Deutschland debattiert Zukunft der UNRWA

Deutschland debattiert Zukunft der UNRWA

UNRWA
Alternativlos oder ersetzbar? Deutschlands Politiker und Medien debattieren über die Zukunft der UNRWA. Foto: David Scaduto, Flickr | CC BY-NC-SA 4.0 Deed

Deutsche Politiker und Medien fordern zunehmend die Auflösung des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge. Die FDP hat bereits einen entsprechenden Beschluss gefasst. Unterdessen geben sich die zuständigen Minister reserviert.

Die israelischen Enthüllungen über die Verstrickung von Mitarbeitern des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) in das Hamas-Massaker vom 7. Oktober haben auch in Deutschland eine Debatte über die Zukunft der Einrichtung ausgelöst. Mittlerweile fordern mehrere Bundespolitiker, die UNRWA mindestens mittelfristig abzuwickeln.

Die FDP hatte bereits am Samstag auf ihrem Europaparteitag einen entsprechenden Antrag angenommen. In ihrem Wahlprogramm für die anstehenden EU-Wahlen fordern die Liberalen nun ganz offiziell, die Aufgaben der UNRWA in „bewährten Strukturen“ wie dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR „aufgehen“ zu lassen. Bis dahin sollten Zahlungen „nur in enger Abstimmung mit Israel und den USA“ wiederaufgenommen werden.

Unions- und AfD-Politiker fordern Auflösung

Auch Teile der Union sprechen sich deutlich gegen eine Zukunft für die UNRWA aus. Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, erklärte, die UNRWA sei „Teil des Problems“ und gehöre aufgelöst. Sein Fraktionskollege Michael Brand ergänzte am Mittwoch in der Haushaltsdebatte des Bundestages, die Organisation sei „von der Spitze abwärts deutlich anti-israelisch, auch antisemitisch, und gefangen im Dunst der Hamas“. Unter der CDU-Kanzlerschaft Angela Merkels hatten sich die deutschen Zahlungen nach UNRWA-Angaben zwischen 2006 und 2020 mehr als verfünfundzwanzigfacht.

Der Sprecher der AfD für Menschenrechte, Jürgen Braun, forderte von der Bundesregierung ebenfalls, für die Auflösung des Palästinenserhilfswerks einzutreten: „Für Palästinenser müssen dieselben Regeln gelten wie für alle anderen.“ Er verwies darauf, dass mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bereits eine Organisation zur Betreuung von Flüchtlingen weltweit existiert.

Entwicklungsministerin: „Kurzfristig ist da gar nichts zu machen“

Zurückhaltender ist die linke Seite des Bundestages. Kathrin Vogler von der Linken sagte am Mittwoch im Parlament, sie halte es für falsch, „diese ganze Organisation in Kollektivhaftung zu nehmen für die Vergehen von einzelnen Mitarbeitern“.

Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, erklärte, die Arbeit der UNRWA sei „unverzichtbar und unersetzbar“. Sein Fraktionskollege Frank Schwabe ergänzte, man könne darüber diskutieren, „wie es in Zukunft mit UNRWA weitergeht“. Aktuell gebe es aber keine Alternative: „Wir würden doch Hunderttausende von Menschen in den Hungertod treiben.“

Das Auswärtige Amt und das Entwicklungshilfeministerium hatten am Wochenende lediglich erklärt, dass Deutschland „temporär“ keine neuen Zusagen für die UNRWA bewilligen werde. Zugleich betonten sie aber, derzeit stünden „ohnehin“ keine Zahlungen an. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) verwies am Mittwoch im Bundestag darauf, dass die UNRWA derzeit „fast der alleinige“ Versorger in Gaza sei. Sie forderte von dem UN-Werk, eine unabhängige Untersuchung durchführen zu lassen.

Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze (SPD) hatte bereits zuvor in der Sendung „ntv Frühstart“ gesagt, die UNRWA habe „wirklich ein Problem“. Sie müsse die Vorwürfe aufarbeiten. Das Flüchtlingswerk sei aber auch die Organisation, die derzeit Hilfe vor Ort leiste: „Kurzfristig ist das gar nichts zu machen.“ Sie könne sich nicht vorstellen, „dass wir bei dem Leid und der Not, die da gerade in der Region ist, nicht mehr unterstützen“.

