Die zweite Chance – Gedanken zum Gedenken an die Reichspogromnacht

Die zweite Chance – Gedanken zum Gedenken an die Reichspogromnacht

Jeder Einzelne zählt, jeder kann einen Unterschied bewirken. Werden wir diese Chance nutzen?, fragt Gastautorin Brigitte B. Nussbächer. Foto: Shutterstock

Ein Gastbeitrag von Brigitte B. Nussbächer

Wir sind die Enkel der Generationen des Zweiten Weltkrieges und haben die Chance, uns nicht daran zu beteiligen, wenn die Welt sich wieder gegen Israel stellt, sondern für Israel einzustehen! Wir haben die Chance, die Fehler unserer Vorfahren nicht zu wiederholen!

Zum Inhalt:

  1. Die Eskalation: Reichspogromnacht 1938 versus Schwarzer Schabbat 2023
  2. Überraschung oder logische Steigerung: Deutschland ab 1933 versus Israel ab 1948
  3. Reaktionen der Weltöffentlichkeit: Konferenz von Evian 1938 versus UN-Vollversammlung Oktober 2023
  4. Die nächste Phase: 1938: Der Holocaust, das Schweigen der Kirche, die stillen Helden versus 2023: Neuanfänge, unsere Chance

1. DIE ESKALATION

In der Reichskristallnacht brannten 1400 Synagogen, jüdische Zivilisten wurden misshandelt, verhaftet, ermordet. Foto: Shutterstock

Reichspogromnacht 1938

Genau 85 Jahre sind seit der „Reichskristallnacht“ vergangen. Die Bezeichnung ist eine Verharmlosung, denn in Wahrheit wurde viel mehr als nur Glas zerstört. Jener Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, in der im Deutschen Reich 1400 Synagogen brannten und 7500 jüdische Geschäfte, sowie andere Einrichtungen, darunter auch Schulen und Waisenhäuser zerstört wurden. Jener Nacht, in der jüdische Zivilisten auf offener Straße im Beisein der Polizei von der „Sturmabteilung“ (SA), der paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP, misshandelt, bedroht, verhaftet und ermordet wurden. Die Zahl der Toten ist nicht genau bekannt. Geschätzt wird, dass mehr als 1300 Juden in dieser Nacht oder später an den Folgen starben.

Heute wissen wir, dass die sogenannte Kristallnacht den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden ab 1933 hin zu ihrer systematischen Vertreibung und Unterdrückung markierte. Ab dem 10. November 1938 wurden Juden in Konzentrationslager deportiert. Letztendlich mündeten diese Aktionen im Holocaust, dem erklärten Ziel der Vernichtung allen jüdischen Lebens, und führten zu mehr als sechs Millionen ermordeter Juden. Wie war das möglich im „zivilisierten Europa“ und unter den Augen der Weltöffentlichkeit?

Der „Schwarze Schabbat“ 2023

Am 7. Oktober 2023 hat Israel eine neue „Kristallnacht“ erlebt – einen Schwarzen Schabbat, wie dieser Tag mittlerweile in Israel genannt wird. Im Morgengrauen durchbrachen Hamas-Terroristen aus dem Gazastreifen die Grenze zu Israel. Sie zerstörten mehr als 20 israelische Ortschaften und richteten ein fürchterliches Blutbad an. Sie entführten mehr als 230 Geiseln und misshandelten, folterten und ermordeten mehr als 1400 jüdische Zivilisten.

„Es gab Szenen entsetzlicher Grausamkeit, Barbarei, Verstümmelung, Zerstückelung, Vergewaltigung. Paare und Familienmitglieder wurden aneinander gefesselt und bei lebendigem Leib verbrannt; ganzen Familien wurden bei lebendigem Leib die Organe entnommen; Kinder mussten mit ansehen, wie ihre Eltern gefoltert und getötet wurden; Eltern wurden gezwungen zuzusehen, wie ihren Kindern die Augen ausgestochen und die Köpfe eingeschlagen wurden. Wohnzimmer, Küchen, Kinderbetten und Spielzeug, Babywiegen, Bäder, Rasenflächen, Autos – überall das geronnene Blut der ermordeten Juden“. (Quelle: Israel Today, Stan Goodenough, 29.10.2023)

Auch drei Wochen später sind noch nicht alle der teilweise zerstückelten und verbrannten Leichen identifiziert.

