Israelische Abgeordnete Haskel über palästinensische Flüchtlingsfrage: „Wir müssen endlich anfangen, anders zu denken“

Israelische Abgeordnete Haskel über palästinensische Flüchtlingsfrage: „Wir müssen endlich anfangen, anders zu denken“

Josias Terschüren, Sharren Haskel in Berlin
(V. l.) Josias Terschüren, die israelische Abgeordnete Sharren Haskel und Leo van Doesburg, European Director der Israel Allies Foundation, sprachen in Berlin über die Rolle der UNRWA im aktuellen israelisch-palästinensischen Konflikt. Foto: privat

Der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat eine erneute Debatte über die Zukunft des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) ausgelöst. Die Meinungen darüber, ob die UNRWA bislang unverzichtbar oder eher Teil des Problems der Flüchtlingsfrage ist, gehen dabei auseinander. Josias Terschüren, Bereichsleiter Politik und Gesellschaft bei Christen an der Seite Israels, hat darüber mit der israelischen Abgeordneten Sharren Haskel gesprochen, die den Knesset-Ausschuss zur Reformierung der UNRWA leitet.

Josias Terschüren: Sharren, du hast gerade im Bundestag vor Abgeordneten über das Thema UNRWA gesprochen. Du bist israelische Abgeordnete und Vorsitzende des Ausschusses zur Reformierung der UNRWA in der israelischen Knesset, der bereits vor dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 gegründet wurde. Was hat sich aus deiner Sicht seit dem 7. Oktober in Bezug auf die UNRWA geändert?

Sharren Haskel: Innerhalb der UNRWA hat sich nichts geändert, aber unsere Sicht der Dinge hat sich geändert. Wir können die Augen nicht mehr vor den großen Problemen verschließen. Und davon gibt es viele: Da ist das Problem des Bildungssystems und der Erziehung zum radikalen Islam. Es gibt ein Problem mit der Definition der UNRWA. Ein weiteres Problem sind die Flüchtlinge, die von Sozialhilfe, Unterkunft, Bildung und medizinischer Versorgung abhängig sind, die jeweils von der internationalen Gemeinschaft bezahlt werden.

Ein großes Problem ist die Definition des Flüchtlingsstatus, der sich von einer normalen Flüchtlingsdefinition unterscheidet, denn dieser Status kann vererbt werden: Es geht nicht darum, ob man vertrieben oder verfolgt wurde oder sich in einem Konfliktgebiet aufgehalten hat; man erbt diesen Flüchtlingsstatus von seinem Vater als eine Art soziales Paket. Das macht das Gesamtproblem nur noch größer: Die Zahl der Flüchtlinge wird niemals sinken, sondern sie wird sich alle paar Jahre verdoppeln, wie es in den letzten Jahren der Fall war. Das nährt die Befürchtung, dass eines Tages Millionen von Palästinensern Israel überschwemmen werden, was das Ende des Staates Israel bedeuten würde. Diese großen Fragen sind also Teil des Problems, das im Mittelpunkt des israelisch-palästinensischen Konflikts steht. Solange dieses fortbesteht, wird es keine bessere Zukunft geben: nicht für Israelis und nicht für Palästinenser. Das ist ein Kreislauf, der sich immer wiederholen wird.

Laut der UNRWA leben im Gazastreifen rund 2,1 Millionen Palästinenser. Davon sind etwa 1,7 Millionen als Flüchtlinge registriert. An bedürftige Palästinenser gibt die UNRWA unter anderem Lebensmittel und Bargeld aus. Foto: Abed Rahim Khatib/Flash90

Seit dem 7. Oktober können wir das nicht mehr ignorieren. Wir wissen, dass die UNRWA den Weg für das Massaker vom 7. Oktober geebnet hat. Es liegt daher in unserer Verantwortung, nicht nur „nie wieder“ zu sagen, sondern entsprechend zu handeln und diese Realität zu ändern.

Befürworter der UNRWA argumentieren, dass sie unverzichtbar sei und dass es insbesondere im Gazastreifen keine Alternative zu ihr gäbe. Was ist deine Meinung dazu?

Nun, ich bin froh, dass diese Befürworter zugeben, dass es keine palästinensische Führung gibt, die das palästinensische Volk führen will oder kann, denn das sagen wir schon seit Jahren. Wir müssen unterscheiden: Die UNRWA ist keine humanitäre Organisation und sie ist auch nicht das Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Die UNRWA ist eine Organisation, die im wahrsten Sinne des Wortes all die Einrichtungen, die Infrastruktur und die Dienstleistungen bereitstellt, die eigentlich die Regierung bereitstellen soll. Die UNRWA ist die palästinensische Regierung, und diese Regierung wird von der internationalen Gemeinschaft finanziert. Sie sollte eigentlich auch von der internationalen Gemeinschaft verwaltet werden, wurde aber faktisch der Hamas übertragen.

