Als die Hamas am 7. Oktober Israel überfällt und der Krieg losbricht, befindet sich der 23-jährige Dvir Fischer mit Freunden auf einem Trail in Nepal. Er kehrt nach Israel zurück, um bei der Verteidigung seines Landes zu helfen – bis ihn ein Schuss in den Hals lebensgefährlich verletzt. Dvir überlebt und hat die Geschichte seines persönlichen Wunders seither schon mehrfach erzählt. So auch JCSI-Mitarbeiterin Dina Röll, die ihn in seinem Zuhause in Israel getroffen hat.
Als ich das Haus betrete, sehe ich dort zwei junge Männer auf dem Sessel und der Couch sitzen. Eigentlich nichts Besonderes. Und trotzdem trifft mich diese Szene ins Herz: Denn Dvirs Freund und Teamkamerad kommt gerade aus dem Gazastreifen. Für 48 Stunden darf er nach Hause. Aber wichtiger als direkt nach Hause zu gehen war es ihm, seinen Freund zu besuchen, der vor knapp einem Monat einen Schuss durch den Hals überlebt hat. Und da sitzen die beiden nun und sprechen miteinander.
Sie beziehen mich schnell mit in ihr Gespräch ein und fragen, woher ich komme und für welchen Auftraggeber ich Dvir heute interviewen möchte. Es fällt mir nie schwer, von der Mission meines Lebens zu sprechen. Aber dieses Mal macht es mich einfach nur demütig und sprachlos vor diesen beiden Jungs zu sitzen, die in ihrem jungen Alter Traumatisches durchmachen und ihr Leben für die Verteidigung ihres Landes aufs Spiel setzen. Was habe ich mit 23 gemacht? Jedenfalls habe ich nicht für Deutschland in den Krieg ziehen und für das Überleben meines Volkes kämpfen müssen.
Dvir fragt mich, ob ich die lange oder die kurze Version seiner Geschichte hören möchte. Die lange natürlich! Sie beginnt in Nepal, fünf Tagesreisen von der nächsten Stadt entfernt, mitten in der Wildnis auf einem Naturfestival. Den Kopf freibekommen, das möchten die jungen Israelis, nachdem sie ihren Pflichtdienst beim Militär absolviert haben. Viele reisen dann in solche Länder. Außerdem liebt Dvir die Natur in Nepal.
„Einer der besten Tage meines Lebens”
„Der 7. Oktober war einer der besten Tage meines Lebens”, erzählt Dvir und zeigt mir auf seinem neuen MacBook Bilder. Dieses hat er vor kurzem von einer Organisation geschenkt bekommen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, verletzten und traumatisierten Soldaten zu helfen und eine Freude zu machen. Er zeigt mir ein Foto, das genau in dem Moment aufgenommen wurde, in dem das Massaker in Israel losging, wie sie später rekonstruiert haben: „Der ist Israeli und der und der, und der; und da sind ein Russe, ein Argentinier, ein Franzose, noch ein Israeli und ich. Der Fotograf ist aus Spanien. Wir waren richtig viele Israelis. Wir sind in den Fluss gesprungen und abends haben wir Israelis für alle gekocht und dann bis in die Nacht hinein getanzt …”
Er erzählt, wie er eine Israelin an der Seite sitzen sah, die nachdenklich eine Zigarette rauchte. Als Dvir nachfragte, was los sei, sagte sie nur, dass in Israel ein Krieg begonnen habe. „Nichts Besonderes”, dachte Dvir sich und ging zurück zu den anderen, um die Feuershow zu genießen. „Da habe ich das Thema direkt wieder vergessen.”
Jähes Ende eines Urlaubs
Erst am 8. Oktober, einen Tag nach den Massakern in Israel, verbreiteten sich langsam die schrecklichen Nachrichten aus der Heimat. Zwei Stunden musste Dvir gehen, um überhaupt an einen Ort zu kommen, an dem er Empfang hatte. Er las von bereits 900 Toten und sah Videos von jungen Mädchen, die vermutlich vergewaltigt und aus einem Jeep gezerrt wurden, und von Terroristen, die durch Sderot fuhren. Schlagartig wurde Dvir klar, dass er nach Hause fliegen und bei der Verteidigung seines Landes helfen würde: „900 – diese Zahl ging mir nicht aus dem Kopf. In meinem Pflichtdienst war ich in einer Spezialeinheit. Ich wusste genau, wohin ich zurückkehren und dass ich im Krieg kämpfen würde.”
Fünf Tage dauerte die Reise zum nächsten Flughafen. Ein bisschen Zeit, um die schlimmen Nachrichten, die steigenden Todeszahlen und die Geschichten seiner Bekannten und Freunde, die sich auf dem Festival stundenlang vor den Terroristen versteckt hatten, zu verarbeiten. Ein Freund von Dvir wurde auf dieser Party ermordet. „Ich wusste, dass ich zurückmuss, um für mein Land zu kämpfen. Meine Großeltern von beiden Seiten kommen aus Familien, die viele Angehörige im Holocaust verloren haben. Ich musste zurück, als Jude, als Kämpfer, weil meine eigenen Freunde umgekommen sind – aus all diesen Gründen.”