Am „Schwarzen Schabbat“ erobern und zerstören Hamas-Terroristen mehr als 20 Ortschaften in Israel, misshandeln und töten jüdische Zivilisten. Foto: Shutterstock

Was werden die Folgen des 7. Oktober 2023 sein? Während weiter Raketen auf Israel abgeschossen werden, wehrt Israel sich und greift den von der Hamas durchsetzten Gazastreifen an. Gleichzeitig beginnt im Libanon die schiitische Hisbollah-Miliz Raketen auf Israel abzufeuern. Der Iran, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung des israelischen Staates ist, droht ebenfalls.

Wird die Welt nach jahrhundertelanger Juden-Verfolgung, Progromen und Kriegen ein weiteres Mal zusehen, wie versucht wird, die Juden zu vernichten? Werden wir dieses Mal verstehen, was die Forderung der Stunde ist?

Werden wir erkennen, dass dies unsere Chance ist zu zeigen, dass wir aus der Vergangenheit gelernt haben? Werden wir bereit sein, uns für Israel einzusetzen? Werden wir zu denen gehören, die einen Unterschied bewirken?

2. ÜBERRASCHUNG ODER LOGISCHE STEIGERUNG?

Die Vorgeschichte: Deutschland ab 1933

Wurde Europa, wurde die Welt 1938 überrascht? Gab es Ursachen zu glauben, dass dies nur ein temporärer Wahnsinn sei, das Verbrechen einer Meute? Nein! Die judenfeindliche Politik der nationalsozialistischen deutschen Regierung begann bereits mit der Machtübernahme Adolf Hitlers im Januar 1933. Ein paar Fakten:

  • Im April 1933 gab es die erste zentral gesteuerte Terroraktion im Deutschen Reich: den Juden-Boykott.
  • Im gleichen Monat folgten das Berufsbeamtengesetz und das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, durch welche etwa 37.000 Juden ihre berufliche Existenz in Deutschland verloren.
  • Im September 1935 wurden die Nürnberger Gesetze erlassen. Das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbot die Eheschließung sowie den Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden. Das Reichsbürgergesetz schuf unterschiedliche Klassen von Bürgern.
  • Ab Ende 1937 zeichneten sich schnelle Zwangsenteignungen ab. SA-Schlägertrupps prügelten tausende jüdische Geschäftsinhaber aus ihren Läden, Betrieben und Wohnungen und übernahmen diese.

Die Kristallnacht war zwar eine Eskalation der Judenfeindlichkeit – aber gleichzeitig eine logische Fortsetzung der bereits jahrelangen antisemitischen Handlungen.

Die Vorgeschichte: Israel ab 1948

Ist der Angriff der Hamas vom „Schwarzen Schabbat“, den 7. Oktober 2023, eine Überraschung? Ist er nur ein temporärer Wahnsinn, das Verbrechen einer Meute? Nein. Israel wurde seit der Resolution 181 der UN-Generalversammlung vom 29. November 1947, die die Gründung eines jüdischen und arabischen Staat vorsah, regelmässig angegriffen, da sich die Palästinenser und die arabischen Länder weigerten, eine Teilung des britischen Mandatsgebietes Palästinas zu akzeptieren – teilweise weigern sie sich bis heute.

