Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof – „Kains Verbrechen Abel zuschreiben“

Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof – „Kains Verbrechen Abel zuschreiben“

Südafrikas Völkermordvorwurf gegen Israel
Südafrikas Völkermordvorwurf gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag am Freitag, 12. Januar 2024. Foto: IGH | UN Photo/ICJ-CIJ/Frank van Beek

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat Israel dazu aufgefordert, sicherzustellen, dass die israelische Armee im Gazastreifen keinen Völkermord an den Palästinensern begeht. Bei der Entscheidung des Gerichts über einen Eilantrag Südafrikas auf Schutzmaßnahmen für die palästinensische Bevölkerung hatten nur zwei von 17 Richtern für Israel gestimmt. Eine kommentierende Analyse.

Von Andrew Tucker, Gründer von Thinc., Übersetzung aus dem Englischen und redaktionelle Bearbeitung: CSI

Südafrika behauptet, dass Israel einen Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung begeht. Südafrika und Israel präsentierten dem Gerichtshof entgegengesetzte Narrative. Südafrika argumentierte, dass Israel ein rassistisches Apartheidgebilde sei, das versuche, die Palästinenser auszulöschen (und dies seit 1948 tue). Die einzige Möglichkeit damit umzugehen, bestehe laut Südafrika darin, Israel anzuweisen, den Konflikt im Gazastreifen sofort und vollständig zu beenden.

Israel vertrat eine völlig gegenteilige Auffassung. Es sei die radikal-islamische Terror-Organisation Hamas, nicht Israel, die eine genozidale Absicht habe. Israel sei ein legitimer Rechtsstaat, der einen gerechtfertigten Krieg gegen die Hamas führe, nicht gegen das palästinensische Volk. Die Zahl der Toten und das Aus maß der Zerstörung in Gaza seien hoch, aber dies sei eine unglückliche und unvermeidliche Folge des Krieges, den die Hamas begonnen habe und den Israel nie wollte.

Am 26. Januar 2024 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) entschieden, dass es „plausibel“ sei, dass Israel einen Völkermord am palästinensischen Volk begehe. Obwohl er anerkennt, dass am 7. Oktober „die Hamas und andere bewaffnete Gruppen, die im Gazastreifen präsent sind, einen Angriff auf Israel verübt haben, bei dem mehr als 1200 Menschen getötet, Tausende verletzt und etwa 240 Menschen entführt wurden, von denen viele weiterhin als Geiseln festgehalten werden“, und am Ende seines Urteils die Freilassung der Geiseln fordert, nimmt der Gerichtshof an keiner Stelle Bezug auf die anhaltende Gewaltanwendung der Hamas gegen Israel und ihre genozidale Kampagne zur Auslöschung des jüdischen Volkes.

Der von Israel benannte Ad-hoc-Richter Aharon Barak gab eine Stellungnahme ab, in der er den Ansatz des Gerichtshofs scharf kritisierte. Er warf dem Gericht im Grunde vor, „Kains Verbrechen Abel zuzuschreiben“.

„Konstruktive Zweideutigkeit“

Das 25-seitige Urteil des Gerichts ist ein Paradebeispiel für sogenannte konstruktive Zweideutigkeit. Diese Technik dient dazu, die Unfähigkeit zur Lösung einer strittigen Frage zu verschleiern, in der die Parteien weit auseinander liegen; und zwar in einer Weise, die es jeder Partei ermöglicht, ein Zugeständnis in dieser Frage zu erreichen.

Der Gerichtshof kritisierte nachdrücklich die israelische Gewaltanwendung im Gazastreifen und die Äußerungen einiger israelischer Politiker, die als Reaktion auf die Angriffe vom 7. Oktober eine groß angelegte Zerstörung und Tötung von Palästinensern im Gazastreifen befürworteten. Das Gericht erklärte jedoch, es könne (und solle) zum jetzigen Zeitpunkt nicht entscheiden, dass Israel einen Völkermord begehe.

Dementsprechend gab der Gerichtshof nicht der extremen Maßnahme eines Waffenstillstands statt, die Südafrika gefordert hatte. Dennoch wies er Israel an „sicherzustellen, dass es keinen Völkermord begeht“. Israel betonte, dass es nicht die Absicht habe, das palästinensische Volk zu vernichten, und daher keinen Völkermord begehe. Der Gerichtshof wich der schwierigen Frage aus, ob es sich um Völkermord handelt, und forderte Israel auf, „sofortige und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die Bereitstellung dringend benötigter grundlegender Dienstleistungen und humanitärer Hilfe zu ermöglichen, um die widrigen Lebensbedingungen der Palästinenser im Gazastreifen zu verbessern“. Dies ist im Grunde eine Verpflichtung, die Israel bereits nach dem humanitären Völkerrecht hat.

