Der „Schwarze Schabbat“: So haben Israelis den Hamas-Terror erlebt

Der „Schwarze Schabbat“: So haben Israelis den Hamas-Terror erlebt

Sie waren zum Zeitpunkt des Massakers in Deutschland: Nurik und Inbal. Alle Fotos: privat

Von Delly Hezel und Markus Neumann

Seit dem 7. Oktober befindet sich Israel im Ausnahmezustand – das Ausmaß des brutalen Hamas-Terrors ist mit nichts zu vergleichen, was der jüdische Staat je erlebt hat. Mindestens 1200 Juden wurden niedergemetzelt, verbrannt, vergewaltigt, entführt – weil sie Juden sind. 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg erlebt Israel ein neues Trauma.

CSI-Mitarbeiterin Delly Hezel hat mit Juden gesprochen, die den Terror überlebt haben. Zum Zeitpunkt des Massakers waren zudem Israelis zu Besuch im Schwarzwald. Markus Neumann, Vorstandsmitglied von Christen an der Seite Israels Deutschland, hat mit ihnen bange Stunden der Ungewissheit verbracht.

Yafa und Arik: 40 Stunden Bangen und Zittern im Schutzraum

Von Delly Hezel

Am 16. Oktober, knapp eine Woche nach dem Überfall der Hamas auf Israel, traf ich mich mit Yafa und Arik in Jerusalem. Auch wenn sie glimpflich davongekommen sind, erlebten sie Schreckliches im Moschav Sdei Avraham, ganz südlich am Gazastreifen gelegen. 40 Stunden lang waren die beiden in ihrem Schutzraum – ohne Strom, ohne Wasser und ohne jegliche Verbindung nach außen, weil unzählige Raketen abgeschossen wurden und Zerstörung herrschte. Sie wussten nur, dass Terroristen ins Land eingedrungen waren und dass sie im Schutzraum warten mussten. Anfangs hielten sie noch sporadisch mit der Außenwelt Kontakt, aber irgendwann waren die Akkus ihrer Handys leer. Die Ungewissheit, was kommen würde, und ob sie überleben würden, war schrecklich für sie.

Nach 40 Stunden entschieden sie sich, den Schutzraum zu verlassen, weil sie es nicht mehr länger aushalten konnten. Sie nahmen direkt Kontakt mit einem Sicherheitsmann von Sde Avraham auf, der ihnen mitteilte, dass es einen befristeten Korridor geben würde, in dem die israelische Armee die Leute aus dem Moschav herauslassen würde. Es musste alles ganz schnell gehen, deshalb packten sie nur eine kleine Tasche und schlossen sich den anderen an, die durch den Korridor flüchteten. Mit dem Auto fuhren sie durch Felder und über Ofakim in Richtung Norden. In Ofakim angekommen, konnten Yafa und Arik erstmals durchatmen.

Freund oder Feind?

Es war furchtbar für sie nicht zu wissen, wer überlebt hatte, wo sich noch jemand versteckt hielt und wem sie trauen konnten, weil die Terroristen auch Uniformen der israelischen Armee trugen. Es war daher fast unmöglich, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Elf Schulkolleginnen von Yafa wurden umgebracht. Und sie kennt einige der Schüler und Schülerinnen, die als Geiseln in Gaza sind, darunter viele Mädchen.

Sie berichten von bangen Stunden: Yafa (l.) und Ehemann Arik mit Delly Hezel.

Nun wohnen Yafa und Arik mit ihren zwei Hunden für kurze Zeit bei Bekannten im Norden. Sie sind unglaublich dankbar, dass sie und ihre Kinder, die in die Armee eingezogen wurden, noch am Leben sind. Das sei die Hauptsache, wie sie mir erzählten – egal, ob ihr Haus noch steht oder nicht, was sie zum Zeitpunkt unseres Gesprächs noch nicht wussten.

Nurik und Inbal: Eine deutsch-israelische Perspektive

Von Markus Neumann

In der ersten Oktoberwoche war mein langjähriger Freund Nurik mit seiner Freundin Inbal bei mir im Schwarzwald zu Besuch. Nurik hatte eine besondere Überraschung geplant: Er machte Inbal einen Heiratsantrag! Zwei Tage später, am 6. Oktober, starteten wir unsere für drei Tage geplante Tour durch Süddeutschland. Es ging Richtung Bodensee und auf die Insel Mainau, es herrschte fast schon Flitterwochen-Stimmung. Doch am nächsten Morgen wurde schlagartig alles anders, die folgenden Stunden und Tage sollten zum Albtraum werden. Nurik und Inbal mussten das Massaker der Terroristen aus Gaza, deren Einfall in den Kibbutz Nir Yitzhak, in dem Nuriks Eltern, sein Bruder und seine Schwester mit zwei Kindern wohnen, aus der Entfernung miterleben und um das Überleben von Familie und Freunden bangen – komplett im Schock über das Unvorstellbare.

