Pejsichs Geigen – eine Überlebensgeschichte aus Moldawien

Pejsichs Geigen – eine Überlebensgeschichte aus Moldawien

Stepan erzählt seine bewegende Geschichte
Stepan wurde im sibirischen Gulag geboren und erzählt seine bewegende Geschichte. Alle Fotos: privat

Der anhaltende Krieg in der Ukraine hat auch das ohnehin arme Nachbarland Moldawien stark in Mitleidenschaft gezogen. Fast ein Drittel der Bevölkerung hat das einst blühende Land inzwischen verlassen. Doch immer noch birgt das einstige Bessarabien jüdische Überlebensgeschichten, die noch nie erzählt worden sind. Die CSI-Mitarbeiterinnen Alina und Anemone sind regelmäßig vor Ort.

Stepan trägt eine schwarze Lederjacke bei unserer ersten Begegnung in Belz. Doch die Coolness bröckelt schnell. Wir erklären, dass es Menschen in Deutschland gibt, die das jüdische Volk lieben und die praktisch helfen wollen. „Endlich höre ich einmal vernünftige Worte!“ ruft Stepan aus und kämpft gleich darauf mit den Tränen.

Dann erfahren wir gleich zu Beginn ein verstörendes Detail aus seiner Biografie, dem weitere folgen sollten. „Ich bin 1950 im Gulag geboren, in Sibirien.“ Wie kommt man dazu, sein Leben in einem der berüchtigten stalinistischen Straflager zu beginnen? Das ist eine lange Geschichte …

Verfolgt von Bolschewiki und Stalinisten

„Meine Mutter Klawdia war 17, als sie mit einem rumänischen Offizier, Iwan, verheiratet wurde“, berichtet Stepan. „Das, was ich von ihm geerbt habe, ist sein Familienname. Er hatte in der zaristischen Armee gedient. Nach der Oktoberrevolution musste er fliehen. Er war nach China entkommen, von dort nach Frankreich, und schließlich nach Moldawien, was damals rumänisch war und noch Bessarabien hieß.“ 1940 marschierten dort gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt die Sowjets ein. Wieder musste Iwan fliehen. Ein Jahr später kam er zurück.

Stepan zeigt CSI-Mitarbeiterin Anemone seine Fotosammlung. Seiner Mutter, die ihn irgendwie durch die harten Jahre seiner Kindheit brachte, stand er sehr nahe.

„Ungheny war der Grenzort damals“, erzählt Stepan. „Als er Mama sah, wollte er zu ihr hinlaufen. In dem Moment haben die Sowjets ihn festgenommen. Er ist mit tausenden Menschen, die willkürlich abgeholt wurden, einschließlich der ganzen Familie nach Sibirien deportiert worden – auch Mama und meine neun Monate alte Schwester, in einem separaten Waggon. Dann haben sie die Männer im Ural ausgesetzt. Sie haben sie dort mit Fisch vergiftet. Keiner hat überlebt.“

Allein in Sibirien

Stepans Mutter Klawdia fand sich mit ihrem Säugling in einem Arbeitslager in der unbarmherzigen Einöde Sibiriens wieder. Dorthin wurde noch eine weitere Familie deportiert, die Klawdias Lebensweg kreuzen sollte – ein gewisser Iosif mosaischen Glaubens aus dem moldawischen Belz mit seiner Frau Fejga, die wunderbar Geige spielen konnte, und seinem 17jährigen Sohn Pejsich, der ebenfalls musikalisch hochbegabt war. Iosif besaß zwei Läden in Belz. Das war sein Verbrechen.

„Sie waren im selben Verbannungszug“, erzählt Stepan weiter. „Opa Iosif ist genauso im Ural ermordet worden wie Mamas erster Mann, Iwan. Oma Fejga und ihr Sohn Pejsich kamen ins gleiche Lager wie Mama. Dort in der eisigen Einöde bei Tomsk sind die Gefangenen wie Fliegen gestorben, zuerst die deportierten jüdischen Frauen. Das waren alle ‚Pani‘ – Damen von Welt aus den wohlhabenden bessarabischen Familien. Die Juden hierzulande hatten alle ein kleines bisschen Besitz, einen bescheidenen Wohlstand.“

Der Geigenspieler

Dreitausend Intellektuelle, Leiter und Ladenbesitzer aus Bessarabien waren in dem Lager zusammengepfercht. Unterkünfte gab es nicht; die Gefangenen mussten sich selbst eine Art Erdlöcher graben – Lehmhöhlen, die teils in die Erde eingelassen wurden. Zu essen gab es kaum etwas.

„Mama hat immer zu mir gesagt: ‚Junge, wenn du eine Geige hörst, dann höre zu, was sie dir zu sagen hat‘“, erinnert sich Stepan. „Papa hatte seine alte Geige mitgenommen. Er wurde von allen geliebt. ‚Petja, spiel!‘ haben die Gefangenen ihn angebettelt. Akkordeon konnte er auch spielen. Sogar die Wachen haben Papa immer auf ihre Feste bestellt. Da musste er sie unterhalten. Von seinem kargen Lohn hat er dann Mama und ihrem Kind zu essen gegeben.“

Stepans Vater Pejsich spielte wunderbar Geige. Grund seiner Deportation nach Sibirien war, dass der Vater zwei Läden besessen hatte.

Spätestens 1944 hatte es sich im Lager herumgesprochen, dass von den Männern, die in den Ural gebracht worden waren, niemand mehr lebte. 1950 wurde Stepan geboren. Erst 1956, bereits drei Jahre nach Stalins Tod, wurden die Gefangenen rehabilitiert und nach Hause geschickt.

Rückkehr in die fremde Heimat

„Papa ist nach dem Lager in eine Fabrik in Tomsk arbeiten gegangen“, fährt Stepan fort. „Das Werk wurde von deutschen Kriegsgefangenen gebaut. Dort hat er sich wohl mit einem der deutschen Gefangenen angefreundet. Kurz bevor dieser starb, hat er Papa seine Geige geschenkt.“

Pejsich kehrte nicht mit nach Moldawien zurück. „Er hat dort eine neue Familie gegründet … Mama hat ihm nie einen Vorwurf gemacht. Sie ist dann mit uns zwei Kindern 1956 allein zurück“, erinnert sich Stepan, während sich seine Augen mit Tränen füllen.

Gebannt haben wir seiner tragischen Geschichte gelauscht. Doch nun wird er damit nicht mehr allein sein. Jemand in Deutschland wird sie sich zu Herzen nehmen, für ihn beten und ihn unterstützen. Stepan weiß immer noch nicht, wie ihm geschieht: „Das habe ich noch nie gehört, dass es Deutsche gibt, die Juden lieben!“

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