„An keinem Ort wollte ich lieber sein” – Junge Christen helfen in Israel

„An keinem Ort wollte ich lieber sein” – Junge Christen helfen in Israel

Gruppenfoto bei Ananasfeld
Eine Gruppe junger Christen ist nach Israel gereist, um praktische Solidarität zu zeigen – hier nach getaner Arbeit auf einem Ananasfeld. Foto: privat

Statt eine entspannte Zeit in Deutschland zu verbringen, macht sich eine Gruppe junger Menschen auf den Weg nach Israel: Sie sind Teil einer von Junge Christen an der Seite Israels (JCSI) organisierten Helfer- und Solidaritätsreise nach Israel. Simon Schauer war als ehrenamtlicher Leiter von JCSI mit dabei.

Von Simon Schauer

Ich bin zum neunten Mal in Israel, aber das erste Mal seit dem 7. Oktober 2023. Daher bin ich gespannt, wie sich das Land verändert hat. Schon Jerusalem wirkt leer, es sind kaum Touristen da. Auch wir verfolgen keine touristischen Ziele. Wir sind mit JCSI als Helfer unterwegs, um unsere Solidarität mit Israel ganz praktisch zu zeigen. Und um richtig anzupacken: als Erntehelfer auf großen Farmen und als Gartenarbeiter in Kibbutzim in der Nähe des Gazastreifens. Diese Reise, die wir für uns Solidariut (סולידריות, hebräisch für Solidarität) genannt haben, wird zu einer echten Begegnungsreise mit unterschiedlichsten Menschen.

Langer Atem statt Katastrophentourismus

Eine von ihnen ist Merle, Islamwissenschaftlerin und Journalistin bei Israelnetz, die seit elf Jahren in Jerusalem lebt. Sie hat früh mit freigelassenen Geiseln gesprochen und hält Kontakt zu Soldaten, Angehörigen von Gefallenen und Hamas-Unterstützern. Somit kann sie uns tief in die Geschehnisse und Reaktionen mit hineinnehmen. Insbesondere die Berichterstattung der internationalen und deutschen Medien sind unser Thema. Denn was unter anderem in Tagesschau, Süddeutsche oder Spiegel erscheint, entspricht nicht unbedingt den Tatsachen vor Ort. Merle ermutigt uns, Botschafter zu sein: zu erzählen, wie wir Israel erlebt haben und die Geschichten und Begegnungen weiterzugeben.

Ich frage mich, wie das nachhaltig möglich sein kann. Denn ich erlebe Israel in einer komplett anderen Realität. Vor der Reise wurde ich oft stirnrunzelnd gefragt, ob es in Israel nicht viel zu gefährlich wäre. Und nun sitze ich an einem warmen Abend mit kühlem Bier auf der Dachterrasse eines Hostels mitten in Jerusalem. An keinem Ort wollte ich lieber sein. Was für eine Mammutaufgabe, dieses Gefühl, diese Wahrheit nach Deutschland zu transportieren. Ich halte es für wichtig und glaubensstärkend, das Heilige Land persönlich zu erleben und kann nur jedem Christen empfehlen, selbst einmal dort hinzureisen. Doch der Terror hat es geschafft, dass Christen diese Erfahrung verschieben oder ganz aufgeben.

Merle freut sich und bedankt sich sehr, dass wir gekommen sind. Als ich mich fast entschuldigen möchte, dass wir erst jetzt, nach sieben Monaten kommen, widerspricht sie mir entschieden: „Wir brauchen nun einen sehr langen Atem und keinen Katastrophentourismus.” 

Nicht nur Tropfen auf den heißen Stein

Zum Mittagessen am nächsten Tag treffen wir Dvir. Der 23-jährige hat im November als Soldat in Gaza einen Nackendurchschuss überlebt. Eine wunderreiche Geschichte, die der Reserve-Sanitäter auch in seinem Podcast „Heros of Israel 24“ erzählt. Er freut sich, dass wir gekommen sind und über das, was wir noch machen werden. Dvir erzählt uns, wie seine Vorfahren den Holocaust und die menschenverachtenden Experimente von Dr. Mengele überlebt haben. Was seine Familie in wenigen Generationen durchgemacht hat, ist kaum vorstellbar.

Als Deutscher berührt es mich besonders: Was hätte ich im Dritten Reich gemacht? Viel leichter lässt sich für mich die Frage beantworten: Was mache ich jetzt, während der größten jüdischen Katastrophe zu meinen Lebenszeiten? Zumindest jetzt, nach dem 7. Oktober, kann ich dem jüdischen Volk praktisch helfen, Blumen pflanzen und Hecken schneiden. Und gleichzeitig wirkt es in Anbetracht all des unerträglichen Leids wie ein Tropfen auf den heißen Stein.

