„Zu uns kommt selten jemand“ – Besuch bei Holocaust-Überlebenden in Moldawien

„Zu uns kommt selten jemand“ – Besuch bei Holocaust-Überlebenden in Moldawien

Tatjana erhält von CSI-Mitarbeiterin Anemone (re.) eine selbstgestrickte Decke aus Deutschland. Alle Fotos: CSI

Nicht nur in der Ukraine ist die Not insbesondere unter den jüdischen Senioren groß. Auch in Moldawien – dem einst dicht jüdisch besiedelten Bessarabien – ist der Bedarf an Trost und praktischer Hilfe groß. Nach fast einem Menschenleben Verfolgung und Ausgrenzung jetzt ausgerechnet von privaten Spendern aus Deutschland Aufmerksamkeit und Unterstützung zu erhalten, ist für viele berührend und heilsam.

Mai 2023 in Chisinau. Ich sitze mit meiner ukrainischen Kollegin Alina und unseren Partnern vom jüdischen Sozialwerk Chesed zusammen, um unsere nächsten gemeinsamen Schritte zu planen. Bisher haben wir uns mit unseren Besuchen auf die moldawische Hauptstadt konzentriert, denn hier lebt fast die Hälfte der Bevölkerung. Doch die Infrastruktur der Versorgungsleistungen, die bei uns in Deutschland auch im ländlichen Raum einigermaßen gleichmäßig verteilt ist, ist in der ehemaligen Sowjetunion außerhalb der größeren Städte nur ansatzweise vorhanden. Dort müssen wir hin, wenn wir die Bedürftigsten finden wollen. Noch bevor ich einen Vorstoß wagen kann, fragt der Leiter des Sozialwerks: „Könntet ihr euch vorstellen, euer Hilfsprogramm auch auf die ländlichen Regionen im Süden auszuweiten? Dort sind die Menschen noch viel ärmer …“

Unterwegs in der moldawischen Provinz

Einen Monat später sind wir mit unseren Partnern von der jüdischen Gemeinde unterwegs in den moldawischen Süden. Es ist heiß. Die Klimaanlage im Minibus ist schon lange kaputt, die offenen Fenster müssen reichen. Einige für den Export an Wein und Obst häufig genutzten Fernverkehrsstraßen sind geteert; die übrigen Kilometer rumpelt der Wagen wie ein Güterzug über die Kanten der sowjetischen Betonplatten oder schlingert auf unbefestigten Wegen im Slalom um die Schlaglöcher.

Der Süden Moldawiens ist von Armut geprägt.

Langsam wird mir klar, warum es hier bei den Kandidaten für unser Programm so viele tragische Geschichten gibt. Genau wie in den ukrainischen Dörfern gab es hierzulande kaum kriegswichtige Industrie, die nach Osten evakuiert werden musste und eine Möglichkeit zur Flucht geboten hätte. Der Holocaust hat die jüdische Landbevölkerung ungeschützt überrollt.

„Wir sind so weit weg, hier kommt selten jemand her“, sagen uns die Leute aus der kleinen jüdischen Gemeinde in Kagul. Unser Besuch ist ein großes Ereignis. Die Gemeindemitglieder kann man inzwischen an zwei Händen abzählen.

Von Kaunas nach Kagul

Sofia empfängt uns am Gartentor mit ausgebreiteten Armen und bittet uns gleich auf die Terrasse. Ihre Haushaltshilfe hat Piroschki gebacken. Sofia besteht darauf, dass wir die Himbeeren und Erdbeeren aus ihrem Garten probieren. Ihr besonderer Stolz ist der Granatapfelbaum, der mit orangen Blüten übersät ist. Auch der Feigenbaum hat Früchte angesetzt.

„Mein jüdischer Name ist Sara“, vertraut uns Sofia an. „Ich komme aus Litauen. In Kaunas haben wir gewohnt – mein Papa Selig, meine Mama Ester und ich. Da gab es viele Juden.“

Wir fragen Sara-Sofia, wie sie den Krieg überlebt hat. „Ich bin mit Papa ins Ghetto gekommen. Ich war damals vier. Eines Tages haben sie ihn abgeholt. Ich habe ihn nie wiedergesehen.“ Und ihre Mutter? „Die ist schon bei einem Bombenangriff umgekommen, gleich als der Krieg anfing.“ Bis zur Befreiung 1944 war Sofia im Ghetto. Dann wurde sie mit den Ghettowaisen in ein staatliches Kinderheim gebracht. Nach und nach fanden sich Pflegeeltern für die traumatisierten Kinder.

Sofia (li.), hier mit CSI-Mitarbeiterin Alina, verlor beide Eltern im Holocaust.

