Einladung in den Keller – Treffen mit jüdischen Senioren mitten im Krieg

Einladung in den Keller – Treffen mit jüdischen Senioren mitten im Krieg

Jüdische Senioren an festlicher Tafel
Die Senioren des Patenschaftsprogramms von Christen an der Seite Israels sind in den Keller eines Restaurants eingeladen. Hier ist es nicht nur kühler, sondern auch etwas sicherer. Rechts im Bild Alina, eine Mitarbeiterin aus dem CSI-Ukraine-Team. Alle Fotos: CSI

Nach zweieinhalb Jahren Krieg sind unsere Mitarbeiter in der Ukraine weiterhin unermüdlich unterwegs, um Holocaust-Überlebende und Nachkriegskinder in den jüdischen Gemeinden zu besuchen. Denn: Mehr noch als der tägliche Überlebenskampf, mehr noch als Inflation und Stromausfall drückt die Einsamkeit. Noch Jahre später erinnern sich die Überlebenden dankbar an die letzte Begegnung – und hoffen auf die nächste. Doch in der aktuellen Situation ein Treffen zu veranstalten, ist keine leichte Aufgabe.

Auch wenn der Krieg in Winniza geografisch weit weg ist – die Auswirkungen spürt man überall. Es sind die Panzersperren an jeder Straßenkreuzung; die Sirene, die fast täglich aufheult; und dann ist plötzlich der Strom weg. Das Land spart, damit es nach den vielen Zerstörungen der Infrastruktur durch russische Raketen am Ende noch reicht.

Zum Glück bricht gerade erst die sommerliche Abenddämmerung herein und ich kann mich nach meiner Ankunft noch etwas orientieren. An den Restaurants rattern die Generatoren, doch unser altbewährtes Stammhotel hat diesen Luxus nicht. Das ganze Gebäude ist inzwischen dunkel. Nachdem ich von meinem Abendspaziergang auf der Suche nach einer Steckdose zum Laden meines Handys zurückkomme und mit der Handy-Taschenlampe mein Zimmer wiedergefunden habe, geht plötzlich das Licht wieder an.

Nun kann ich mich noch etwas vorbereiten und anhand meiner Fotosammlung die Namen der Gäste aus dem Patenschaftsprogramm trainieren, die wir für den folgenden Tag eingeladen haben. Die meisten habe ich so lange nicht gesehen, dass ich nicht damit rechne, dass sie mich wiedererkennen. Glücklicherweise ist meine Kollegin Alina mit vielen in Verbindung geblieben.

Ab in den Keller

Wenn „erhöhte Gefahr“ auf der mobilen Warn-App angezeigt wird, sollte man sich auch in der mittlerweile abgehärteten Ukraine in einen Schutzraum begeben, erklärt mir eine ortsansässige Kollegin. Als wir am Restaurant ankommen, schrillt das Telefon des Fahrers und zeigt die Warnmeldung „erhöhte Gefahr“ an. Was tun? Fällt unser sorgsam geplantes Treffen ins Wasser? Doch das geschäftige Leben in der Stadt geht unbeeindruckt weiter. Einen Schutzraum haben die meisten Einwohner ohnehin nicht, und bei häufigem Stromausfall in einem der Wohnblocks eine Fahrt mit dem Fahrstuhl in den Keller anzutreten, ist ebenfalls riskant. Die Menschen versuchen irgendwie mit der ständigen Bedrohung zu leben. Und wir tun mit unseren fast vollzählig eintreffenden Gästen das Beste, was man gerade tun kann: Wir begeben uns in das eigens für uns reservierte Kellergeschoss eines Restaurants.

