Auch im ukrainischen Czernowitz ist die erste biografische Information, die ich über einen unserer Hilfebedürftigen im Patenschaftsprogramm bekomme, nicht immer die ganze Geschichte. Von Besuch zu Besuch wächst Vertrauen. Manchmal kommen plötzlich neue, erschütternde Fragmente zum Vorschein, die ein ganz anderes Licht auf die Person werfen. Am schönsten ist es, wenn Gott die Biografie noch ein Stück weiterschreibt.
Emma und ihr Bruder Boris sind schon eine Weile bei uns im Programm. Gleich zu Beginn wurde uns gesagt, dass Emma für ihren Bruder sprechen müsse – er leide an Schizophrenie und sei kaum auskunftsfähig. „Boris absolvierte ein medizinisches Institut und wurde als Arzt der BAM (Bau der Baikal-Amur-Magistrale in Sibirien) zugeteilt. Dort erkrankte er an Schizophrenie und erhielt einen Invaliden-Status.“ Soweit die offizielle Version im unverfänglichen Sowjet-Sprech. Die Labels „Invalide“ und „Schizophrenie“ wurden in der Sowjetunion schnell vergeben. Hierzulande wäre eine Therapie der logische nächste Schritt nach der Diagnose gewesen. Aber in einem Land, in dem man bei einem Bauprojekt an Schizophrenie „erkranken“ kann, kommt natürlich niemand auf die Idee einer Therapie. Ich habe jedenfalls gelernt, bei solchen Beschreibungen nachzuhaken.
Im Häuslein der Eltern, das Boris in der Synagogenstraße bewohnt, hängt im hintersten Zimmer ein Gemälde, das ihn auf dem Höhepunkt seiner kurzen Karriere zeigt – als Militärarzt in Uniform. Schon bei unserer ersten Begegnung war ein Funke von Verstehen übergesprungen und auch jetzt macht Boris keinen besonders schizophrenen Eindruck. Er freut sich über jedes Stück, dass ich aus unserer bunten Einkaufstüte zutage fördere: das Challah-Brot, den Napoleon-Kuchen, die gezuckerte Kondensmilch (immer ein Renner), die Rindfleischdose, das Duschgel. Am Ende küsst er dankbar meine Hand.
„Nur Mama und Oma haben überlebt“
„Haben wir euch das Portrait von unserer Mutter gezeigt?“ fragt Emma. „Riva hieß sie. Sie war eine wunderschöne Frau. Hier, schaut euch das Portrait an. Die Nazis haben sie ins Ghetto getrieben, mit Großmutter. Drei Lager haben sie überlebt. Mamas kleiner Bruder musste den toten Juden die Goldzähne ausschlagen, diese ordentlich putzen und den Wachen bringen. Am Ende waren sie in Berschad. Nur Mama und Oma haben überlebt.“
Nach dem Krieg wurde Riva mit den Flüchtlingsströmen der Überlebenden ins relativ unversehrte Czernowitz gespült. Hier lernte sie Dschafar Ali kennen, der, wie ich in der aktuellen Version der Erzählung erfahre, kein Krimtatar war, sondern zur zeitweise islamisierten jüdischen Volksgruppe der Karaim auf der Krim gehörte. „Seine ganze Familie war im Krieg ermordet worden“, erzählt Emma. „Papa und Mama haben sich hier in Czernowitz kennengelernt. Es war eine große Liebe. Sie waren bitterarm, aber sie waren 67 Jahre zusammen.“
Er möchte uns noch etwas auf dem Keyboard vorspielen, wenn wir so viel Zeit haben, sagt Boris. Wir haben Zeit, und Boris spielt. Die improvisierten Akkorde helfen seiner Seele, Luft zu bekommen.
Trauma in Sibirien
„Boris ist der Jüngste von uns drei Geschwistern“, erzählt mir Emma und nimmt mich ein bisschen zur Seite. „Er war Mamas Lieblingskind. Er war Militärarzt. Sie haben ihn zur Baikal-Amur-Magistrale nach Sibirien geschickt. Die Arbeitsbedingungen dort waren katastrophal – die Leute waren am Verhungern und Erfrieren. Und Boris war für ihre Gesundheit verantwortlich. Einer der jungen Soldaten, die ihm anvertraut waren, hat sich erschossen. Das hat Boris nicht verkraftet. Unser großer Bruder musste ihn zurückholen. Seitdem hat er Invalidenstatus.
Seine Frau hat ihn verlassen damals. Er hat bis zu Mamas Tod bei ihr gelebt. Mama hat mich auf dem Sterbebett gebeten, dass ich mich um ihn kümmere – dass er sauber angezogen ist und etwas zu essen hat. Viel habe ich auch nicht, aber ich tue, was ich kann; ich tue es für sie.“
Einen kurzen Moment habe ich am Schluss noch mit Boris. Ich kann ihm sagen, dass er einen Berufskollegen hat im Himmel. Dass der Gott Israels auch Arzt ist – für sein Volk. Dass er versprochen hat, alle Tränen seines Volkes abzuwischen, und dass er auch sein – Boris‘ – zerbrochenes Herz heilen wird.
So, wie Boris mich zum Abschied umarmt, weiß ich, dass er mich sehr gut verstanden hat. Und dass der Herr, der Trost Israels, wieder etwas getan hat, was kein Mensch bewirken kann; was ich nur erbitten kann und weswegen ich mich immer wieder auf den Weg mache.
Gern können Sie einen Holocaust-Überlebenden erster oder zweiter Generation in der Ukraine auf Ihr Herz nehmen und mit einer Patenschaft unterstützen. Auch Einmalspenden sind willkommen. Unsere Mitarbeiter kümmern sich darum, dass die Hilfe ankommt und die Botschaft der Liebe aus Deutschland bei persönlichen Besuchen übermittelt wird. Mehr Informationen finden Sie hier.
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 137. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.