„Eines Tages kam ein Ehepaar aus Odessa“, erzählt Sofia weiter. „Sie haben mich mitgenommen und adoptiert. Mein Adoptivvater Grigori war auch jüdisch. Er hatte mit ansehen müssen, wie seine Frau und seine Kinder vor seinen Augen deportiert wurden. Er hat sie nie wiedergesehen. Und mich hat er aufgenommen mit seiner zweiten, moldawischen Frau. Sie haben mir ein neues Zuhause gegeben.“

Wieder eine Perle in Gottes Krone. Eine einzige Decke habe ich mit aus Deutschland – handgestrickt von Lisbeth. Meinen halben Koffer hat sie eingenommen. Wir legen sie Sofia um die Schultern. „Ich merke sofort, was für eine Wärme von ihr ausgeht. Ich fühle mich so geborgen“, sagt Sofia. „Gesundheit wünsche ich all diesen lieben Menschen in Deutschland, dass es ihnen gut geht!“

Von den Nachbarn verraten

Der Weg zu Tatjanas Häuslein führt durch ihren Gemüsegarten, in dem alles wächst, was man sich auf der sommerlichen Speisekarte vorstellen kann. „Das mache ich alles alleine“, sagt Tatjana mit einem bescheidenen Lächeln. „Der Djeduschka hilft ein bisschen mit.“ Der Djeduschka ist Stepan, der Tatjanas Leben teilt, seit ihr Mann gestorben ist. Wir betreten ein Haus, das Geschichte atmet.

„Alles hier ist von meinen Eltern, ich habe nichts Neues gekauft“, erzählt Tatjana. Ihr Vater kam aus einer großen Familie mit fünf Brüdern und zwei Schwestern. In Vertiujeni lebten sie, in einem Schtetl im Norden Moldawiens. Avram-Srul hieß der Großvater, Tuba die Großmutter. „Ich habe ihren Namen bekommen“, erklärt Tatjana. Wieder einen Namen decodiert: Tuba-Tova-Tatjana.

Tatjanas Familie wurde auf der Flucht von den Nachbarn verraten.

„Die Brüder mussten an die Front. Die Großeltern sind mit den Frauen und Kindern der Familie in einem Güterzug nach Krasnodar in die Evakuierung gegangen“, fährt Tatjana fort. Doch die Gegend an der Ostseite des Schwarzen Meeres war nicht weit genug weg. „Dann sind die Deutschen weiter vorgerückt und die Nachbarn haben Papas Familie verraten. Sie sind alle ermordet worden und liegen dort außerhalb der Stadt in einem Massengrab. Papa und einer seiner Brüder haben überlebt, weil sie an der Front waren … Ich war Papas Mädchen, er hat mich so geliebt.“

Ein Schal aus Deutschland bringt ein strahlendes Lächeln auf Tatjanas Gesicht. Und uns bringt Stepan mit seinem Akkordeon zum Lächeln.

Alexander Avrum Motel Goldberg

Zum Abschluss unserer Besuchsreise laden wir die Senioren in Chișinău, die noch mobil sind, zu einem gemeinsamen Mittagessen ein – 15 neuen Kandidaten für unser Patenschaftsprogramm. Schon unterwegs habe ich das erste Gespräch – mit Alexander, der in der jüdischen Gemeinde bei uns zugestiegen ist. Alexander Goldberg. „Eigentlich sollte ich Avrum-Motel heißen“, erzählt Alexander. „Aber das hätten die sowjetischen Behörden nicht zugelassen und Papa wollte nicht, dass ich mein ganzes Leben für meinen Namen gehänselt werde. Also bin ich ein Alexander geworden. Aber Avrum (Abraham) heiße ich wirklich mit meinem jüdischen Namen.“

Ich lerne immer wieder etwas. So langweilig sind die ständig wiederkehrenden sowjetischen Namen der jüdischen Senioren gar nicht. Wenn man sich reinhört, kann man langsam auf die Wasserzeichen im Papier schließen: Michail steht für Moische oder Motel, Alexander für Abraham, Faina für Fanja oder Fejgele, Raisa für Rebekka und so weiter.

Alexander-Avrum-Motel geht etwas gebeugt. Zur Feier des Tages hat er sein abgetragenes schwarzes Jackett angezogen. Er hat sein Leben lang als Buchhalter gearbeitet. Doch wenn er zu sprechen beginnt, meint man, einen Gelehrten vor sich zu haben.

„Magdeburg – ja, das ist in Ostdeutschland. Karl-Marx-Stadt, natürlich kenne ich das. Ich kenne alle deutschen Kanzler, angefangen von Adenauer. Ich habe immer die Nachrichten gehört. Das hat mich einfach interessiert. Und zwar verschiedene Kanäle. Ich bin der Meinung, man muss sich verschiedene Seiten anhören, um sich ein ausgewogenes Bild zu machen. Nachts haben wir außer den sowjetischen Nachrichtensendern immer heimlich Deutsche Welle und BBC gehört. Ich erinnere mich noch, wie Willi Brandt vor dem Ghetto-Mahnmal in Warschau niedergekniet ist. Damit hat er große Geschichte geschrieben; aber nicht von allen in der SPD hat er dafür Beifall bekommen.“

Alexander Goldberg hat viel erlebt und viel zu berichten.