  • Der erste Angriff kam um Mitternacht nach der Proklamation des jüdischen Staates durch David Ben Gurion am 14. Mai 1948 von den arabischen Ländern Ägypten, Syrien, Jordanien, Irak und Libanon.
  • 1973 wurde Israel von Ägypten und Syrien an seinem wichtigsten jüdischen Feiertag Jom Kippur angegriffen.
  • Dazwischen fand noch die Sperrung des Suez-Kanals für israelische Schiffe 1956 statt, die zur Suezkrise führte, sowie die Ankündigung eines arabischen Angriffs 1967 von Ägypten, Syrien und Jordanien. Auf diese reagierte Israel mit einem Präventivschlag, es kam zum Sechs-Tage-Krieg.
  • 1982 attackierten terroristische Gruppierungen Israel aus dem südlichen Libanon, 2006 wurden zwei Soldaten von der Hisbollah entführt. Dies führte zu den beiden Libanonkriegen.

Was den Gazastreifen im Besonderen anbelangt, so hat sich Israel 2005 einseitig und vollständig aus dem Gebiet zurückgezogen. Doch auch das brachte keinen Frieden, im Gegenteil.

  • Jahrelanger Beschuss israelischer Städte mit mehreren tausend Raketen aus dem Gazastreifen führte 2008 zu der Operation „Gegossenes Blei“, die im Januar 2009 mit einer einseitigen Waffenstillstandserklärung durch Israel endete.
  • Hamas und andere palästinensische Gruppen feuerten weiter Raketen in Richtung Israel, insbesondere in der zweiten Hälfte des Jahres 2012. Erstmals erreichten die Raketen auch Tel Aviv und Jerusalem und bedeuteten für mehr als eine Million Menschen in Israel eine totale Einschränkung des täglichen Lebens. Israel antwortete im November 2012 mit der Operation „Wolkensäule“, die im gleichen Monat mit einem Waffenstillstand endete …
  • … aber keinen Frieden brachte. Im Juli 2014 reagierte Israel mit der Operation „Starker Fels“ auf erneuten, anhaltenden Raketenbeschuss durch die Hamas und andere militante palästinensische Gruppen aus dem Gazastreifen. Diese endete im August mit einer unbefristeten Waffenruhe.

Doch seither gab es weiterhin regelmäßig Raketenangriffe auf Israel. Doch was in anderen Teilen der Welt als Katastrophe gilt und zu Krieg führt, ist hier zur traurigen Normalität geworden. Israel versucht mit seinem Abwehrsystem „Eisenkuppel“, die Raketen abzufangen und unschädlich zu machen. Meist ist es dabei erfolgreich. Und die Welt schaut weg!

Der „Schwarze Schabbat“ ist zwar eine Eskalation des Judenhasses und der Aggression der Hamas – aber gleichzeitig eine logische Fortsetzung der bereits jahrelangen Angriffe.

3. REAKTIONEN DER WELTÖFFENTLICHKEIT

1938 – Die Konferenz von Evian

Schon vor den Novemberpogromen stiegen die Flüchtlingsströme jüdischer Auswanderer aus Deutschland an. In dieser Lage schlugen die Vereinigten Staaten eine internationale Konferenz vor, die schließlich im Juli 1938 in Evian stattfand und an der Großbritannien, Frankreich, die Niederlande, Belgien, die Schweiz, Schweden, Norwegen, Dänemark, Irland, Kanada, Australien, Neuseeland sowie nahezu alle mittel- und südamerikanischen Staaten teilnahmen. Polen und Rumänien entsandten Beobachter.

Den Regierungen der Teilnehmerstaaten war zu dem Zeitpunkt bekannt, dass die Juden in Deutschland und Österreich nahezu vollständig entrechtet waren und dass bereits tausende von ihnen ermordet oder in den Tod getrieben worden waren. Dennoch erklärte sich keines der 32 teilnehmenden Länder zur Aufnahme einer größeren Anzahl der bedrohten Juden bereit.

Großbritannien erließ bereits im November 1937 zur Beruhigung der Lage in seinem Mandatsgebiet Palästina rigide Aufnahmebeschränkungen – obwohl es den Juden 1917 in der Balfour-Deklaration prinzipiell eine „nationale Heimstätte“ zugesagt hatte. 1938, angesichts des drohenden Krieges und gemäß dem Wunsch der arabischen Staaten, reduzierte England die Einwanderungsquote für Palästina noch einmal auf maximal 20.000 pro Jahr.

