Die Berufung Abrahams: Warum seine Bedeutung nicht überschätzt werden kann

Die Berufung Abrahams: Warum seine Bedeutung nicht überschätzt werden kann

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Auf der Berufung Abrahams durch Gott liegen große Verheißungen. Foto: flickr

Eine theologische Betrachtung von Tobias Krämer

Die Bedeutung Abrahams kann kaum überschätzt werden. Er ist die Figur, von der Israel, das Judentum, Jesus und das Christentum herkommen. Damit meine ich nicht nur, dass das Volk Israel die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs sind, zu denen auch Jesus gehört. Der entscheidende Punkt ist, dass Gott Abraham erwählt hat und große Pläne mit ihm hat.

Die Erwählung Abrahams hat eine Vorgeschichte, die wir in 1. Mose 1-11 nachlesen können. In den ersten Kapiteln des Buches Genesis ist von der ganzen Welt, der damaligen Menschheit die Rede: Schöpfung, Sintflut und Turmbau in Babel sind wichtige Themen. Auf den Turmbau reagiert Gott auf dreifache Weise: Er verwirrt die gemeinsame Sprache der Menschen, er zerstreut sie und – er erwählt Abraham. Mit diesem einen Mann fängt Gott neu an. Mitten in der weltweiten Geschichte der Völker beginnt Gott, Heilsgeschichte zu schreiben. Versteckt und unscheinbar. Mit einem einzigen Mann: Abraham/Abram.

Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde! Und ich will dich zu einem großen Volk machen, und ich will dich segnen, und ich will deinen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein! Und ich will segnen, die dich segnen, und wer dir flucht, den werde ich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde! (1. Mose 12, 1-3)

Abrahams Berufung und Verheißungen

Am Anfang steht Gottes Wort. Das ist bei geistlichen Dingen meistens so. Gott trifft die Entscheidung Abraham zu erwählen. Also spricht er ihn an. Sein erstes Wort ist eine Aufforderung, ein Befehl. Im Hebräischen wird dieser Befehl durch eine Verdopplung verstärkt (wörtlich: geh gehend): „Geh! Geh aus deinem Vaterland!“ Gott will, dass Abraham alles verlässt, so dass auch wirklich etwas Neues beginnen kann.

Die Reise geht ins Ungewisse, denn das Ziel ist unbekannt. Abraham weiß nur, dass er ein Land bekommen wird. Ein Land, das Gott ihm zeigen wird. Das geographische Ziel ist zwar unbekannt, das inhaltliche aber nicht. Denn Gott macht seine Pläne transparent: „Ich will dich zu einem großen Volk machen.“ Es geht also nicht nur um Abraham, sondern um das Volk, das aus Abraham hervorgehen wird. Zwei Aspekte sind hier auffällig:

  • Gott identifiziert Abraham mit diesem Volk und umgekehrt („ich will dich zu einem Volk machen“). Israel ist Abraham, aus Abraham wird Israel. Das heißt: Man kann Israel nicht von Abraham trennen.
  • Abraham wird, wie sein Name schon sagt, zum Vater vieler Völker (1. Mose 17,4+5). Das Volk der Verheißung ist aber nur dieses eine Volk, Israel („ich will dich zu einem Volk machen“).

Volk und Land ergeben zusammen eine Nation. Dieser moderne, politische Begriff ist hier durchaus passend, denn er entspricht ungefähr dem Hebräischen goj. Das heißt: aus Abraham soll die Nation Israel werden.

Ein Plan zum Segen

Mit diesem Projekt – dem Israel-Projekt – verfolgt Gott ein klares Ziel: Israel soll zum Segen für die Menschheit werden: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ Gemeint sind alle Familien, Sippen, Gruppen und Völker, also die ganze Menschheit. Das gibt Abraham seine einzigartige Bedeutung. Die Verheißung einer Nation (Volk und Land) sind irdischer Natur. Gemeint sind reale Menschen (das Volk Israel) und ein physisches Land (Kanaan). Die Verheißung des Segens liegt auf einer anderen Ebene. Segen ist etwas Geistliches. Segen ist die Energie Gottes, die dafür sorgt, dass das Leben gedeiht, Wachstum geschieht und Prosperität entsteht. Das ist das Wesen des Segens.