Ich habe mit Matthias Schmale, dem ehemaligen Leiter der UNRWA in Gaza, gesprochen und er sagte mir: „Ich bin so etwas wie der örtliche Gouverneur von Gaza.“ Das war sein Selbstverständnis.

Das trifft es absolut. Wenn man also sagt, dass es keinen Ersatz für die UNRWA gebe, dann deshalb, weil es keine palästinensische Führung gibt, die sich um das tägliche Leben ihrer Familien, ihrer Kinder, ihre Gemeinschaft und ihre Autonomie kümmern will oder kann. Die UNRWA stellt Bildungssystem, Dienstleistungen, Gesundheitssystem, Wohnungen, Sozialhilfe, Arbeit bereit, bis hin zum Abwassersystem und der Straßenreinigung. All das sollte von einer Regierung verwaltet und geleitet werden. Das wollen sie aber nicht. Immer wenn in die UNRWA investiert wird, fördert das Hass und Gewalt und, wie die Hamas erklärte, die vollständige Beseitigung des Staates Israel. Sie massakrieren das jüdische Volk.

Wenn wir uns darin einig sind, dass es keine palästinensische Führung gibt und dass es die internationale Gemeinschaft ist, die die Einrichtungen und Dienstleistungen einer Regierung bereitstellt, dann muss die internationale Gemeinschaft Verantwortung übernehmen – und zwar echte Verantwortung. Sie muss darüber Rechenschaft ablegen, wohin das Geld fließt. Sie muss ausländische Fachkräfte ins Land holen, die Erfahrung darin haben, wie man das Bildungssystem, die Wasserversorgung, die Abwasserentsorgung und die Gesundheitsfürsorge bereitstellt und verwaltet: Damit die Hamas nicht diese Managerpositionen übernimmt und die UNRWA als Möglichkeit nutzt, Geld in ihre terroristische Organisation zu leiten, um die junge palästinensische Generation in Richtung des radikalen Islam zu unterrichten und sie in Gewalt und Hass zu erziehen. Das ist auch die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft.

Aber das kann nicht durch die UNRWA geschehen, sondern nur ohne die UNRWA. Du leitest einen Ausschuss zur Reformierung der UNRWA. Gibt es eine Möglichkeit UNRWA zu reformieren?

Wir müssen sowohl kurzfristig als auch langfristig denken. Kurzfristig gibt es vier Dinge, die wir tun müssen. Erstens müssen wir ein anderes Bildungssystem einführen. Wir müssen das emiratische, saudische, arabisch-israelische Bildungssystem in die Schulen bringen, damit nicht der radikale Islam gelehrt wird. So könnte die nächste Generation der Palästinenser in Werten der Freiheit und Gleichberechtigung, der Frauenrechte, der Toleranz, der Koexistenz und des Friedens unterrichtet werden, also den Werten, für die die internationalen Gemeinschaft steht. Die zweite Notwendigkeit besteht darin, die Definition des Begriffs „Flüchtling“ zu ändern und den Flüchtlingsstatus des UNHCR zu übernehmen.

Dies müsste von der UN-Generalversammlung beschlossen werden, was ziemlich schwierig zu erreichen sein dürfte.

Nicht unbedingt. Es ist nicht die UNO, die die UNRWA finanziert, sondern Deutschland, die Europäische Union und Amerika sind die Hauptgeldgeber.

Ja, aber es ist immer noch die Generalversammlung, die der UNRWA das – zu erneuernde – Mandat erteilt.

Ja, aber was würde passieren, wenn Deutschland sagt: „Wir sind bereit, unter diesen drei oder vier Bedingungen weiter zu finanzieren“? So nutzen wir dieses Problem, um es in eine Lösung zu verwandeln. Wenn wir das Bildungssystem reformieren, dann besetzen wir die Managerpositionen mit internationalen Fachkräften, die erfahren sind und wissen, was sie tun. Wir schaffen diese verrückte Idee des Rückkehrrechts ab, welches bedeutet, dass es niemals eine Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt geben wird.