Vor den US-Konsulaten standen Ende 1938 etwa 125.000 Menschen an, bis 1939 wurden es 300.000, um eines der nur 27.000 Visa zu erhalten, die im Rahmen der damaligen Quotenregelung an Einwanderer aus Europa vergeben wurden. In der zweiten Jahreshälfte 1941 legte das US-Außenministerium trotz der Berichte über die von den Nationalsozialisten verübten Massenmorde noch strengere Quoten für die Einwanderung fest. Begründet wurde dies mit Besorgnis um die innere Sicherheit.

Die Schweiz nahm zwar rund 30.000 Juden auf, wies jedoch auch in etwa die gleiche Zahl an der Grenze ab. Bolivien nahm rund 30.000 Einwanderer auf. Weitere 5000 Juden konnten sich nach China retten und andere 600 gelangten in die Dominikanische Republik.

War es den Ländern nicht möglich gewesen, mehr Flüchtlinge zu beherbergen? Zahlen der Gegenwart widerlegen diese These. Deutschland hat zum Beispiel 2015/16 mehr als eine Million Flüchtende aufgenommen, mehrheitlich aus Syrien, sowie 2022 mehr als eine Million Ukrainer. Und dies sind nur die offiziellen Zahlen, tatsächlich sind es deutlich mehr. (Quelle: https://mediendienst-integration.de)

2023 – die UN-Vollversammlung am 27.10.2023

Die UN-Resolution vom 27.10.2023 nennt weder die Hamas noch ihre Greueltaten vom Schwarzen Schabbat. Foto: Shutterstock

2023, nach dem schrecklichen Angriff der Hamas, gibt es zwar eine Reihe sogenannter Solidaritätsbesuche, bei denen allerdings wenig praktische Unterstützung sichtbar wurde. Und schon zwei Wochen später fordert die Weltöffentlichkeit mit einer Zweidrittel-Mehrheit von 120 Stimmen, 14 Gegenstimmen und 45 Enthaltungen in der Resolution der UN-Vollversammlung vom 27.10.2023 eine sofortige Waffenruhe von Israel, sowie die sofortige Bereitstellung von Wasser, Nahrungsmitteln, Treibstoff und Strom und „ungehinderten“ Zugang für humanitäre Hilfe für Palästinenser im Gazastreifen.

In der Resolution wird die Terror-Organisation Hamas nicht beim Namen genannt, die Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober werden nicht verurteilt und Israels völkerrechtlich verankertes Recht auf Selbstverteidigung wird nicht bestätigt. Dass selbst Länder wie Deutschland, die von sich behaupten, Israels Sicherheit gehöre zu ihrer Staatsräson, nicht dagegen stimmten, zeigt deutlich, wie viel die verbal zugesicherte Solidarität wert ist.

4. DIE NÄCHSTE PHASE

Der Holocaust

Die traurige Wahrheit ist, dass Nazideutschland den Massenmord auf schreckliche Weise perfektioniert hat und damit die dunkelste Seite der Weltgeschichte schrieb.
Aber traurige Wahrheit ist auch, dass sie nie so erfolgreich gewesen wären, wenn ihnen entschiedener Widerstand begegnet wäre.

Dänemark hat die seltene Ehre, das einzige von Nazi-Deutschland besetzte Land in Europa zu sein, das sich dem Versuch des Nazi-Regimes, seine jüdischen Bürger zu deportieren, mutig widersetzte und 99 Prozent von ihnen rettete. 1943, innerhalb von nur drei Wochen, gelang es dänischen Fischern, fast alle Juden ins neutrale, unbesetzte Schweden zu evakuieren. Finnland, seit 1941 Deutschlands Verbündeter, lieferte seine Juden größtenteils nicht aus. Auch Bulgarien, ebenfalls ein Verbündeter Deutschlands, rettete etwa 50.000 Juden.

