Wir treffen Boris, der seit kurzem durch das CSI-Patenschaftsprogramm unterstützt wird, in den Räumlichkeiten der Jüdischen Gemeinde in Sumy, ganz im Norden der Ukraine. Unsere erste Begegnung stellt sofort eine Herzensverbindung her.
Als ich erzähle, wo ich herkomme, sagt Boris: „Ich bekomme eine Gänsehaut!“ Fünf Jahre lang war er als junger jüdischer Offizier der Roten Armee in der Magdeburger Börde stationiert. „Ich habe so schöne Erinnerungen aus dieser Zeit … Ich habe viel mit den Deutschen am Stammtisch geredet. Einer hat mal das Hosenbein hochgekrempelt und mir seine Kriegsverwundung gezeigt. Sie wurden ja auch an die Front geschickt wie wir …“
Boris Solomonow heißt er, Oberst der Reserve. Als er erzählt, dass seine Großmutter während der deutschen Besatzung in Sumy überlebt hat, frage ich nach. „Das kam so: Als die Deutschen einmarschierten, kam ein Offizier in das Haus von Großmutter. Er hat sofort bemerkt, dass da eine Singer-Nähmaschine stand. ‚Näh‘ mir einen Kittel und ein paar Hosen‘, hat er gefordert. Großmutter war die beste Schneiderin der Stadt. Aber sie hat sich geweigert; sie war ziemlich selbstbewusst. Da hat er sie in die Scheune geschickt, sich selbst im Haus einquartiert und auf dem Hof ein paar Mal in die Luft geschossen. Schließlich hat sie klein beigegeben. Sie hat Maß genommen und ihm neue Sachen genäht. Am Abend hat er einen Brotlaib gebracht, dazu Speck und eine Dose Hühnerfleisch, und gesagt: ‚Hier, Mutter, für dich.‘ So hat sie den Krieg überlebt; der Offizier hat sie gedeckt.“
Auch die zweite Großmutter von Boris war eine ganz besondere. Die Familie väterlicherseits stammte aus dem Schtetl Kobeljaki bei Poltava. „Ester hieß sie. Ich erinnere mich, wie ich sie als kleiner Junge besucht habe“, fährt Boris mit geröteten Augen fort. „Sie hat den allerbesten Forschmak (Heringssalat) gemacht. Ich mache ihn heute noch genauso wie sie damals. Sie hatte in St. Petersburg Medizin studiert. Dann ist sie zu Kriegsbeginn als Sanitätsärztin in ein Lazarett nach Stalingrad abkommandiert worden. Einmal haben sie dort einen schwer verwundeten deutschen Offizier gebracht. Es gab einen großen Aufruhr. Aber sie hat gesagt: ‚Natürlich werde ich ihn operieren. Ich habe den Eid des Hippokrates geschworen. Er ist in erster Linie ein Mensch, und er braucht Hilfe. Das ist alles, was für mich zählt.‘“
Ich habe nochmal in meinem Koffer gegraben und ein Päckchen Kaffee aus der Magdeburger Rösterei mit Postkarte für Boris hinterlassen.