Noch einmal haben sich unsere Mitarbeiterinnen Anemone (CSI Deutschland) und Alina (Ukraine) auf den Weg gemacht zu den Überlebenden und Bedürftigen unseres Patenschaftsprogramms. Eigentlich ist der Winter nicht gerade die beste Zeit, um für Besuche unterwegs zu sein – zu unberechenbar sind die Straßenverhältnisse und die Auswirkungen des fortdauernden Krieges. Tagelang herrschte im Süden der Ukraine und Moldawiens Schneechaos. Doch die Aussicht, hunderten von jüdischen Senioren eine Chanukkafeier auszurichten und Licht in ihren dunklen Alltag zu bringen, überwand alle Hindernisse.
Gut, dass meine eigenen Sachen mit erprobter Packtechnik inzwischen fast vollständig ins Handgepäck passen. Mein großer Koffer ist gefüllt mit 50 Geschenktütchen, die eine liebe Freundin im Vorfeld gepackt hat. Unseren Leitfaden für die Reise finden wir in der Tageslosung: „Euch, die ihr meinen Namen fürchtet, soll aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit und Heil unter ihren Flügeln.“ Das ist unser Wunsch und unser Gebet für die vielen Einsamen und Gebrochenen – dass der Gott Israels Sein Licht in ihrer Dunkelheit erstrahlen lässt und sie durch Seinen liebevollen Trost Heilung für ihre Herzen empfangen.
Das Gute, das ihr tut …
Wenn ein alter Kischinauer Jude einer Deutschen die Hand küsst, scheint das irgendwie verkehrte Welt zu sein. Wenn ich es nicht besser wüsste … Zeiten der Wiederherstellung unter der aufgehenden Sonne der Gerechtigkeit, mit Heilung in ihren Strahlen.
„Ich bin das erste Mal hier, ich bin neu im Programm“, sagt Iosif, als er auf mich zukommt. Zu unserer ersten Chanukka-Feier in Kischinau haben wir an die 50 jüdische Senioren aus unserem Programm in die Räumlichkeiten des jüdischen Sozialwerks Chesed eingeladen. Es gibt Kaffee und Tee, moldawisches Gebäck, Pralinen und Livemusik. „Meine Mutter ist damals zu Kriegsbeginn im achten Monat schwanger geflohen. Dann wurde der Zug bombardiert. Ihre Mutter hat sich über sie geworfen. Sie haben überlebt, in Kasachstan. Aber das Kind hat sie bei dem Trauma verloren … Ich bin euch so dankbar, dass ihr gekommen seid. Das Gute, das ihr tut, wird nicht verlorengehen. Gott wird es euch reich vergelten!“
„Erinnert ihr euch an mich?“ Eine Dame streckt uns die Hände entgegen. „Ich bin Veta, aus Dubasari, wo mein Großvater erschossen wurde. Ich war letztes Jahr im Café mit dabei.“ „Dankeschoyn“, sagt ihre strahlende Nachbarin auf Deutsch.