Es stimmt, dass der IGH seine „tiefe Besorgnis“ über die Lage der Geiseln zum Ausdruck gebracht und „ihre sofortige und bedingungslose Freilassung“ gefordert hat. Dies sind zwar schöne Worte, aber sie sind wirkungslos, da die Hamas keine Partei in diesem Verfahren ist.

2 von 17 Richtern stimmen für Klageabweisung

In seiner überzeugenden abweichenden Meinung erklärte der israelische Ad-hoc-Richter Aharon Barak, dass dies darauf hinauslaufe, „das Verbrechen Kains Abel zuzuschreiben“. Dies ist eine Anspielung auf die Geschichte im biblischen Buch Genesis 4, in der Kain seinen Bruder Abel aus Eifersucht ermordet.

Barak war einer von nur zwei der siebzehn Richter, die sich gegen die Entscheidung der Mehrheit aussprachen. Die andere war die ugandische Richterin Julia Sebutinde, die die Auffassung vertrat, dass die Ansprüche Südafrikas unbegründet seien und die Klage abgewiesen werden sollte. Barak betonte, dass die Völkermordkonvention auf der Asche des Holocausts errichtet wurde. Sie habe ein neues internationales Verbrechen geschaffen – das schrecklichste Verbrechen, das es gebe. Das jüdische Volk wisse besser als jedes andere Volk, was Völkermord sei, und der Staat Israel sei gegründet worden, um sicherzustellen, dass Völkermord nie wieder geschehe.

Völkermord ist „die Tötung von Mitgliedern einer Gruppe mit der Absicht, diese Gruppe zu vernichten. Im Mittelpunkt des Konzepts steht die Absicht“, die Gruppe als solche zu zerstören (auszulöschen). Ohne eine solche Absicht kann es zu einer weitreichenden Zerstörung kommen, die eine Verletzung des humanitären Völkerrechts oder des Strafrechts darstellt, aber es kann keinen Völkermord geben. Barak hat den Völkermordversuch der Nazis selbst mit voller Wucht erlebt. Er wurde in Kaunas, Litauen, geboren und überlebte wie durch ein Wunder den Ansturm der Nazis. Nur fünf Prozent der Juden in Litauen überlebten.

Beweise für einen Völkermord?

Barak betonte, dass die Entscheidung des Gerichtshofs, es sei „plausibel“, dass Israel nicht nur die Hamas, sondern die Palästinenser als solche vernichten wolle, höchst problematisch sei. Der Gerichtshof begründete diese Schlussfolgerung mit der Kombination aus der massiven Zahl der Opfer und dem Ausmaß der Zerstörung, der Tatsache, dass Israel sich bewusst war, dass seine Kampagne eine humanitäre Krise auslösen würde, und einer Reihe ausgewählter Erklärungen der israelischen Führung kurz nach dem 7. Oktober.

Doch wie Richter Barak in seiner separaten Stellungnahme feststellt, verzerrt dies die Realität. Es reißt die Aussagen israelischer Führer aus dem Zusammenhang, verlässt sich in hohem Maße auf zweifelhafte Informationen der Hamas und widerspricht allen von Israel vorgelegten Beweisen, dass Israel auf jede erdenkliche Weise versucht, die Zahl der zivilen Opfer zu minimieren. Sie ignoriert die Tatsache, dass es sich um einen hochkomplexen und schwierigen Krieg in den Städten handelt, in dem die Hamas ihre Kämpfer bewusst an zivilen Orten wie Schulen, Moscheen und Krankenhäusern versteckt.

Es ist unerklärlich, dass das Gericht die von Israel vorgelegten umfangreichen Beweise für seine Bemühungen, zivile Opfer zu minimieren, und für die Strategie der Hamas, die zivilen Opfer zu maximieren, praktisch ignorierte. Mit der Feststellung, dass es „plausibel“ sei, dass Israel Völkermord begehe, lässt der Gerichtshof zu, dass das Völkerrecht politisiert wird. Südafrika hat die Völkermordkonvention eindeutig dazu benutzt, die politische Sache der Palästinenser voranzutreiben und die Kampagne der Hamas zu unterstützen.