Schließlich kam Dvir in Thailand an. Dort hatte die israelische Regierung Flüge bereitgestellt, die die vielen Israelis und Reservisten zurück in ihr Land brachten. „Nicht mal zwölf Stunden war er zuhause”, sagt seine Mutter, die in diesem Moment den Raum betritt, in dem wir unser Interview führen. Kaum in Israel angekommen, musste sich Dvir bei seiner Einheit melden. Dort fand er einen interessanten Umgang mit der neuen Realität: Er fing an, seinem Team Yogastunden zu geben – so wie er es gerade erst in Indien und Nepal gelernt hatte.
Der Moment, als die Kugel trifft
In Gaza kam seine Einheit erst am 31. Oktober zum Einsatz. Dvir erzählt von dem Moment, in dem er getroffen wurde. „Wir waren schon einige Tage in Kampfhandlungen verwickelt und befanden uns auf einer speziellen Mission. Dafür mussten wir eine Straße überqueren. Plötzlich schoss ein Schmerz durch meinen Körper und alles wurde schwarz. Ich fiel auf den Boden und sah für einen Moment von oben, wie ich da lag.” Der Freund, der eben noch bei uns saß, schoss auf die Terroristen zurück, die Dvir verletzt hatten.
Dvir wurde von seinem Team in ein Haus gezogen und dort von dem zweiten Sanitäter behandelt. „Ich kann mich an die Schmerzen erinnern und dass ich gedacht habe: Mist, ich wurde getroffen, jetzt bin ich out of the game. Und ich weiß noch, dass ich dem Sanitäter irgendwie helfen wollte und mich selbst versuchte zu beruhigen, meine Beine und Arme zu bewegen. So wie ich es als Sanitäter gelernt hatte.” Für kurze Zeit war er der Ohnmacht nahe aber sofort wieder hellwach, als er auf einem schweren Geländewagen aus dem Gazastreifen herausgebracht wurde. Mit dem Hubschrauber ging es weiter in das Soroka-Krankenhaus.
Erst am nächsten Tag wurde Dvir klar, was für ein Wunder geschehen war: Außer einem kleinen Stück Knochen wurde nichts verletzt. Keine bleibenden Schäden. Dvir zeigt mir die Wunden- und Röntgenbilder. „Meine Überlebenschance lag bei eins zu einer Million. Die Kugel hätte nicht gerade durchgehen dürfen, sonst hätte sie definitiv etwas Wichtiges verletzt. Ballistisch gesehen ist das völlig unmöglich, dass die Kugel einen Umweg genommen haben soll, um die wichtigen Stellen nicht zu verletzen – aber genau so war es. Ich habe mich sehr beschützt gefühlt, auch in der Nacht vor dem Vorfall im Gazastreifen. Dort gab es keinen Strom, also war der Sternenhimmel sehr gut zu sehen und ich habe vier Sternschnuppen beobachtet und dieses beruhigende Gefühl gehabt, dass ich sicher bin.”
„Jemand hat auf mich aufgepasst”
Dvir sagt, es gebe viele Bezeichnungen für das, was ihm passiert ist: ein Wunder, Glück, Schicksal … jedenfalls habe jemand auf ihn aufgepasst. „Ich glaube an eine höhere Macht. Die sollte man aber nicht vermenschlichen, weil man sonst ihre Macht einschränkt”, meint Dvir. Hat er Pläne für die Zeit, wenn es ihm wieder bessergeht? Er lächelt: „Erstmal muss ich gesund werden. Das wird noch zwei Monate dauern. Ich spüre immer wieder Schmerzen in den Nerven und muss weiter Schmerzmittel nehmen. So lange ruhe ich mich aus.”
Twitter hat er mittlerweile gelöscht, die Nachrichten aus der Welt, die Propaganda und Lügen gegen Israel machen ihn nur verrückt. Zuviel hat er mit eigenen Augen gesehen; so auch, wie aus UNRWA-Gebäuden, aus humanitären Anlagen und zwischen den Wohnhäusern heraus auf die israelische Armee geschossen wurde. Dvir ist überzeugt: „Wir müssen uns verteidigen und Gaza und der Welt zeigen, dass wir stark sind. Trotzdem sind wir kein Volk, dass andere umbringen möchte. Wir wollen in Frieden leben. Aber wenn jemand kommt, um uns zu töten, schalten wir ihn vorher aus!”
Dvir möchte, dass seine Geschichte erzählt wird. In all den schrecklichen Nachrichten kann sie ein Licht für die Menschen sein. Wenn seine Verletzungen wieder völlig verheilt sind, möchte er noch einmal nach Indien und Nepal zurück und dieses Kapitel abschließen.