„Wenn mein Vater das erlebt hätte“

Klara, eine der ersten Überlebenden, die wir in unser Programm aufgenommen haben, ist schon eine halbe Stunde vorher da. „Natürlich erinnere ich mich an dich – was für eine Frage!“, ruft sie aus. „Ich war Lehrerin; mein Kopf funktioniert noch ganz gut! Weißt du, ich habe oft darüber nachgedacht: Dein Opa war im Krieg, mein Papa war im Krieg. Beide wollten das nicht. Es ist so viel Schlimmes passiert damals. Ich hatte keinen Cousin und keine Cousine; so viele aus meiner Familie sind umgekommen. Und jetzt treffen wir uns hier! Wenn mein Vater das erlebt hätte – dass Deutsche und Juden in Freundschaft zusammen sind!“

Und dann kommen sie, einer nach dem anderen, umarmen uns, drücken mir Pralinenschachteln in die Hand; sind glücklich, dass ich wiedergekommen bin. „Ich gehe überhaupt nicht mehr aus dem Haus!“, sagt Emira, die von ihrem Sohn begleitet wird, dem einzigen Verwandten, den sie noch hat. „Ich bin nur wegen euch gekommen! Weil ich euch so gern sehen wollte!“

Begegnungen mit „anderen Deutschen“

Anna will mich gar nicht wieder loslassen. Sie erzählt mir von Stalingrad und wie sie lange die Deutschen und alles Deutsche gehasst hat. „Und dann habe ich Deutsche kennengelernt, die anders waren. Das hat alles verändert“, sagt Anna. „Was es uns bedeutet, dass du jetzt in dieser schweren Zeit zu uns kommst – das kannst du dir nicht vorstellen! Möge Gott euch vielfach zurückerstatten, was ihr für uns tut!“

Collage mit Gästen
Seit mehr als zwei Jahren herrscht Krieg in ihrer Heimat. Für die Holocaust-Überlebenden und Nachkriegskinder sind das gemeinsame Essen und die Begegnung mit Deutschen Balsam für ihre Seelen.

In letzter Minute hat Alina noch einen Musiker gefunden, der unser kulinarisches Programm mit etwas Kultur ergänzt. Während Juri, der selbst von seiner Urgroßmutter noch Jiddisch gelernt hat, einen musikalischen Rundgang durch die jüdische Küche macht, wird aufgetafelt. Ich erzähle von früher, von den Menschen in meinem Dorf, die schon zu DDR-Zeiten verstanden haben, dass das jüdische Volk von Gott geliebt und auserwählt ist; und von all den Türen, die Gott seitdem geöffnet hat.

Ein Festtag inmitten des Kriegsalltags

„Ich habe heute mein schönstes Kleid angezogen – es ist ja auch ein Festtag für uns!“, sagt Larisa. „Dass ihr trotz all der Gefahren gekommen seid, um uns etwas Gutes zu tun, das ist Balsam für die Seele“, sagt Valentina.

Die Stimmung ist überwältigend. Ich würde mit den Tränen kämpfen, hätte ich Zeit nachzudenken. Doch ich versuche, jeden Moment zu nutzen: Hier jemandem die Hand zu drücken, da nachzufragen, dort jemanden in den Arm zu nehmen. Wir haben doch gar nichts Besonderes gemacht, denke ich; sind einfach nur ein paar Stunden da für diese einsamen jüdischen Senioren und bewirten sie ein bisschen. Es bewegt mich, wie viel ihnen dieses einfache Da-Sein bedeutet.

„Grüße die lieben Menschen, die uns dieses festliche Beisammensein heute ermöglicht haben“, sagt Wladimir, den unser Fahrer mit anderen Gästen aus dem Nachbarort abgeholt hat. „Wir verbeugen uns vor euch für das, was ihr für uns tut!“

Nadjeschda – ein ganzes Leben in Trauer

Am Ende eines langen Tages voller Besuche bei Holocaust-Überlebenden in den umliegenden Ortschaften haben wir noch ein Blumengesteck übrig und beschließen, bei Nadjeschda vorbeizufahren. Sie war bei unserem Treffen nicht dabei; ihre Biografie erzählte uns ihre Schwester Sofia; mit Nadjeschda sei es schwierig zu kommunizieren.