Doch dann schaue ich wieder Dvir an, sehe die Narbe des Kugeleintritts an seinem Hals und sehe in seine Augen. Diese sind freundlich und gefestigt. Obwohl sie so viel Schreckliches gesehen haben, blicken sie dennoch freudig in die Zukunft. Nein, wir sind hier kein Tropfen auf den heißen Stein. Denn die Menschen in Israel erleben mit unserer Präsenz, dass sie noch Freunde haben in der Welt.

Simon Schauer reißt verblühte Pflanzen aus
Es ist viel Arbeit liegengeblieben, da die Arbeiter kriegsbedingt fehlen. Simon Schauer hilft, abgeerntete Tomatenpflanzen auszureißen. Foto: privat

Jung, aus Deutschland und dann auch noch Christen

Am nächsten Tag treffen wir beim Basilikum-Ernten einen pensionierten Niederländer. Wir kommen ins Gespräch und er erzählt, dass er jüdisch ist. Er ist überrascht: Dass wir so jung sind, aus Deutschland kommen und dann auch noch Christen sind. Das freut ihn sehr, denn in den Niederlanden kann er seine Davidsternkette nicht mehr offen tragen. Zu groß sei der Antisemitismus seit dem 7. Oktober geworden. Aber jetzt in Israel braucht er sie nicht zu verstecken. Er braucht sich nicht zu verstecken, er kann ganz frei sein.

In der Kaffeepause erzählt er uns, dass alle seine Großeltern den Holocaust überlebt haben. Die einen flohen 1933 aus Berlin in die Niederlande und dann 1942 in die Schweiz. Die anderen flohen aus Polen. Ich bin bedrückt: wieder ein Nachfahre von Holocaust-Überlebenden. Ich denke darüber nach, dass rein theoretisch meine Urgroßeltern versucht haben könnten, seine Großeltern zu töten. Dann knien wir beide wieder im israelischen Wüstensand und ernten Basilikum. Dieser Wechsel aus totalem Schrecken und profanem Alltag zieht sich durch unsere gesamte Reise.

Leben mit der neuen Realität

Für den Nachmittag des darauffolgenden Tages verabreden wir uns mit dem 21-jährigen Rotem. Er ist ein Sohn der Farmer, für die wir am Vormittag Ananaspflanzen vorbereitet haben und nimmt uns auf seinem Jeep mit in die Wüste, nahe der Grenzen zu Ägypten. Von der Anhöhe aus können wir gut ins Nachbarland blicken. Er trägt sein Maschinengewehr umgehängt. Er ist fröhlich, erzählt viel und wirkt nachdenklich, wenn er an die bevorstehende Zeit denkt. Unter der Woche ist Rotem Kommandeur von jungen Rekruten und am Wochenende hilft er auf der Farm seiner Eltern, die unter dem Mangel an Erntehelfern leidet. In wenigen Wochen muss er wieder zum Einsatz in den Gazastreifen. Diesmal mit einer Gruppe Soldaten, die frisch aus ihrer Grundausbildung kommen.

Rotems Freundin ist auch dabei und erzählt uns, dass sie am Morgen des 7. Oktober eigentlich geplant hatte, auf das Nova Festival zu gehen. Wäre sie schon am Vorabend hingefahren, hätte sie es vielleicht nicht überlebt. Viele ihrer Freunde waren dort – und einige wurden von den Hamas-Terroristen ermordet.

„Ihr seid unsere Stiefschwestern und -brüder“

Am Abend verabschieden wir uns von Tomer und Romi, unseren israelischen Ansprechpartnern. Die beiden 18-Jährigen leisten gerade in Nitzana ihr „Freiwilliges soziales Jahr“ zwischen Abitur und Armeedienst. Sie freuen sich, dass wir uns so für Israel einsetzen, obwohl wir keine Juden sind. Dass wir nach Israel kommen und in der Wüstenhitze beim Ernten helfen, obwohl wir in Deutschland eine schöne Zeit haben könnten, ist für sie etwas ganz Besonderes. Zum Abschied beteuern sie uns, dass wir für sie Israelis geworden sind. „Ihr seid unsere Stiefschwestern und -brüder“, betont Tomer.

Es sind diese Momente, in denen mir wieder klar wird, warum wir das alles machen. Es geht nicht darum, wie viel Basilikum wir ernten. Sondern es geht darum, solidarisch zu sein und in schwierigen Zeiten an der Seite unserer jüdischen Geschwister zu stehen.