In jeder Generation ein Trauma
Olga sieht uns zum ersten Mal. Ihr Vater, Salamon, kam ursprünglich aus Moskau. „Er wurde deportiert, nach Krasnojarsk in den äußersten Norden, unter Stalin.“ Warum? „Er galt als Volksfeind. Seinen Vater, meinen Opa, haben sie erschossen. Ossej hieß er, mein Opa. Ja, ich denke, es war wegen der Nationalität. Damals hat man den wahren Grund nie erfahren. Oma ist nach Sibirien geflohen. Und ich bin da in der Verbannung im äußersten Norden geboren.“
Olga weiß nicht, wie sie ihre Dankbarkeit ausdrücken soll. Sie umarmt mich, die Tränen schießen ihr in die Augen. Spontan drückt sie mir zwei Bonbons in die Hand – das, was sie gerade dabeihat. „Ich bete jeden Tag für euch, dass Gott euch behütet!“
Lew fiel mir gleich auf. Er sitzt in einem abgenutzten, löchrigen Leinenhemd an der Ecke eines Tisches. Jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeigehe, bedankt er sich. „Die Hilfe, die ihr uns gebt, ist mit Worten nicht zu beschreiben!“ Lews Eltern kommen aus Winniza in der Ukraine. „Ich trage den Namen von Onkel Lew, der im Krieg gefallen ist“, erklärt er uns. „Meine Eltern haben überlebt. Sie sind nach Kirgisistan geflohen. Meine Großeltern? Nein, sie haben nicht überlebt. Papas Eltern sind in Winniza von den Nazis erschossen worden. Aron hieß mein Opa, Raja meine Oma. Danke, dass ihr uns helft!“
Fünfzigmal Socken, Tee und Schokoladenkugeln
Wir erzählen von den vielen Christen an der Seite Israels, die es in unseren Ländern gibt. Von den 50 Geschenktütchen von Marei, die ihren Weg nach Kischinau gefunden haben und die zufällig genau für alle reichen. Davon, dass Gott gerade jetzt in dieser dunklen und schwierigen Zeit zu seinem Volk sagt: „Steh auf, erstrahle, denn dein Licht ist aufgegangen, die Herrlichkeit des HERRN erscheint über dir!“ (Jesaja 60)
Nina erinnert daran, Jerusalem nicht zu vergessen. Einer der Gäste stimmt die israelische Nationalhymne an – auf Russisch. Pavel verabschiedet sich und spricht für viele der Gäste: „Erinnert ihr euch an mich vom letzten Treffen? Ackermann ist mein Name. Diese Feier heute war so etwas Besonderes! So etwas bleibt das ganze Leben in Erinnerung!“
Spontan trösten am Wegesrand
Den Nachmittag wollen wir nutzen, um noch einige Besuche zu machen. Einige Stunden lang läuft alles sehr mühsam. Plötzlich ist überall Stau; wir kommen zu einer Frau, die versehentlich für unser Programm vorgeschlagen wurde, und als wir weiterziehen wollen, gibt es keine Taxen mehr in der moldawischen Hauptstadt. Unseren für den Abend geplanten Besuch müssen wir auf den nächsten Morgen verschieben, da in der Stadt kein Durchkommen ist, und die teuren Blumen, die wir für den Besuch gekauft hatten, haben innerhalb kürzester Zeit schon gelitten.
Auf dem Weg zum Hotel sagt Alina plötzlich: „Lass uns doch bei der Omi da drüben einen Strauß Trockenblumen kaufen, dann haben wir wenigstens etwas, das sich bis morgen hält.“ Gesagt, getan. Ein weiterer Kunde bleibt stehen. Innerhalb einer Minute hat die ältere Frau ihre beiden Sträuße verkauft.
Da ist noch etwas
Ein Moment halten wir inne, da wir spüren, da ist noch etwas … Wer ist diese Frau, die da geduldig steht und wartet, dass jemand ihre Arbeit würdigt? Macht sie es als Hobby? Tut sie es, um zu überleben? Ein Blick auf ihre Tasche und ihre abgetragene Kleidung beantwortet die Frage. „Ich habe lange an diesen Sträußen gearbeitet, es sind ganz besondere Blumen“, sagt sie. „Ihr habt meinen Tag zu einem guten Ende gebracht. Ich habe den ganzen Tag gestanden und auf Käufer gewartet. Ich war schon den Tränen nahe. Ich bin 1946 geboren. Ich bin ganz allein …“
Vielleicht kann sie für sich noch etwas aus unserem Gesteck machen? Wir drücken es ihr in die Hand. Sie beginnt zu weinen. „Ich habe noch nie in meinem Leben Blumen bekommen!“ Ich nehme sie in den Arm. „Wer seid ihr? Woher kommt ihr?“, fragt sie verwirrt. „Gott hat uns zu Ihnen geschickt“, antwortet Alina.
Zufällig haben wir noch ein einziges liebevoll eingepacktes Geschenk von Marei aus dem großen Koffer dabei. Und eine große Schachtel Pralinen. Und einen Euro-Schein. „Gott hat Sie nicht vergessen!“, spreche ich ihr zu. „Geht weiter! Ich halte es nicht aus! So eine Liebe!“
Für diese einsame Blumenverkäuferin hatten sich alle Mühen und Umwege des Nachmittags gelohnt.