Als wir Nadjeschdas Wohnzimmer betreten und die Blumen überreichen, laufen ihr sofort die Tränen übers Gesicht. „Ich bin ganz allein übriggeblieben“, sagt sie. „Vor acht Jahren ist meine einzige Tochter an Krebs gestorben und wenig später meine einzige Enkelin.“ Seit acht Jahren ist Nadjeschda in Trauer. Eigentlich seit acht Jahrzehnten, ihr ganzes Leben lang.

Ihr jüdischer Vater geriet in deutsche Gefangenschaft, konnte fliehen und sich lange auf dem Dorf verstecken. Dann wurde er von einem Nachbarn verraten. Zehn Tage später war er tot. Dann kamen die Deutschen wieder, um die älteste Tochter, Tatjana, abzuholen, die dem Vater hinterhergerannt war. Sie wurde zur Zwangsarbeit nach Regensburg verschleppt. Lange suchte Tatjana nach ihrer Familie. Da in der Sowjetunion jeglicher Kontakt ins Ausland untersagt war, sahen sich die Schwestern nie wieder.

Nadjeschda und Anemone
Nadjeschda, hier mit CSI-Mitarbeiterin Anemone, verlor ihren Vater, ihre Schwester, ihren Mann, ihre Tochter, ihre Enkelin. Es braucht Zeit, bis sie Trost an ihr Herz lässt. Ihr Name bedeutet „Hoffnung“.

Verwitwet ist Nadjeschda auch schon lange. Nur ihre 83-jährige Schwester Sofia ist ihr geblieben. „Ich will nicht mehr leben. Ich bettle Gott schon lange an, dass er mich dahin bringt, wo meine Tochter und meine Enkelin sind!“, sagt Nadjeschda unter Tränen.

Ein Hoffnungsstrahl

Wir suchen nach Worten, die Nadjeschda Hoffnung bringen können. Wir müssen nicht weit suchen. Der Name Nadjeschda bedeutet nichts anderes als „Hoffnung“! „Wenn Gott Sie noch auf der Erde behalten hat, dann braucht er Sie hier noch“, sagt meine Kollegin Alina, die selbst ihre Schwiegereltern im aktuellen Krieg verloren hat. „Dann hat er noch eine Aufgabe für Sie!“ Wir lesen Nadjeschda das Kärtchen vor: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“ Die Worte Gottes machen Nadjeschda ruhiger.

Ich habe noch ein kunstvoll gearbeitetes Tuch aus dem Erzgebirge dabei. Es ist schwarz, und ich habe die ganze Zeit überlegt, wem ich es geben soll. Jetzt weiß ich es. Doch es ist nicht ganz schwarz: Es hat einen hellgrauen Rand. Ich lege es Nadjeschda um den Hals und sage ihr, dass es einen hellen Streifen gibt am Horizont. Jetzt sind Nadjeschdas Tränen getrocknet. Dankbarkeit macht sich breit in ihr – für alle Hilfe; dafür, dass wir sie nicht allein lassen. Wir fragen, ob wir ihr die Fotos drucken sollen, die wir gerade gemacht haben. „Natürlich, gerne! Das heißt, wenn ich dann noch da bin!“ „Dann müssen Sie eben noch so lange dableiben. Dann ist jetzt Ihre Aufgabe, gut in Form zu bleiben, bis wir mit den Fotos wiederkommen!“ Nadjeschda verspricht es.

Gerne können Sie einen Holocaust-Überlebenden erster oder zweiter Generation auf Ihr Herz nehmen und mit einer Patenschaft unterstützen. Auch Einmalspenden sind willkommen. Unsere Mitarbeiter kümmern sich darum, dass die Hilfe ankommt und die Botschaft der Liebe aus Deutschland, Österreich und der Schweiz bei persönlichen Besuchen übermittelt wird.

Mehr über unser Patenschaftsprogramm für Holocaust-Überlebende finde Sie hier.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 138. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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