Diese Beispiele beweisen, dass ein entschiedener Widerstand die deutschen Vernichtungspläne erfolgreich durchkreuzen konnte.

Ganz anders sah es hingegen in Osteuropa aus, wo fünf Millionen Juden wohnten – in den Gebieten, die heute zur Ukraine, zu Polen, Weisrussland, Moldau, Rumänien und Litauen gehören. Im ehemaligen Zarenreich gingen Staat, Kirche und Volk schon im 19. Jahrhundert rücksichtslos gegen Juden vor, schränkten sie durch Sondergesetze ein und verfolgten sie mit Pogromen. Auch diese Länder wurden Ende 1939 (Polen) und 1941 (Ukraine, Belarus) von Nazi-Deutschland besetzt. Den Judenhass aber kannten sie schon.

In vielen Städten in der Westukraine wurden Juden ohne eine explizite Anordnung der Besatzer umgebracht. Bei den Massenerschießungen durch deutsche und ukrainische Polizeieinheiten wurden allein in Babij Jar bei Kiew rund 100.000 getötet. Insgesamt fielen in der Ukraine etwa 1,5 Millionen dem Holocaust zum Opfer.

Auch Rumänien unter der Militärdiktatur von General Ion Antonescu und der Organisation „Eiserne Garde“ befahl 1941 schon vor dem Kriegseintritt Rumäniens auf deutscher Seite, dass alle Juden zu deportieren seien und ließ etwa 350.000 Juden nahezu vollständig ausrotten. Auch hier beteiligten sich neben Soldaten der deutschen Wehrmacht, rumänische Militär- und Polizeieinheiten und Angehörige der Zivilbevölkerung an der Ermordung.

Auschwitz ist eines der Vernichtungslager, in denen mehr als drei Millionen Juden umgebracht wurden. Foto: Shutterstock

In Polen wurden Juden bereits 1935 immer wieder getötet und verletzt. Oft wurden auch ihre Geschäfte geplündert. 1937 wurde an einigen Hochschulen, durch eingeführte Quoten sowie Segregation durch Sitzordnung, die Zahl der jüdischen Studenten halbiert. Viele gehobene Stellen waren für Juden unzugänglich. Auch in Polen wurden nach der Besetzung durch Nazi-Deutschland Massaker teilweise unter aktiver Teilnahme polnischer Bürger durchgeführt, beispielsweise bei Jedwabne.

1940 begann der Bau von Massenvernichtungslagern. Im Gegensatz zu anderen Konzentrationslagern, wo Inhaftierte neben einzelnen Morden vor allem durch systematisch herbeigeführte Krankheit und Unterernährung sowie übermäßige Arbeit starben, dienten die Vernichtungslager dem unmittelbaren Zweck der Ermordung der dorthin Deportierten.

Ist es ein Zufall, dass alle Vernichtungslager, in denen zwischen 1941 und 1945 mehr als drei Millionen Menschen in einer oft als industriell bezeichneten Form ermordet wurden – Auschwitz-Birkenau, Madjanek, Belzec, Sobibor, Treblinka – im heutigen Polen und Bronnaja Gora und Maly Trostinez im heutigen Belarus liegen?

Das Schweigen der Kirche

In Deutschland gehörten 96 Prozent der Bevölkerung den christlichen Konfessionen an. Zwei Drittel davon waren protestantisch geprägt, das andere Drittel katholisch. Innerhalb der Kirchen hätte man wissen sollen, dass die Juden Gottes auserwähltes Volk sind, mit dem er einen ewigen Bund geschlossen hat (siehe 1. Mose 15,18; 2. Mose 34,10; Jeremia 31,31-33). Und dass, wer Israel segnet, gesegnet wird, während wer Israel verflucht, Fluch auf sich lädt (1. Mose 12,3; 1. Mose 49,9; 4. Mose 23,24; 5. Mose 30,7).

