Rettung vor dem Holocaust: Neue Hoffnung in den Tropen

Rettung vor dem Holocaust: Neue Hoffnung in den Tropen

Georg Loewenstein
Solange er kann, möchte Georg Loewenstein, hier in seiner Jerusalemer Wohnung, die Geschichte seiner Rettung erzählen und den Philippinen danken. Alle Fotos: privat

Georg Loewenstein hat den Holocaust in einem Land überlebt, das zu dieser Zeit viele nur von Postkarten kannten – die Philippinen. Doch in der zunächst sicher anmutenden Zufluchtsstätte entbrennt für die Berliner Familie erneut ein Kampf ums Überleben, als die Japaner den Inselstaat besetzten und dort grausame Massaker verübten. Mittlerweile lebt Georg Loewenstein in Jerusalem. Im August wird er 90 Jahre alt. Christen an der Seite Israels hat er seine bewegende Geschichte erzählt.

„Ich komme gerne hierher. Das Leben ist so ernst, hier kann man ein bisschen fröhlich sein“, sagt Georg Loewenstein. Gerade sind die letzten Töne bekannter Hits wie „Bei mir bist du schein“ oder Frank Sinatras „My Way“ verklungen. Das Unterhaltungs-Duo auf der Bühne packt seine Instrumente ein. Das Publikum löst sich allmählich auf. Man plaudert noch ein bisschen, schnappt sich noch einen Keks und macht sich auf den Heimweg. Zurück bleibt eine gute Atmosphäre, hier im Café Europa, einem beliebten Treffpunkt für Holocaust-Überlebende in Jerusalem. Jeden Sonntagnachmittag sorgt die Jerusalem Foundation unter anderem mit Spenden von Christen an der Seite Israels dafür, dass es ein buntes Programm bei Kaffee und Kuchen gibt. Ein Programm gegen die Einsamkeit, unter der viele Senioren leiden.

Auch Georg hat die Musik genossen. Nun ist er auf der Suche nach einem ruhigen Ort in dem Gebäude, an dem er seine Geschichte erzählen kann. Georg ist ein echter Berliner, ebenso wie seine Eltern. Die Familie hat den Holocaust überlebt – durch Flucht auf die Philippinen. „Ich war später noch einige Male in Deutschland. Einmal war ich am Schabbat in einer Synagoge in Berlin. Der Sohn des Rabbis fragte mich, wer ich sei. Ich antwortete ‚Wetten, dass ich der einzige echte Berliner hier bin?´ Es waren etwa 100 Menschen da, ich habe die Wette gewonnen. Dann habe ich meine Geschichte vor der Gemeinde auf Deutsch erzählt. Heute erzähle ich sie zum zweiten Mal auf Deutsch.“

Sein Deutsch ist gut, obwohl er es im Alltag kaum noch spricht. Aber er trainiert es. „Einmal in der Woche treffe ich mich mit jungen religiösen Studenten, dann sprechen wir gemeinsam Deutsch“, erzählt Georg. Hans-Georg Loewenstein wurde 1934 geboren. Sein Vater hat im Ersten Weltkrieg gekämpft. „Er war Träger des Eisernen Kreuzes und war stolz darauf, aber am Ende musste er fesstellen, dass es nichts bedeutete“, sagt Georg und fügt hinzu: „Jüdisch war unsere Religion, aber deutsch unsere Nationalität. Wir glaubten, dass das deutsche Volk nicht zulassen würde, dass sie uns verfolgen.“ In der Pogromnacht wurden die Männer der Familie vorübergehend verhaftet. Nach ihrer Freilassung war den Loewensteins klar, dass sie fliehen müssen.

Dana Nowak trifft Georg Loewenstein im Café Europa, einem Treffpunkt für Holocaust-Überlebende in Jerusalem.

Schweren Herzens gaben sie ihr Zuhause auf. Im August 1939 brachte ein Schiff sie zusammen mit mehr als 1300 weiteren Juden auf die Philippinen. Der Inselstaat im Pazifik war eines der wenigen Länder, das damals seine Grenzen für jüdische Flüchtlinge nicht nur geöffnet hatte. Seine Regierung hatte gemeinsam mit den USA und den jüdischen Gemeinschaften in beiden Ländern auch einen Plan erarbeitet, um Juden vor dem Nazi-Regime zu retten und aufzunehmen.

„Viele Menschen wissen nichts darüber, wie die Philippinen den Juden geholfen haben. Solange ich kann, möchte ich meine Geschichte erzählen und den Philippinen danken. Sie haben uns so freundlich empfangen. Wenn sie uns nicht aufgenommen hätten, wäre meine Familie nicht mehr am Leben“, erzählt Georg.

Japans Massaker in Manila

Doch im Dezember 1941 änderte sich alles: Japan griff Pearl Harbour und Manila an und besetzte schließlich die Philippinen. Anfangs hätten sich die Japaner über die Deutschen mit den Hakenkreuzpässen noch gefreut und ihnen erlaubt, in ihren Häusern zu bleiben. Mit dem „J“ für „Jude“ im Pass konnten sie nichts anfangen. „Sie dachten, wir seien Verbündete“, erzählt Georg. Doch später seien die Japaner von Deutschland aus angewiesen worden, die Juden zu verhaften. „Das Leben unter den Japanern war sehr hart. Wir sprachen kein Japanisch, sie kein Englisch. Sie haben viel mit uns geschimpft“, erinnert sich Georg. Je länger der Krieg gedauert habe, desto größer sei die Hungersnot geworden. „In den letzten Wochen, bevor die Amerikaner nach Manila kamen, ermordeten die Japaner in der Stadt mehr als 100.000 Zivilisten. Sie wollten, dass niemand mehr da ist. Das war die schlimmste Zeit. Sie sind von Haus zu Haus gegangen, haben die Häuser angezündet und die Bewohner getötet.“

