Liebe in Zeiten der Dunkelheit – Besuche bei Holocaust-Überlebenden in der Ukraine und in Moldawien

Liebe in Zeiten der Dunkelheit – Besuche bei Holocaust-Überlebenden in der Ukraine und in Moldawien

Anna und Wladimir
Wladimir war derjenige, der Anna in der Schule gegen antisemitische Gehässigkeiten verteidigte. Schon damals wussten die beiden, dass sie heiraten würden. Alle Fotos: privat

Tatjana, Jelisaweta und Anna zählen zu den rund 1500 Holocaust-Überlebenden erster und zweiter Generation in der Ukraine und im benachbarten Moldawien, die von Christen an der Seite Israels e.V. und den entsprechenden Zweigen in den Niederlanden, Österreich und der Schweiz durch eine persönliche Patenschaft unterstützt werden. So oft wie nur möglich werden sie von unseren Mitarbeitern besucht. Manche tragische Biografie entfaltet sich etappenweise – und nimmt mitunter eine unverhoffte Wendung.

Tatjana und Chopin

Die sowjetischen Wohnblocks in Kischinau sind gefühlt alle gleich. Von außen mausgrau, die Betonwände im heruntergekommenen Treppenaufgang mit grüner oder blauer Ölfarbe gestrichen; hier und da eine Grünpflanze in einer abgeschnittenen Plastikflasche. Jenseits der Wohnungstür erst beginnt das eigentliche Leben in seinem sehr begrenzten Radius. Auch dort sind die Schrankwände ein halbes Jahrhundert alt; auf den Hockern am Küchentisch haben genau zwei Personen Platz.

Tatjana kommt mit einem Gehstock zur Tür; der ist neu. Sie strahlt. Sie habe sich so gefreut, sagt mir eine Mitarbeiterin der jüdischen Gemeinde später, als sie anrief und meinen Besuch ankündigte. Im Flur hängen Familienfotos, das Bild der Mutter, ein Poster von einem Auftritt Tatjanas. „Ich habe mein ganzes Leben der Musik gewidmet“, erzählt Tatjana. Jetzt, wo sie kaum noch laufen kann, ist es still geworden um sie. Die Kinder sind in Israel.

Tatjanas Mutter
Tatjanas Mutter Rachel war eine begabte Sopranistin. Ihr Portrait hängt in Tatjanas Wohnung.

Tatjana darf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr fliegen. „Als ich damals nach der Thrombose-OP auf der Intensivstation lag, habe ich angefangen zu beten: ‚Gott, gib mir noch ein bisschen Zeit. Ich möchte so gerne leben!‘“ Ihr Gebet wurde erhört.

Kein Opa, keine Oma

Zusammen auf dem durchgesessenen Sofa zu sitzen, gibt nochmal einen anderen Rahmen, als bei einem Gemeinschaftsessen ein paar Sätze miteinander zu wechseln. Ich habe mir von unserem ersten Treffen gemerkt, dass Tatjana keinen Opa und keine Oma kannte. Dafür sorgten die Deutschen während der Schoah.

„Rachel hieß meine Mutter“, erzählt Tatjana. „Sie ist hier in Kischinau aufgewachsen und war sehr begabt. Sie hat in Rumänien studiert. Sie hatte eine wunderbare Stimme, einen ganz reinen Sopran. Sie ist in den Osten geflohen. Als sie zurückkam, war niemand mehr am Leben. Ihre Eltern waren ermordet worden, ihr Mann gefallen.“

Rückkehr in ein leeres Haus

„Das ganze Haus war leer – elf Parteien hatten vor dem Krieg da gewohnt“, so Tatjana weiter. „In Mamas Wohnung hatte sich inzwischen ein Kriegsversehrter einquartiert. Er hat Mama angeboten, dass er woanders hingeht. Aber sie hat gesagt: ‚Lass ruhig. Ich kann dich ein bisschen pflegen. Wer weiß, am Ende verlieben wir uns noch.‘ Er war auch jüdisch, wie so viele damals in Moldawien. Seine Frau und seine kleine Tochter waren gleich zu Beginn des Krieges bei einem Luftangriff noch am Bahnhof von Kischinau umgekommen.“

„‚Wenn wir uns verlieben und heiraten, dann bring mir ein Mädchen zur Welt, für meine Tochter‘, hat der Verwundete gesagt. Und so ist es gekommen. Dieses Mädchen bin ich. Als Mama mit mir schwanger war, hat sie gleich gesagt: ‚Hier wächst meine Konzertmeisterin heran!’“ Tatjanas Vater hatte noch zweieinhalb Jahre Zeit, um sich an seinem Töchterlein zu freuen. Dann starb er an seinen Kriegsverletzungen.