Doch viele Kirchen und ihre Mitglieder waren der Ansicht, dass Juden „Gottesmöder“ seien, verdammt und der Gnade Gottes und der Menschen unwürdig. Dass Israel seine Rolle in Gottes Plänen verspielt hätte und die Christen nun das neue Israel seien (Ersatztheologie), obwohl Paulus in Römer 11 eindeutig sagt, dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat, dass er seine Gaben nicht zurück fordert und die Zusage seiner Erwählung nicht widerruft.

Auch die meisten Kirchen hüllten sich während des Holocausts in Schweigen – oder befürworteten ihn. Foto: Shutterstock

Auch neoprotestantische Gemeinden waren nicht unbedingt anders. Die deutsche Pfingstkirche verabschiedete 1938, 27 Tage vor der Kristallnacht, eine Resolution, die Hitlers Antisemitismus unterstützte und die Kirchenverfassung entsprechend den Nürnberger Rassegesetzen revidierte: „Die Herausführung der Juden aus der Gemeinschaft unseres Volkes, wie auch aus anderen Völkern, ist für uns ein Vorgang nach göttlicher Vorsehung und göttlichem Willen.”

Obwohl die Bibel von Juden stammt, obwohl darin die Geschichte des Judentums und die Verheißungen der Propheten für Israel enthalten sind und obwohl der Erlöser der Christenheit, Jesus, ein Jude war, standen auch die Kirchen nicht gegen die Judenvernichtung auf.

Es war letztendlich die Kollaboration fast aller mit dem NS-Regime, die zur Ermordung der europäischen Juden maßgeblich beitrug und sie überhaupt in diesem Ausmaß ermöglichte.

Die stillen Helden

Und doch gab es Menschen in allen Ländern, die anders dachten und vor allem auch anders handelten. Die bereit waren, ihr Leben und das ihrer Familien zu riskieren, um Juden vor der Vernichtung zu retten. Es gibt die prominenten Beispiele wie Oskar Schindler und Corrie ten Boom, aber noch manche mehr. Einige Bürger besorgten Lebensmittelkarten, andere falsche Papiere oder halfen Juden dabei, an weniger gefährliche Standorte zu fliehen. Und wieder andere gewährten Juden Unterschlupf.

In einer Welt totalen moralischen Zusammenbruchs gab es diese kleine Minderheit, die außergewöhnlichen Mut an den Tag legte, um menschliche Werte hochzuhalten. Es gab für sie eine Grenze, die zu überschreiten sie nicht gewillt waren. Einige davon werden dafür als „Gerechte unter den Nationen“ in der Hococaust-Gedenkstätte in Jerusalem geehrt, aber viele bleiben auch einfach die „stillen“, unbekannten Helden.

All diese Menschen sind der Beweis dafür, dass jeder seine Entscheidungen am Ende selbst trifft – und somit auch dafür verantwortlich ist. Dass keine Massendynamik, keine Ideologie, keine Verfolgung so stark sind, dass der menschliche Geist nicht mehr fähig wäre, Gut von Böse zu unterscheiden und eigenständig Position zu beziehen.

Es gibt bis heute Unbekannte, die Juden retteten und dafür ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten. In der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem werden sie geehrt. Foto: Shutterstock

Wie der Wiener Jude und Neurologe Viktor Fankl, der das Konzentrationslager überlebt hat, in seinem Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen!“ schrieb: „Der Mensch ist das Wesen, das entscheidet, was es ist“.
„Leben heißt letztlich nichts anderes als Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem einzelnen im Leben gestellt werden; für die Erfüllung der Forderung der Stunde.“ Und: „Man kann dem Menschen alles nehmen, nur nicht die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegeben Verhältnissen so oder so einzustellen“.

Diese stillen Helden lehren uns, dass jeder einen Unterschied bewirken kann.

Neuanfänge nach dem Krieg

Es sind noch keine 80 Jahre seit dem Holocaust vergangen. Die Welt hat nach der Befreiung der Vernichtungslager ihr Entsetzen bekundet, aber wenige waren nach dem Krieg bereit, die Überlebenden aufzunehmen.

