mit Staunen und mit Dankbarkeit für seine Gnade.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 138. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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