Und schließlich müssen wir verstehen, dass diese Einrichtung in zwei oder drei Generationen in eine palästinensische Regierung umgewandelt werden muss, sobald es Führungspersönlichkeiten gibt, die wirklich Verantwortung übernehmen wollen und ein Wirtschaftssystem erlernen, das in der Lage ist, das palästinensische Volk zu ernähren und darauf aufzubauen.

In der deutschen Politik sehen wir bereits, dass die FDP die Forderung nach einem Finanzierungsende der UNRWA in ihr Programm für die im Juni anstehenden Europawahlen aufgenommen hat. Wir hören führende Stimmen aus der CDU, der größten Oppositionspartei, die sagen, dass die UNRWA nicht mehr reformierbar ist. Man sieht keine Chance, das System von innen heraus zu reformieren. In den deutschen Ministerien, die für UNWRA-Angelegenheiten zuständig sind, ist hingegen eine sehr starke Haltung erkennbar, die UNRWA weiterhin zu unterstützen. Du hältst sie für unverzichtbar. Es besteht also eine Kluft zwischen der politischen Seite einerseits und den Bürokraten in den Ministerien andererseits. Wie siehst du das? Wie kann die Politik die Verantwortung für deutsche Steuergelder übernehmen, die an die UNRWA fließen?

Sie muss anfangen, Entscheidungen zu treffen. Wenn sie die UNRWA finanziert, muss sie auch die Verantwortung dafür übernehmen, wohin das Geld tatsächlich fließt. Es ist an der Zeit, dass wir beginnen über andere Möglichkeiten nachzudenken, wie wir das unmittelbare Problem lösen können. Und wir müssen über eine langfristige Lösung nachdenken. Denn wenn die Verantwortlichen nicht anfangen, ihre Denkweise komplett zu ändern und langfristig zu planen, wie sie das Hauptproblem lösen können, dann werden Sie und ich in zehn Jahren hier sitzen: Nicht mit sechs, sondern mit zwölf Millionen Flüchtlingen; mit dem gleichen Problem nach einem weiteren großen Massaker, einem großen Krieg oder Konflikt. Und wir werden wieder über genau das gleiche Problem sprechen und versuchen, es zu lösen.

Schon vor fünf Jahren stand ich mit dem Bundestag und den Ministerien, die mit der UNRWA zu tun haben, in Kontakt zu genau diesen Themen. Seither hat sich in Bezug auf die UNRWA nicht wirklich etwas geändert. Damals bestand die größte Schwierigkeit darin, dass die israelische Regierung und der israelische Sicherheitsapparat die deutsche und andere europäische Regierungen anflehten, die UNRWA weiter zu finanzieren. Solange Israel also keinen Schnitt zur UNRWA vollzieht, ist es sehr schwierig, etwas zu ändern. Die israelische Regierung hat Ende März die Zusammenarbeit mit der UNRWA im Gazastreifen eingestellt, aber nicht generell. Die UNRWA arbeitet ja nicht nur in Gaza, sondern auch im Libanon, in Jordanien und in anderen Ländern. Wie siehst du die israelische Haltung gegenüber der UNRWA: Hat sie sich wirklich so radikal geändert, dass es jetzt eine einheitliche israelische Position gibt, die UNRWA nicht mehr zu finanzieren und die Zusammenarbeit mit ihr einzustellen?

Daran arbeite ich seit 2015, und es war auch gegenüber der israelischen Regierung herausfordernd. Es ist sehr schwierig, diesen Wandel zu vollziehen. Es ist einfach, das unmittelbare Problem zu lösen; aber es ist nicht leicht langfristig zu denken. Ich bin ein Mensch, der langfristig denkt, insbesondere nach dem Massaker vom 7. Oktober, und der verstanden hat, dass wir anfangen müssen, anders zu denken.

Die Lobby, die wir in der israelischen Knesset haben, setzt sich aus vielen verschiedenen Parteien zusammen, und wir kämpfen gemeinsam. Ein Teil unserer Arbeit bestand darin, die Haltung der israelischen Regierung gegenüber der Rolle der UNRWA im Gazastreifen vollständig zu ändern, und das ist uns teilweise gelungen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Wir setzen uns dafür ein, die Beziehungen zur UNRWA vollständig zu beenden. Ich weiß, dass dies nicht an einem oder zwei Tagen erreicht werden kann. Es wird ein Prozess sein, aber wir müssen jetzt damit beginnen, und so wie wir mit Gaza begonnen haben, müssen wir sicherstellen, dass wir dies auch an anderen Fronten tun.

Vielen Dank für das Gespräch.

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