Es ist kein Geheimnis, dass der Afrikanische Nationalkongress (ANC) in Südafrika enge Beziehungen zur Hamas und der Palästinensischen Autonomiebehörde unterhält. Es sind sogar Beweise dafür aufgetaucht, dass der Iran in den Rechtsfall in Den Haag verwickelt war und ihn möglicherweise sogar finanziert hat. Der Gerichtshof stützte sich auch in hohem Maße auf Beweise, die vom UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), vorgelegt wurden. Allerdings ist die UNRWA in dieser Angelegenheit alles andere als neutral. Im Januar und Februar sind zahlreiche Beweise dafür aufgetaucht, dass die UNRWA stark von der Hamas unterwandert ist. Nach Angaben des Wall Street Journal sind zehn Prozent der rund 12.000 UNRWA-Mitarbeiter mit der Hamas verbunden.

Der israelische Ad-hoc-Richter Aharon Barak am IGH. Foto: IGH | UN Photo/ICJ-CIJ/Frank van Beek

Vielleicht noch wichtiger ist, dass Südafrikas selektive und politisierte Nutzung der Völkermordkonvention als Waffe gegen Israel die Aufmerksamkeit der Welt von der Tatsache ablenkt, dass der Iran eine genozidale Kampagne zur Vernichtung des jüdischen Volkes im ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina gestartet hat. Durchgeführt wird sie von seinen Vertretern wie der Hamas im Gazastreifen und dem Westjordanland sowie der Hisbollah-Miliz im Libanon.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Hamas ein Stellvertreter des Iran ist und dass sie die Absicht des Iran teilt, das jüdische Volk zu vernichten. Wie ihre Charta von 1988 zeigt, ist sie eine islamistische Bewegung, die sich der Anwendung von Gewalt verschrieben hat, um „Israel zu vernichten“ und „das Banner Allahs über jeden Zentimeter Palästinas zu erheben“.

Für die Hamas, den Palästinensischen Islamischen Dschihad und andere ähnliche islamistische Gruppen wird die bloße Existenz des Staates Israel als Hindernis für die Herrschaft Allahs angesehen. Obwohl das unmittelbare Ziel der Hamas die Herrschaft des Islam und der Scharia in ganz Palästina ist, ist die Bewegung global ausgerichtet. So heißt es beispielsweise in Artikel 2 der Hamas-Charta:

„Die Islamische Widerstandsbewegung ist ein Zweig der Muslimbruderschaft in Palästina. Die Muslimbruderschaft wiederum ist eine weltweite Organisation, die größte islamische Bewegung der Moderne. Sie zeichnet sich durch tiefgreifendes Verständnis, präzise Vorstellungen und Umfassendheit all ihrer islamischen Konzepte in den verschiedensten Lebensbereichen aus: in Weltbild und Glauben, in Politik und Wirtschaft, in Erziehung und Gesellschaft, in Justiz und Regierung, in der Verkündung des Islams und in der Bildung, in Kunst und Medien, im Sichtbaren und Unsichtbaren und in allen anderen Lebensbereichen.“

Die Folgen der Entscheidung

Der Ansatz der „konstruktiven Zweideutigkeit“, der sich in der Entscheidung des Strafgerichtshofs widerspiegelt, ignoriert (absichtlich?) den Kontext des Falles und vermeidet es, eine klare Entscheidung auf der Grundlage des Sachverhalts zu treffen. Ad-hoc-Richter Barak zeigt, dass die dem Gericht vorgelegten Beweise einfach keine Grundlage für die Schlussfolgerung bieten, dass es „plausibel“ sei, dass Israel einen Völkermord begehe. Das Gericht hätte dies erkennen und die Klage Südafrikas abweisen müssen. Indem der Gerichtshof den politisch motivierten Forderungen Südafrikas Glaubwürdigkeit verleiht, lässt er zu, dass das Recht politisiert wird.

All dies untergräbt die Autorität des Gerichtshofs und die Integrität des Rechtssystems. Und es untergräbt die Rechte der Staaten, sich gegen den Terror zu verteidigen. Wie Richter Barak abschließend feststellt:

„Es ist bedenklich, dass die Anwendung der Völkermordkonvention unter diesen Umständen die Integrität der Konvention untergraben und das Konzept des Völkermords verwässern würde. Die Völkermordkonvention zielt darauf ab, die physische Vernichtung einer Gruppe als solche zu verhindern und zu bestrafen. Sie ist nicht dazu gedacht, bewaffnete Konflikte gänzlich zu verbieten. Der Ansatz des Gerichtshofs öffnet die Tür für Staaten, die Völkermordkonvention zu missbrauchen, um das Recht auf Selbstverteidigung zu beschneiden, insbesondere im Zusammenhang mit Angriffen, die von terroristischen Gruppen begangen werden.“

Südafrika hat Israel wegen Völkermordes vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) angeklagt. Bis zu einem abschließenden Urteil können noch Jahre vergehen. Die Urteile des IGH sind bindend.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 136. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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