Georgs Onkel und seine Tante wurden ermordet, als sie in einem Gebäude des Roten Kreuzes Schutz suchten. „Ich habe gesehen, wie die Japaner vor dem Nachbarhaus ein Baby in die Luft geworfen und mit einem Bajonett aufgespießt haben. Das sind Bilder, die man nie wieder vergisst. Dann kamen sie auf unser Haus zu. Wir hatten einen Hinterausgang. Durch diesen flüchteten wir in die Überreste eines Nachbarhauses, das bereits zerstört worden war. Neben uns lag eine Frau mit aufgeschlitztem Bauch. Wir versteckten uns unter einem Blechdach. Zwei Tage hielten wir es hier aus, neben dieser Leiche. Ich war damals elf Jahre alt.“

Ein bewegender Moment für den kleinen Georg: Das erste Passah-Fest nach der Befreiung der Philippinen von der japanischen Besatzung durch die Amerikaner. Jüdische Soldaten feiern mit der überlebenden jüdischen Gemeinde in Manila. Georg durfte die vier traditionellen Fragen am Seder-Abend stellen, mit dem das Fest beginnt.

Um sich zu den Amerikanern durchzuschlagen, verließ die Familie schließlich das Versteck. „Ich bin mit meinem Großvater nach draußen gegangen. Er stand neben mir und plötzlich wurde er getötet. Er war von etwas getroffen worden. Auf einmal war er tot. Ich habe keinen Kratzer abbekommen. Er hat sich noch zu mir gedreht und gesagt: ,Du gehst besser zurück, es wird gefährlich.´ Diese Erinnerungen sind in mich eingebrannt.“

Das japanische Regime hatte in den drei Jahren seiner Besatzung etwa eine Million Filipinos und Hunderte Juden ermordet. Es legte zahlreiche Städte in Schutt und Asche. 1945 kapitulierte es vor den Truppen der Vereinigten Staaten von Amerika. 1946 erklärten die Philippinen ihre Unabhängigkeit. Georg und seine Eltern hatten überlebt. Sie blieben noch anderthalb Jahre auf den Philippinen, dann wanderten sie in die USA aus. In New York und später in Florida begannen sie ein neues Leben. Aus dem kleinen Hans-Georg wurde Georg, weil sich dieser Name einfacher auf Englisch aussprechen ließ. „Bei Hans wusste jeder gleich, dass ich Deutscher sein muss. Aber meine Mutter hat sich sehr schwergetan, mich Georg zu nennen.“

„Wer bin ich? Was bin ich? Was ist mein Land?“, diese Fragen habe er sich in jungen Jahren oft gestellt, erzählt Georg weiter. „Zu Hause haben wir immer deutsch gesprochen. Wir hatten deutsche Sitten, es gab deutsches Essen. Rouladen und Sauerbraten, das habe ich gerne gegessen, das vermisse ich. Aber als ich zum ersten Mal wieder in Berlin war, habe ich mich nicht deutsch gefühlt.“

Die traumatischen Erlebnisse in seinen jungen Jahren haben Georgs gesamtes Leben geprägt. „Ich hatte keine Kindheit. Ich musste mich sehr schnell sehr reif verhalten. Ich war als kleines Kind immer von Erwachsenen umgeben, war das einzige Kind der Familie. Ich habe nie gelernt, richtig mit meinen Kindern umzugehen, mich auf den Boden zu knien, mit ihnen zu spielen oder mit Bausteinen zu bauen.“

Mit 86 Jahren: Neuanfang in Israel

Seit drei Jahren lebt Georg nun mit seiner an Alzheimer erkrankten Frau in Israel. Ausschlaggebend für die späte Einwanderung waren die in Israel lebenden Kinder, Enkel und Urenkel. „Du hast doch schon einen Fuß hier in Israel, wann kommt ihr ganz?“, hatte ihn einer seiner Enkel einmal gefragt. Damit hatte er auf den großväterlichen Fußabdruck am Denkmal der Offenen Türen in Rishon LeZion angespielt. Es erinnert an die Bereitschaft der Philippinen, damals jüdische Flüchtlinge aufzunehmen und enthält die Fußabdrücke von drei geretteten Juden – darunter auch die von Georg.

Um Alijah zu machen, also nach Israel einzuwandern, musste Georg eine beglaubigte Geburtsurkunde einreichen. „Ich war in Berlin auf dem Standesamt, da haben sie gesagt, es gebe keine Notiz von mir. Aber dann erfuhr ich, dass es sechs Standesämter in der Stadt gibt. Beim dritten hatte ich Erfolg. Ich fand es schon interessant, dass sie die Papiere von 1934 noch hatten.“

In den vergangenen Jahrzehnten war er mehrmals in Berlin. Sein Bruder, er starb noch vor der Flucht als kleines Kind, und Georgs Großvater liegen hier begraben. „Der Grabstein meines Bruders war ganz verwittert, ich habe einen neuen gekauft.“

„Nehmt den Antisemitismus ernst“

Das Leben in Israel ist für Georg nicht leicht und oft fühlt er sich einsam. „Ich spreche kein Hebräisch und der kulturelle Unterschied zwischen Israel und den USA ist sehr groß. Ich habe keine Freunde hier, niemanden, mit dem ich etwas unternehmen kann“, erzählt der 89-Jährige und fügt nachdenklich hinzu: „Vielleicht gehe ich wieder zurück.“

An die nächsten Generationen hat Georg eine Botschaft: „Nehmt den Antisemitismus ernst. Das ist der Beginn von etwas und wenn er nicht bekämpft wird, wird es böse enden. Seid wachsam.“

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 136. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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