Schon früh am Morgen des 7. Oktober war Nurik telefonisch mit seinen Familienmitgliedern im Kibbutz in Verbindung. Diese waren aufgefordert worden, in ihre Schutzbunker zu gehen, weil Terroristen eingedrungen waren und der Kibbutz heftigem Raketenbeschuss ausgesetzt war.

Nuriks Bruder Ofek entschied sich, den Patrouillendienst zu übernehmen und schickte noch ein Bild an seine Familie, welches vorerst das letzte Lebenszeichen von ihm sein würde. Seine Schwester war mit ihren zwei Kindern allein zu Hause, weshalb sich Nuriks Vater in Absprache mit seiner Frau entschied, zu ihr zu gehen. Sie schickte ihn zurück mit den Worten: „Wir sind okay, geh zurück zu Mama, sie braucht dich mehr.“ Auf dem Rückweg schlugen jedoch so viele Raketen im Kibbutz ein, dass Nuriks Vater im Haus seines Sohnes Ofek im Schutzbunker Zuflucht suchen musste. Dort steckte er nun fest, da mittlerweile zu viele Terroristen in den Kibbutz eingedrungen waren. Er konnte mit seiner Frau noch Kontakt halten, aber von Ofek hörte niemand mehr etwas.

Banges Warten

Stunden um Stunden vergingen; die Ungewissheit, die Einsicht, nichts tun zu können, zermürbte. Es war nahezu unerträglich. Konnte sich Ofek nicht melden, weil er dann geortet werden würde und es daher zu gefährlich war? Oder war es schlimmer? Würde Nuriks Mutter stark genug sein, von innen die Tür zum Schutzbunker zuzuhalten, sollten Terroristen von außen versuchen gewaltsam einzudringen? Würden die Terroristen, wie mittlerweile aus anderen Kibbutzim bekannt, die Häuser in Brand setzen? Hinzu kam, dass die Stromanlagen zerstört wurden, seine Familie befand sich also im Dunkeln.

Das furchtbare Bangen um Leben und Tod war begleitet von der unglaublich hohen Anspannung durch das permanente Lesen der Nachrichten. Im arabischen Fernsehen sahen wir die ersten Videos: Menschen, die umgebracht und geschändet wurden. Purer Horror … Quälende Stunden vergingen bis dann endlich am frühen Abend israelische Soldaten zur Unterstützung kamen. Nach und nach wurden die Überlebenden aus ihren Schutzbunkern befreit. Von Ofek war immer noch nichts zu hören, er galt am Abend neben drei Toten als einer von sechs Vermissten im Kibbutz.

Schmerzvoller Abschied

Wir waren mittlerweile in unserer Unterkunft in Bad Tölz angekommen. Nurik und Inbal beschlossen, schnellstmöglich nach Israel zur Familie zu fliegen. Sie versuchten erfolglos, über die israelische Airline El Al an Tickets zu gelangen. Unsere Freunde von Scuba Reisen konnten ihnen helfen, einen Flug für den Sonntagmorgen von München aus zu buchen. Als ich sie früh morgens zum Flughafen bringen wollte, erfuhr ich dann, dass Ofek in der Nacht tot im Kibbutz aufgefunden worden war. Sein Foto vom Tag zuvor war also tatsächlich das letzte Lebenszeichen gewesen. Ich konnte Nurik nur noch in den Arm nehmen, es zerriss uns das Herz. Der Abschied am Flughafen war wortkarg, intensiv, unwirklich, schmerzvoll und voller Verbundenheit – würden wir uns wiedersehen?

Alle Bewohner des Kibbutz Nir Yizhak wurden evakuiert, genau wie alle anderen im gesamten Gebiet um den Gazastreifen. Die Familien hatten keine Zeit, irgendetwas zu verarbeiten. Für Nuriks Familie gab es keine Zeit, Ofek zu beerdigen, keine Zeit die Trauerzeit zu organisieren. Die Eltern wie die Schwester mit ihren Kindern sind selbst traumatisiert. Wie soll alles weitergehen, wann können sie zurück in ihre Heimat, sind sie überhaupt in der Lage, dort wieder zu wohnen, den Ort des größten realen Albtraumes jemals wieder zu betreten? Das ist nur eine Geschichte von hunderten, tausenden vielleicht. Ein Erlebnis eines Christen an der Seite zweier Israelis.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 135. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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