„Zögern dürfte Menschenleben gekostet haben“

Auch in der Presse wird die Diskussion breit geführt. Sebastian Leber vom „Tagesspiegel“ forderte die Auflösung nach Ende des Krieges. Das einzig Unmenschliche am jetzigen Zahlungsstopp sei, „dass er um Jahre zu spät kommt“. Dieses Zögern „dürfte Menschenleben gekostet haben“.

Auch Felix Rupprecht von der „Bild“ kommentierte, es sei am besten, die Auflösung der UNRWA zu fordern: „Sonst ist das deutsche ,Nie wieder‘-Versprechen nur eine leere Floskel.“

Diese historische Dimension machte auch Jörg Quoos in der „Berliner Morgenpost“ auf: „Die Vorstellung ist unerträglich, dass von deutschem Steuergeld finanzierte UN-Mitarbeiter Mitschuld haben könnten am schlimmsten Angriff auf jüdische Zivilisten seit dem Holocaust.“ Fall sich die Verwicklungen der UNRWA in Terror als größeres Problem erwiesen, müsse die Bundesregierung „Hilfe umschichten und über zuverlässige Organisationen ihr Engagement erhöhen“.

„Kollektivbestrafung aller Palästinenser“

Die Forderungen kämen zur falschen Zeit, meinte dagegen Felix Dachsel für den „Spiegel“. Die Arbeit der UNRWA sei „gegenwärtig noch alternativlos“. Er fordert dafür den Rücktritt von António Guterres. Dieser pflege nämlich „einen taktischen Umgang mit der Wahrheit“, wenn es um Israel gehe. Für die „Süddeutsche Zeitung“ kritisierte Bernd Dörries, die Aussetzung von Zahlungen an die UNRWA sei „in erster Linie eine erneute Kollektivbestrafung aller Palästinenser“.

In der „Frankfurter Rundschau“ identifizierte Maria Sterkl „ein zynisches Spiel“ auf dem Rücken der Palästinenser: Deutschland stoppe seine Hilfe, wenn ein Skandal ans Licht komme, um sie dann wieder in Gang zu setzen, wenn es ein neues Aufregerthema gebe.

Die Frage, „wie ernst es die Bundesregierung meint“ mit ihrem vorübergehenden Zahlungsstopp, warf Caroline Turzer in der „Welt“ auf: „Geld, das gerade ohnehin nicht geflossen wäre, einzufrieren, ist kein entschiedenes Signal.“ Die Mechanismen in der Entwicklungshilfe müssten „grundlegend“ hinterfragt werden.

Ein Schlaglicht auf den Schweizer UNRWA-Leiter Philippe Lazzarini warf unterdessen die „Neue Zürcher Zeitung“. Dieser habe getan, was UNRWA-Chefs immer täten: „Er beteuerte, es handle sich um bedauerliche Einzelfälle.“ Die UNRWA sei „offenkundig nicht in der Lage, systemische Fehler anzuerkennen und auszumerzen“. Sie sei „so eingenommen von ihrer eigenen Unersetzlichkeit, dass sie sich gegen Kritik immunisiert“.

„Längst nicht mehr Teil der Lösung“

Viele Kommentatoren stellten auch Grundsatzfragen zur UNRWA. So analysierte Daniel Deckers für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, das UN-Hilfswerk sei „längst nicht mehr Teil der Lösung des Palästinakonfliktes, sondern Teil seiner Perpetuierung“. Er verwies auf die Vererbbarkeit des Flüchtlingsstatus. „Den Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen wäre ehrlicher geholfen, wenn sie verstünden: Eine Rückkehr ist Quatsch“, merkte auch Ariane Lemmer für die „tageszeitung“ (taz) an.

Der UNRWA zur Seite sprang indes Stephan Detjen im „Deutschlandfunk“: Die Organisation stelle sich immer wieder einer intensiven Beobachtung. Die Vorwürfe würden benutzt, „um das UN-Hilfswerk insgesamt zu delegitimieren“. Für die israelische Regierung sei schon die Existenz von UNRWA ein Skandal, „weil die Organisation dazu beiträgt, palästinensische Identität auch im Exil zu stabilisieren und die Erinnerung an völkerrechtlich verbriefte Rechte der Palästinenser wachzuhalten“. (Israelnetz)

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