Ein wehrhafter Kibbutz inmitten des Mordens

Am nächsten Tag fahren wir zum Kibbutz Mefalsim, welcher zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt liegt. Am Eingangstor erkennen wir Einschusslöcher vom 7. Oktober in der Hausfassade. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, ein Hahn kräht viel zu oft. Hin und wieder hört man einen Helikopter. Wir pflanzen Blumen. Ein Auto hält an und der Fahrer fragt, woher wir kommen. „Aus Deutschland … und wir sind Christen.“ Der Mann kann es kaum glauben und ist so beeindruckt, dass er unbedingt ein Foto von uns machen möchte, bevor er weiterfährt.

Wenn uns die wenigen Kibbutzmitglieder sehen, die inzwischen zurückgekehrt sind, dann lächeln sie uns an. Sie freuen sich, dass wir da sind. Ein junger Mann bringt uns Wasser und bedankt sich. Es sind erst wenige zurückgekommen, die meisten Familien sind noch evakuiert. Da bleibt die Gartenpflege liegen, um die wir uns jetzt kümmern.

Gruppenselfie der Helfer
Immer wieder machen Israelis Fotos von den jungen Deutschen, die aus Deutschland zum Helfen gekommen sind (vorne rechts: Simon Schauer). Foto: privat

Der Kibbutz wurde am 7. Oktober angegriffen, doch die Terroristen konnten nicht eindringen, so dass niemand getötet wurde. Die Bewohner hatten ihre Waffen zuhause und konnten sich verteidigen. Sie stiegen auf ihre Hausdächer und schossen über den Kibbutzzaun hinaus auf die Terroristen, während sie gleichzeitig die fliehenden Teilnehmer des Nova-Festivals über ihren Zaun und in die Sicherheit ihrer Häuser brachten. Ein Gärtner erzählt uns, dass trotz der vielen Rettungsaktionen am Tag nach dem Massaker die Umgebung von Mefalsim mit Leichen bedeckt war – von Nova-Teilnehmern, die es nicht geschafft haben.

Das Grauen des Nova-Festivals

Am Nachmittag fahren wir selbst zum Nova-Festival-Gelände. Hier und in der Umgebung wurden am 7. Oktober 364 Menschen abgeschlachtet, verbrannt, vergewaltigt und erschossen. 40 der rund 4000 Teilnehmer wurden als Geiseln in den Gazastreifen entführt.

Es ist der bedrückendste Moment unserer Reise. Es fühlt sich an, als liefe man durch eine KZ-Gedenkstätte. Nur dieses Mal ist es keine 80 Jahre her – sondern gerade mal sieben Monate. Der Kloß im Hals wird riesig. Der Schmerz des Ortes ist zum Greifen nahe. Meine Tränen fließen, obwohl ich hier niemanden gekannt habe. Dieses abscheuliche Massaker lässt niemanden kalt. An 364 Pfosten hängen die Fotos der Ermordeten, umweht von Israel-Flaggen und ergänzt durch persönliche Gegenstände oder Briefe. Warum? Warum wurden hier 4000 feiernde junge Leute überfallen? Wohl einfach deshalb, weil sie Juden sind. Letztendlich ist das der Grund. Vielleicht ist es der Schmerz Gottes, den ich hier spüre, der mich so niederschmetternd traurig macht.

Wir fahren mehrmals die Straße 232 entlang, welche am 7. Oktober von Terroristen besetzt worden war. Ortsschilder wie Re’im, Be’eri, Alumim, Nahal Oz und Kfar Azza ziehen an uns vorbei. Ein mulmiges Gefühl. Jeder dieser Namen steht nach jenem Schwarzen Schabbat für vielfaches unfassbares Grauen. Wir fahren an Bushaltestellen mit Schutzbunkern vorbei, in welchen noch immer die Einschusslöcher zu sehen sind. In der Ferne hören wir das Donnern der israelischen Artillerie in Gaza.

Raketenalarme als ständige Begleiter

Der Gedanke an einen plötzlichen Raketenalarm ist unser ständiger Begleiter. Als Fahrer habe ich immer das Autofenster ein Stück offen, um die Sirenen hören und im Notfall sofort anhalten zu können. Dann gälte es schnell auszusteigen, sich flach auf den Boden zu legen und zehn Minuten lang den Kopf mit den Händen zu schützen. Unsere Raketen-Alarm-App meldet uns plötzlich einen Alarm in Tel Aviv. Später erfahren wir, dass die Raketen aus Rafah im Gazastreifen abgeschossen wurden, also parallel zu uns geflogen sind. Eingeschlagen sind sie nicht, dank Israels ausgeklügeltem Abwehrsystem, dass sie in der Luft abfing. In unserer direkten Umgebung blieb alles ruhig.

Wenn ich gefragt werde, warum ich mich in diese „Gefahr“ begebe, entgegne ich: Als Freund Israels bin ich nicht nur da, wenn die Sonne scheint und das Bier am Strand schmeckt. Sondern auch in den schweren Zeiten. Das ist Freundschaft. Das ist Solidarität.

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