In den Verheißungen Gottes an Abraham werden zwei Ziele sichtbar: ein näheres Ziel (die Entstehung Israels) und ein Fernziel (der Segen der ganzen Welt). Sowohl Israel als auch die Völker liegen Gott am Herzen: Israel als Segensträger und die Völker als Segensempfänger. Wenn das gelingt, sind alle gesegnet. Der Ursprung aber liegt im Segen Abrahams. Abraham wird zur Quelle des Segens für die Welt.

Wo es Segen gibt, da gibt es auch Fluch, und so spricht Gott beides an: „Ich will segnen, die dich segnen, und wer dir flucht, den werde ich verfluchen.“ Wer Israel segnet, wird Segen ernten, wer Israel aber flucht, dem wird Gottes Fluch entgegenstehen. Das Verhalten der Menschen zu Israel bestimmt also das Verhalten Gottes zu ihnen. Damit stehen die Menschen – jeder einzelne, jede Familie, jede Gruppe, jede Gemeinde, jede Kirche, jedes Land – vor der Wahl: segnen oder fluchen, Segen empfangen oder Fluch ernten. Werden wir gut zu Israel sein und Gutes von Gott empfangen oder sind wir Israel gegenüber feindlich gesonnen und erfahren Gottes Widerstand?

An dieser Stelle ist noch auf eine sprachliche Differenz hinzuweisen, denn im Hebräischen werden zwei verschiedene Begriffe für fluchen verwendet. Der eine lautet qalal und bedeutet: schlecht reden, für unbedeutend halten. Der andere heißt `arar und meint, jemanden dem Zorn Gottes ausliefern. Das heißt: Wer über Israel schlecht redet oder es für unbedeutend hält, der steht unter dem Zorn Gottes. Das geschieht heute auf der Welt jeden Tag, auch in christlichen Gemeinden. Doch ist es eine schlechte Position für Christen, das zu tun, was Gottes Zorn erregt. Christen sollten alles tun, dies zu vermeiden. Im Hinblick auf Israel bedeutet das, dass wir unsere Einstellung zu Israel überprüfen und gegebenenfalls umkehren sollten. Wir beenden das Schlechte und begegnen Israel mit Gutem. Gutes denken, Gutes reden und Gutes tun. Wer sich darauf einlässt, der weiß, dass das gar nicht so schwer ist. „Gutes zu tun, vergesst nicht“ (Hebräer 13,16) – das gilt natürlich auch gegenüber Israel.

Wie gesagt: Abrahams Bedeutung kann kaum überschätzt werden. Das schlägt sich auch in den Ehrentiteln nieder, die ihm in der Bibel gegeben werden. Abraham ist Vater einer großen Menge bzw. vieler Völker (1. Mose 17,5), der Vertraute Gottes (1. Mose 18,17), Prophet (1. Mose 20,7), Fürst Gottes (1. Mose 23,6), Knecht Gottes (Psalm 105,6) und sogar Freund Gottes (2. Chronik 20,7).

1. Mose 12,1-3 als Fundament des jüdischen und christlichen Glaubens

Wenn mit der Berufung Abrahams die Heilsgeschichte beginnt, dann haben wir es hier mit der „Formatierungsphase“ des jüdischen (und in Folge des christlichen) Glaubens zu tun. Im Folgenden spreche ich (etwas verkürzt) vom jüdisch-christlichen Glauben. Damit meine ich einerseits den jüdischen Glauben, andererseits aber auch den christlichen, der ja aus dem jüdischen hervorgekommen ist.

In 1. Mose 12,1-3 werden die Eckpunkte des jüdisch-christlichen Glaubens festgesetzt. Grundlagen werden gelegt, das Fundament wird geschaffen, Weichen werden gestellt. Sie geben dem Glauben ihre typische Charakteristik:

  1. Im jüdisch-christlichen Glauben gibt es nur einen Gott, den Schöpfer, und dieser Gott macht sich selbst zum Gott Israels. Den Glauben an nur einen Gott (den Monotheismus) verdanken wir dem Judentum. Damit ist klar, dass alle anderen Götter keine Götter sind. Dass dieser Gott sich an Israel gebunden hat, wird in der Christenheit zu wenig wahrgenommen, und sollte neu bedacht werden. Dennoch ist das Judentum keine Volksreligion, so wie in der Antike jedes Volk seinen eigenen Gott oder seine Götter hatte. Denn Gott erwählt Israel, um die Welt zu segnen! Gott bindet sich an ein Volk, an Israel, doch tut er dies in globaler Perspektive. Der jüdisch-christliche Glaube hat somit seine Wurzeln in einem Volk, umfasst aber letztlich die ganze Menschheit. Das ist einzigartig in der Religionsgeschichte.
  2. Der jüdisch-christliche Glaube beruht auf Verheißungen, die sich in der Geschichte entfalten, bis am Ende alle Versprechen Gottes erfüllt sein werden. Auf diese Weise bekommt die Weltgeschichte plötzlich einen Sinn und ein Ziel. Unser Glaube ist nicht zirkulär konstruiert wie die Naturreligionen, die sich im Jahresrhythmus bewegen und ziellos immer weiterlaufen. In unserem Glauben wird auch keine statische Gottesidee vertreten, wie es bei den Philosophen der Fall ist. Unser Gott ist nicht (zumindest nicht in erster Linie) ein „unbewegter Beweger“, „der Grund allen Seins“ und wie die Formeln alle lauten. Der Gott der Bibel ist der lebendige Gott, der Geschichte schreibt. Blaise Pascal hat es auf den Punkt gebracht, wenn er in seinem Mémorial sagt: „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen.“ Seit Abraham ist der jüdisch-christliche Glaube ein Glaube an Verheißungen. Juden und Christen schauen immerzu nach vorne und warten darauf, dass Gott tun wird, was er versprochen hat. Auch das ist einzigartig.
  3. Der zentrale Aspekt jüdisch-christlichen Glaubens ist das Vertrauen. Juden und Christen vertrauen Gott; sie glauben seinem Wort. Dahinter steht eine persönliche Gottesbeziehung, die auf bestimmten Grundlagen basiert: auf dem Bund, der Erwählung, der Kindschaft, der Gnade, der Erlösung, der Gegenwart Gottes etcetera. All das sind Gegenstände des Vertrauens! Man kann Religionen auch auf andere Grundlagen stellen: auf Regeln, auf religiöse Texte, auf bestimmte Praktiken (z.B. Meditation) oder verschiedene Riten. Unser Gott aber will in erster Linie unser Vertrauen. Darauf kommt es ihm an. Die anderen Elemente gibt es natürlich auch, aber sie sind nicht die Grundlage. Juden und Christen vertrauen Gott und seinem Wort, das er in der Bibel gegeben hat. Das ist der Punkt – und das verändert ihr Leben.
  4. Der jüdisch-christliche Glaube hat keine Gründerfigur wie Muhammed oder Buddha. Weder Abraham noch Jesus oder Paulus wollten eine Religion gründen und sie haben das auch nicht getan. Das gilt vor allem auch für Abraham. Abraham hat Gottes Wort ergriffen und er hat sich auf den Weg gemacht in das neue Land, das Gott versprochen hat. Abraham ist sein Leben lang Nomade geblieben, doch trug er in der zweiten Lebenshälfte Gottes Worte im Herzen. Abraham hat keine Lehre entwickelt, keine religiösen Praktiken formuliert und keinen Regelkatalog hervorgebracht, wie es für Religionsgründer typisch ist. Was Abraham auszeichnete, war sein Glaube. Deshalb ist Abraham der Vater aller, die Gott vertrauen (Römer 4,11+12). Abraham ist nicht der Ursprung einer Religion, sondern einer Haltung: bedingungsloses Gottvertrauen. Das ist das Kennzeichen des jüdisch-christlichen Glaubens.

Abrahams Verheißungen in der weiteren Geschichte Israels

Es gibt in der Bibel noch weitere Zusammenhänge zu entdecken. Doch zuerst ein Blick darauf, wie es im 1. Buch Mose weitergeht.

