Von: Koen Carlier | aus dem Englischen übersetzt von Anemone Rüger
Zerstreut zu sein ist etwas, das uns allen einmal passieren kann. Wenn Krieg herrscht, kann es jedoch schnell gefährlich werden. Da ist es geboten, wachsam zu sein. Das musste das CSI-Hilfs-Team in der Ukraine jüngst feststellen.
Auf dem Weg in die Ostukraine
Wir waren mit unserem Bus und einem Minibus unterwegs in die östliche Ukraine, um jüdische Flüchtlinge abzuholen. Einer unserer ehrenamtlichen Fahrer saß am Steuer, und ich nickte ein. Wir wussten eigentlich, wo es langgeht. Aber dann tauchten mehrere Straßensperren auf und wir mussten eine andere Strecke nehmen. Irgendwann fragte der Fahrer: „Koen, wo müssen wir lang?“ Der Weg, den unser Navigationssystem anwies, konnte nicht stimmen, denn an der Strecke wurde seit langem gebaut; da hätten wir einen großen Umweg machen müssen. Ich habe den Fahrer gebeten, ein Stück weiterzufahren. Die Strecke kam mir einigermaßen bekannt vor. Irgendwann sind wir rechts abgebogen. Dann kam eine Straßensperre nach der anderen. Einige sollten einfach die Durchfahrt verlangsamen, andere waren zu halben Festungen ausgebaut.
Verfahren
Allmählich kroch ein ungutes Gefühl in mir hoch. Jetzt war mir die Gegend nicht mehr vertraut. Konnte es sein, dass wir falsch abgebogen waren? Nach einer Weile fanden wir jemanden, den wir nach dem Weg fragen konnten. Tatsächlich: Wir waren in die falsche Richtung gefahren. Wir wären beinahe in russisch besetztem Gebiet gelandet! Über einige Abkürzungen und Feldwege kamen wir wieder auf den richtigen Weg. Immer wieder wurden wir von ukrainischen Soldaten angehalten: „Ihr könnt hier nicht langfahren“. Ich habe ihnen erklärt, dass ich weggenickt war und dass wir uns verfahren hatten. Die Soldaten haben uns dann wieder ziehen lassen mit dem Rat: „Seid vorsichtig! Nach einer Weile kommt ihr wieder auf die richtige Straße.“
Jetzt waren wir definitiv wach. Seit Beginn des Krieges waren wir uns bewusst, wie wichtig es ist, wachsam zu sein. Manchmal müssen wir in Windeseile wichtige Entscheidungen treffen. Da braucht man einen klaren Kopf. Der eine Moment, als ich nicht aufmerksam war, hätte weitreichende Konsequenzen haben können. Nicht auszudenken, wenn wir in russisches Gebiet geraten wären und unser Bus vielleicht konfisziert worden wäre. Glücklicherweise ging alles gut aus.
Als wir an unserem Reiseziel ankamen, waren die Straßen leer. Es war 18.45 Uhr – eine Viertelstunde vor der Ausgangssperre. Wir waren also gerade rechtzeitig in der Unterkunft. Am nächsten Morgen holten wir an verschiedenen Stationen jüdische Flüchtlinge ab und machten uns mit ihnen auf den langen Weg zurück in die Westukraine. Viele Passagiere in unserem Bus hatten Unglaubliches durchgemacht. Eine von ihnen war Ira aus der belagerten und schwer zerstörten Stadt Mariupol. Als ihr Gebäude bombardiert wurde, konnte sie nur schnell ihre Handtasche schnappen. Ihr Koffer stand gepackt da, aber sie hatte keine Zeit, ihn mitzunehmen. Sie schaffte es nur von der vierten in die dritte Etage. Dann musste sie von einem Balkon springen. Ein Arzt, der sie später untersuchte, sagte: „Sie müssen einen Schutzengel gehabt haben. Es ist ein Wunder, dass Sie sich nichts gebrochen haben!“
Dann war ein Mann Anfang 60 mit seiner Frau im Bus. Er hatte ukrainischen Soldaten als Volontär geholfen. Die Soldaten warnten ihn, dass seine Heimatstadt kurz vor der Einnahme durch russische Truppen stand, und rieten ihm zu gehen. Er wandte sich an die Synagoge. Dort wurde ihm gesagt, dass am nächsten Morgen um 8 Uhr ein Bus geht. Der Mann meinte, das würden sie nicht schaffen. Aber wer stand am nächsten Morgen um 7 Uhr abfahrbereit da? Derselbe Mann zusammen mit seiner Frau – unendlich dankbar, dass sie so schnell die Gelegenheit bekamen, in Sicherheit gebracht zu werden.
Eine andere siebenköpfige Familie wusste nicht wohin. Sie wollten die Ukraine verlassen und nach Israel gehen – aber wie weiter? Wo sollten sie hin in Israel? Wir haben sie an das Programm „First Home in the Homeland“ verwiesen, dass von Christen an der Seite Israels (CSI) unterstützt wird. Wenn alles gut geht, werden sie ihre ersten fünf Monate in Israel in einem Kibbutz verbringen, wo die Kinder sofort eingeschult werden und die Eltern in einem Intensivkurs Hebräisch lernen können und umfassende Unterstützung erhalten.
Nicht nur junge Menschen verlassen die Ukraine, um Alijah zu machen, wie die Einwanderung nach Israel genannt wird. Wir haben auch immer wieder ältere Personen und sogar Holocaustüberlebende unter unseren Passagieren. Diesmal hatten wir eine 92-jährige bettlägerige Dame mit ihrer Tochter an Bord. Wir haben sie aus einer kleineren Ortschaft im Osten der Ukraine abgeholt und bis zum Flughafen in Kischinjow in Moldawien gebracht.
Unsere älteste Passagierin
Die größte Überraschung war für uns jedoch die fast 99-jährige Ludmila, die wir mit ihrer 70-jährigen Tochter bis zum Abflug nach Israel begleiten konnten. Ludmila wohnte in der vierten Etage eines Wohnblocks und hatte ihre Wohnung seit Jahren nicht verlassen. Wir brauchten über eine Stunde, um sie bis zum Bus zu bringen. Aber sie hat es geschafft, mit der Herzenseinstellung: „Wenn der Herr will, dass ich nach Israel gehe, dann wird Er mich auch sicher dahin bringen.“
Jeder kam mit seiner eigenen Geschichte, und jeder war von Herzen dankbar für die Hilfe unseres Teams. Inzwischen sind alle 58 Passagiere sicher im Verheißenen Land angekommen.
Was machen wir als nächstes? Wir sind schon wieder unterwegs in den Osten der Ukraine, um die nächste Gruppe abzuholen. Wir machen weiter, solange wir können – bis der letzte Jude seinen Fuß auf israelischen Boden setzt.
Auf der Seite unseres internationalen Dachverbandes Christians For Israel gibt es am Ende des Artikels ein Video über Ludmila und ihre Tochter Larissa auf dem Weg ins Verheißene Land: www.c4israel.org/sos-ukraine/in-the-diaspora-or-being-brought-home/
Helfen Sie uns dabei, die Juden aus der Ukraine nach Israel zu bringen? Jede Spende, jedes Gebet hilft. Wir danken Ihnen für Ihre Unterstützung! Mehr über unsere Hilfsaktion „SOS Ukraine“ finden Sie hier.