Mir ist schnell klar, dass wir Alexander mal einen ganzen Tag extra widmen müssen. 77 Synagogen hat es in Chișinău gegeben zwischen den Weltkriegen; eine davon ist erhalten geblieben und heute noch in Gebrauch, erfahren wir von ihm.

Alexanders Vater wurde an die Front geschickt, seine Mutter floh hochschwanger mit den Eltern und Schwiegereltern nach Zentralasien. Alexanders neugeborener Bruder lebte nur einen Monat; die Entbehrungen der Flucht setzten auch dem Leben der Großeltern ein frühes Ende. Alexander wurde in den Hungerjahren direkt nach dem Krieg geboren.

„In unserem Hof lebten elf Parteien“, erinnert sich Alexander. „Eine von den elf war Moldawierin, alle anderen waren jüdisch. In die Synagoge zu gehen war gefährlich, wenn man von den Behörden erwischt wurde. Aber zu den Feiertagen sind alle Juden in die Synagoge gegangen.“

Eine Familie hatte Alexander nie. Dass er an allem sparen muss, ist unschwer zu erkennen. „Es ist mir so eine Ehre, dass ich bei dem Treffen heute dabei sein kann“, sagt Alexander.

Ich erzähle, warum wir da sind und was Gott aus unserer Geschichte machen kann, wenn wir ihm Raum geben. Diesmal liegt mir am Herzen, den Überlebenden und ihren Nachkommen die Worte Gottes aus Jesaja 49 zuzusprechen: „Zion aber sprach: Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen. Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in meine Hände habe ich dich gezeichnet.“

Wie ein Fest nach langer Trauer

Vladimir beobachtet uns und nimmt alles aufmerksam auf. Als ich mich zu ihm setze, sagt er: „Je länger du redest, desto mehr bin ich bewegt. Was für ein Vorrecht, dass ich zu diesem Essen eingeladen bin! Es tut so gut zu hören, was ihr macht und warum ihr es tut. Das hat mir gezeigt, dass auch wir eine Aufgabe haben, Gutes zu tun mit den Möglichkeiten, die uns gegeben sind.“

Vladimir fühlt sich durch unseren Besuch sehr ermutigt.

Roman ist nicht jemand, der gern redet. Schejnfeld, Roman. Er trägt eine Kappe, die einen Teil seines Gesichts überschattet. Als ich einen Blick auf seine Augen erhasche, kann ich Bände darin lesen. Es scheint ihn Kraft zu kosten, etwas von sich preiszugeben und gleichzeitig scheint es ihm gut zu tun, dass jemand etwas über ihn wissen will. Ich bemühe mich, seine leise Stimme zu verstehen.

„Mama hatte eine große Familie – vier Schwestern und neun Brüder. Sie haben in der Ostukraine gelebt. Einige sind an die Front geschickt worden. Mama und ihre zwei Schwestern sind in den Untergrund gegangen. Jemand hat sie verraten. Sie hatten keine Fingernägel mehr, so hat man sie gefoltert. Dann kamen sie in ein KZ in Deutschland. Papa war später bei der Einheit, die sie dann befreit hat. Mama ist vielleicht vorher schon entkommen, denn irgendwie ist sie nach Usbekistan gelangt, wo sie Papa kennengelernt hat. Meine Großeltern haben sich mit ihren jüngeren Kindern versteckt. Da, wo sie gelebt haben, gab es Höhlen in der Nähe. Dort haben sie die Kriegsjahre verbracht. Die Anwohner haben ihnen Essen gebracht. So haben sie überlebt. Eine Tante von mir hat es nach dem Krieg bis nach Palästina geschafft und den Staat Israel mit aufgebaut.“

Roman kostet es Kraft über das Erlebte zu sprechen.

„Ihr glaubt nicht, was das für ein besonderer Tag heute ist für unsere Senioren“, sagt eine Mitarbeiterin der jüdischen Gemeinde. „Seit Corona gehen viele kaum noch raus. Hier hatten sie wieder mal einen Anlass, sich schick zu machen. Zwei von den älteren Herren haben ihre Adressen ausgetauscht und wollen Kontakt halten. Ihr habt ihnen heute ein Stück Familie gegeben!“

Für einige Dutzend jüdische Senioren in Moldawien suchen wir noch Paten, die sie mit 25 Euro monatlich unterstützen und ihnen damit ein Stück Liebe aus Deutschland zeigen. Vielleicht kennen Sie jemanden, der eine persönliche Patenschaft übernehmen möchte?

Mehr Informationen über unser Patenschaftsprogramm gibt es hier.

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