Die Vereinten Nationen gaben den Juden die Chance, einen eigenen Staat in ihrer ursprünglichen Heimat zu gründen, nur um dann dringend davon abzuraten. Als die insgesamt 650.000 Israelis, ein Großteil von ihnen Holocaust-Überlebende, ihre Unabhängigkeit 1948 gegen 160 Millionen Araber verteidigten, gab es wenig Unterstützung von den Ländern, die verbal für einen jüdischen Staat gestimmt hatten.

Die einzelnen Länder haben sich nach dem Krieg mehr oder weniger mit dem eigenen Beitrag und der dadurch entstandenen Verantwortung für den Holocaust auseinandergesetzt. Die Generation, die später kam, war sich sicher, dass sie anders handeln würde. „Nie wieder!“ war das Motto.

Die Frage ist: Wie gehen wir heute damit um? Als Einzelne, als Deutschland, als Nationen? Werden wir unser Versprechen „Nie wieder“ halten?

Unsere Chance – heute!

Auch heute rüsten Länder gegen Israel und drohen mit seiner Vernichtung. Und wo steht Europa? Warum gibt es seit dem 7. Oktober in fast jeder euopäischen Hauptstadt und vielen anderen Städten wilde Demonstrationen, in denen Hassparolen gerufen werden?

In Deutschland ist in den vergangenen Wochen die Zahl der antisemitischen Vorfälle um 240 Prozent gestiegen! Dass die Flüchtlinge, die Deutschland seit 2015 aufgenommen hat, zu 86 Prozent aus Ländern kommen, die Israels Existenzrecht in Frage stellen, trägt sicher auch dazu bei. Dieser Anstieg an offenem Judenhass führt zu der Frage, in wieweit Deutschland seine Zusage, zu Israel und dem jüdischen Volk zu stehen, praktisch lebt.

Im Vereinigten Königreich wurden mehr als 600 antisemitische Vorfälle gemeldet, in den USA sagen jüdische Studenten, sie hätten Angst, ihre Zimmer zu verlassen und im Kaukasus übernimmt ein Mob öffentliche Einrichtungen und sucht nach Juden, die er lynchen kann. (Quelle: Telegram von Israel Today 30.10.2023)

Wie die Zukunft aussehen wird, liegt auch an uns – werden wir die Chance nutzen? Foto: Shutterstock

Und wo stehen wir? Wir sind die Enkel und Urenkel der Generation des Zweiten Weltkrieges und wir kennen die Geschichte unserer Großeltern und Urgroßeltern. Wir sollten wissen, ob sie damals Juden verfolgt oder sie beschützt haben – wir wissen aus Filmen, Büchern, Erzählungen, was in den Jahren geschah und wie es geschah. Keiner kann sich hinter Ahnungslosigkeit verstecken.

Wir haben eine Chance – jeder Einzelne! Wir haben die Chance, uns nicht daran zu beteiligen, wenn die Welt sich wieder gegen Israel stellt und wir haben die Chance, die Fehler und Sünden unserer Vorfahren nicht zu wiederholen.

Christen haben die Chance, für Israel und das jüdische Volk zu beten: „O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!“ (Jesaja 62,7) Wir können diese Wächter sein!

Aber auch unabhängig vom Gebet haben wir die Chance, ganz aktiv für Israel einzustehen und praktisch zu helfen, wo wir können – auch wenn es nur kleine Dinge sind, haben sie vielleicht eine große Wirkung.

Wir haben die Chance, Israelis und jüdischen Menschen in unserer Umgebung zu zeigen, dass wir sie achten, lieben und dass wir zu ihnen stehen. Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, aber wir können die Gegenwart mitgestalten und die Zukunft mitprägen: durch unsere Worte und noch viel mehr durch das, was wir tun und was unser Leben aussagt.

Werden wir diese Chance wahrnehmen, werden wir den Unterschied ausmachen?

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