Tatjana am Klavier
Tatjana lebt für die Musik, die sie an Generationen von Klavierschülern weitergegeben hat.

Tatjana schlägt das Klavier auf und fängt an zu spielen. Mühelos gleiten ihre Finger über die Tasten. Bei Chopin und Tschaikowski ist sie zu Hause. Generationen von jungen Pianisten hat sie unterrichtet – und ein Leben lang die Welt mit Musik und Hoffnung erfüllt.

Jelisaweta – von der Flucht auf die Bühne

Jelisaweta wird in wenigen Wochen 97. „Inzwischen tut‘s hier und da weh, aber mein Kopf ist noch klar“, erklärt sie. Als sie mich sieht – diesmal begleitet von Schwester und Schwager – zieht sie aus dem Stapel mit ihren wichtigsten Notizzetteln das Foto ihrer Namensvetterin Elisabeth hervor, die ihr vor zwei Jahren ein selbstgestricktes Tuch aus Deutschland mitgeschickt hatte. Auch an das Waffelherz von unserer Mutter erinnert sie sich und an den wunderbaren Geschmack.

Ihre eigene Mutter hat sie auf kaum vorstellbare Weise verloren. „Wir sind in die Evakuierung gegangen, nach Zentralasien. Der Hunger, die Läuse … es war so eine schlimme Zeit“, erzählt Jelisaweta. „Als wir zurückkamen, war das meiste in unserer Heimatstadt zerstört. Wir haben die erste Zeit in einer der vielen Ruinen gehaust. Eines Tages ist das Haus eingestürzt und hat Mama, meinen Bruder und meine Schwester unter sich begraben.“

Jelisaweta strahlt
Jelisaweta wird 97, doch ihr Verstand ist glasklar. Unser Besuch bringt sie zum Strahlen.

Gesungen habe sie, ihr ganzes Leben lang, sagt Jelisaweta. Natürlich auch auf Jiddisch – zum Beispiel „Belz, mein Shtetele Belz“. Dann singt sie uns noch ein russisches Lied vor, von einem Blumenmädchen, das den heimkehrenden Soldaten von der Front zuruft: „Schaut bei mir vorbei. Nehmt euch die Zeit, an den Blumen zu riechen. Wo Blumen sind, ist auch die Liebe nicht weit …“

Ihre Pflegerin erzählt uns den Rest der Geschichte. „Das war das erste Lied, das sie nach dem Krieg gesungen hat. Sie war 17 damals und hatte niemanden mehr. Aber sie musste ja von etwas leben. Da hat sie sich auf die Bühne gestellt und angefangen zu singen. Sie hatte eine wunderbare Stimme. Das hier war ihr erstes Lied. Und dann wurde das Lied Wirklichkeit – ein junger Offizier hat sie entdeckt und sich verliebt. Sie waren mehr als ein halbes Jahrhundert verheiratet.“

Anna und Wladimir – eine große Liebe wider den Zeitgeist

„Wir haben deinen Brief bekommen, zusammen mit dem Lebensmittelpaket“, sagt Anna, als wir an ihrem gedeckten Kaffeetisch Platz genommen haben. „Ich habe ihn so oft gelesen … wie ein Gebet!“ Anna wohnt mit ihrem Mann Wladimir in einem kleinen Dorf im Norden Moldawiens. Die Jugend ist weggezogen, die mittlere Generation jobbt im Ausland: Es gibt kaum Arbeit in dieser Bilderbuchlandschaft. Viele kleinere Orte muten wie ein Freiluftmuseum an. Anna und Wladimir haben sich ihr Fleckchen Erde schön gemacht, in ihrem Garten blühen Tulpen und Forsythien.

„Mein Vater, Ilja, ist hier in diesem Dorf aufgewachsen“, erzählt Anna. „Opa war Getreidehändler. Hier haben vor dem Krieg viele Juden gelebt, um die 50 Familien. Sie haben in der Landwirtschaft gearbeitet oder in der Molkerei hier im Ort; die Frauen haben Stickereien angefertigt.“

Der fruchtbare Schwarzerde-Boden war schon immer Moldawiens Schatz. Nach dem verheerenden Pogrom von Kischinau 1903 gewann die zionistische Idee gerade hier im historischen Bessarabien zahlreiche Anhänger. Überall sprossen jüdische landwirtschaftliche Siedlungen aus dem Boden – die Vorläufer der Kibbutzim.

Annas Eltern
Als Annas Vater von der Front in sein Heimatdorf zurückkam, wo Anna heute lebt, war von seiner Familie niemand mehr am Leben. Alle Juden des Ortes waren umgebracht worden.

„Als der Krieg begann, musste Papa an die Front“, berichtet Anna weiter. „Als er zurückkam, war niemand von seiner Familie mehr am Leben. Sein Vater, seine Mutter, sein Bruder Avram und seine Schwester Miriam, die gerade geheiratet hatte – alle ermordet. Man weiß nicht einmal, wo genau die Erschießungsstelle war. Andere Juden aus dem Ort hier wurden im Brunnen ertränkt oder lebendig begraben.“

Antisemitismus in einem Dorf ohne Juden

Nach dem Krieg gab es kaum noch Juden im Dorf. Und dennoch war Antisemitismus eine Realität, die Annas ganze Kindheit begleitete. „Ich bin ständig ‚Schidowka‘ gerufen worden – das Schimpfwort für Jüdin. Wir hatten es schwer in der Schule, mein Bruder und ich. Aber Wladimir hat mich verteidigt. Bis heute versorgt er mich.“

Während Anna das heiße Wasser holt – und allerlei leckere Dinge, die sie für ihre Gäste zubereitet hat – nutzen wir die Gelegenheit, von Wladimir noch etwas mehr zu erfahren. „Unsere Familien waren Nachbarn, wir haben uns schon von Kindesbeinen an gekannt“, erzählt Wladimir. „Die meisten Juden aus unserem Dorf waren im Krieg ermordet worden. Als wir in die Schule kamen, war Anna das einzige jüdische Mädchen in der Klasse. Sie wurde ständig als Jüdin beschimpft. Da habe ich sie verteidigt. Ich habe alle verhauen, die sie angegangen haben. Jetzt bin ich nicht mehr so fit, aber damals, als ich jung war – da hatten sie alle vor mir Respekt!“, fügt er mit einem verschmitzten Lachen hinzu.

Auf Händen getragen

Schon in der Schulzeit war klar, dass es die Liebe fürs Leben wird. „Wir waren in der sechsten oder siebten Klasse, da wussten wir, dass wir heiraten“, sagt Wladimir. „Anna hat dann die Schule gewechselt. In unserem Dorf gab es keine befestigten Straßen. Das letzte Stück Weg vor der Schule hat sich bei Regen immer in ein Schlammbad verwandelt. Wenn das Wetter schlecht war, bin ich morgens früher aufgestanden und habe Anna zur Schule gebracht. Das letzte Stück durch den Schlamm habe ich sie dann immer getragen, damit sie sich die Füße nicht schmutzig macht.“

Anna serviert Leckereien für Wladimir und Cornelia
Anna und Wladimir mit Cornelia, Besuch aus den Niederlanden.

Wladimir wurde später Veterinärmediziner. Seine Uni lag 300 Kilometer entfernt. „Aber ich hatte ein Motorrad, eine Java“, erinnert sich Wladimir. „Mit meiner Java konnte ich jedes Wochenende nach Hause kommen. Das war eine Sensation für das Dorf! Damals hatte kaum jemand ein eigenes Fahrzeug. Und natürlich ist Anna oft mit mir zusammen Motorrad gefahren. Sie hat es geliebt! Stimmt’s, Anna?“ „Natürlich bin ich mit dir Motorrad gefahren, und natürlich hat es mit gefallen“, sagt Anna mit einem verschämten Lächeln, während sie auftischt. Wenigstens probieren sollen wir die Hähnchenschnitzel, die hat sie frisch zubereitet. Und etwas von den Keksen nehmen. Und die Maulbeermarmelade kosten – selbst hergestellt.

Auch Anna hätte gern studiert. Doch aufgrund ihrer jüdischen Herkunft wurde sie im damals sowjetischen Moldawien nicht zum Studium zugelassen. Lange vertieft sie sich in das Grußkärtchen, auf dem aus dem Propheten Jesaja zitiert wird, dass sie wie eine schöne Krone in der Hand ihres Gottes sein wird. Heute wird Anna „aufgrund ihrer jüdischen Herkunft“ von einem Paten aus Deutschland unterstützt. Und darf ihre Geschichte teilen mit den Menschen, die sie lieben – über tausende Kilometer Entfernung.

Gern können Sie einen Holocaust-Überlebenden erster oder zweiter Generation auf Ihr Herz nehmen und mit einer Patenschaft unterstützen. Auch Einmalspenden sind willkommen. Unsere Mitarbeiter kümmern sich darum, dass die Hilfe ankommt und die Botschaft der Liebe aus Deutschland, Österreich und der Schweiz bei persönlichen Besuchen übermittelt wird.

Mehr über unser Patenschaftsprogramm für Holocaust-Überlebende finden Sie hier.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 137. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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