  • In 1. Mose 18 erscheint Gott in Gestalt von drei Engeln dem Abraham und diskutiert mit ihm über die Vernichtung Sodoms. Abraham ist ein hartnäckiger Diskussionspartner, doch ist der Beginn des Gesprächs interessant, denn Gott sagt: „Wie könnte ich Abraham verbergen, was ich tun will, da er doch ein großes und mächtiges Volk werden soll und alle Völker auf Erden in ihm gesegnet werden sollen?“ (V. 17+18) Gott wiederholt seine Verheißung, um dann fortzufahren: „Denn dazu habe ich ihn auserkoren, dass er seinen Kindern befehle und seinem Hause nach ihm, dass sie des HERRN Wege halten und tun, was recht und gut ist, auf dass der HERR auf Abraham kommen lasse, was er ihm verheißen hat“ (V. 19). Der Gehorsam Israels führt zur Erfüllung der Verheißungen an Abraham, Ungehorsam aber steht dem im Wege. Die Verheißungen erfüllen sich also nicht von selbst. Die Träger der Verheißungen müssen ihren Beitrag bringen.
  • In 1. Mose 22,16-18 wird die Segensverheißung von Gott wiederholt, aber mit dem Gehorsam Abrahams verbunden. Dies geschieht, nachdem Abraham bereit war, seinen Sohn Isaak zu opfern. Weil Abraham gehorcht hat, sollen seine Nachkommen zum Segen der Welt werden. Hätte Abraham nicht gehorcht, wäre bereits in dieser frühen Zeit ein Dissens zwischen Gott und Abraham gekommen und das Israel-Projekt wäre möglicherweise gescheitert. Man liegt sicher nicht falsch, wenn man den Gehorsam Abrahams mit dem Gehorsam Jesu vergleicht. Beide haben einen enormen Preis dafür bezahlt, Gott gehorsam zu sein. Allerdings hat Jesus sich selbst geopfert, während Abraham „nur“ seinen Sohn gegeben hätte (vergleiche 1. Mose 22,8; Matthäus 26,39+42). Man kann aber auch Gott, den Vater, mit Abraham vergleichen, nur hat Gott seinen Sohn tatsächlich geopfert, während Isaak weiterleben durfte.
  • In 1. Mose 30 hat Jakob seine Familie gegründet und will nun endlich seinen Schwiegervater Laban verlassen. Der aber will ihn nicht ziehen lassen. Der Grund dafür ist auffällig: „Ich spüre, dass mich der HERR segnet um deinetwillen“ (V. 27). Der Segen ist materieller Art und er kommt über Jakob zu Laban. Laban hat das verstanden und anerkennt diesen Zusammenhang. Hier „funktioniert“ es bereits, dass andere durch Jakob/Israel gesegnet werden. Laban war um einiges klüger als viele Zeitgenossen heute. Zugespitzt formuliert: Wer wirklich an sich selbst denkt, der sollte an Israel beziehungsweise an die Juden denken. Darf man das so sagen?
  • In 1. Mose 39 finden wir eine ähnliche Geschichte. Josef dient in Potifars Haus. Josef macht das so gut, dass Potifar ihn bald über das ganze Haus setzt. Die Auswirkungen sind erstaunlich: „Und von der Zeit an, da er ihn über sein Haus und alle seine Güter gesetzt hatte, segnete der HERR des Ägypters Haus um Josefs willen, und es war lauter Segen des HERRN in allem, was er hatte, zu Hause und auf dem Felde.“ Die Segensverheißung erfüllt sich, zunächst an diesem einen Haus, und Potifar macht sie sich zu Nutze. Potifar ist kein Jude, er steht in keiner Beziehung zu Gott. Er lebt in der ägyptischen Religion und ist im Herzen vielleicht sogar das, was wir heute einen Atheisten nennen. Aber er sieht, worauf Segen liegt, und das fördert er. Man muss nicht gläubig sein, um das Geheimnis Israels zu entdecken. Man muss nur frei von Vorurteilen sein und genau hinschauen.

Die Verheißungen Abrahams – Volk, Land und Segen – werden durch die Generationen weitergegeben. In etwas anderen Worten gehen die Verheißungen an Isaak über (1. Mose 26,2-5) und an Jakob (1. Mose 27,29; 28,1-4+14-15). Die Linie Abraham, Isaak und Jakob führt hin zum Zwölf-Stämme-Volk Israel. Weil Gott seine Verheißungen in diese Linie hineingegeben hat (wie in einen Kanal), ist Gott der Gott Israels. Gott hat sich selbst zum Gott Israels gemacht – bewusst und aus freien Stücken. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Wer mit Gott leben will, der muss wissen, dass Gott der Gott Israels ist.

Paulus

Als ausgebildeter Rabbi kennt Paulus die Geschichte Abrahams sehr gut. Doch hakt er gezielt an einer Stelle ein: „Abraham vertraute Gott und das rechnete er ihm als Gerechtigkeit an“ (Römer 4,3). Gott spricht den gerecht, der ihm vertraut. Das war schon bei Abraham so und diese Erkenntnis bildet auch den Kern des Evangeliums. Wer auf Jesus vertraut, ist gerecht. Diese Art der Gerechtigkeit, die sogenannte Glaubensgerechtigkeit, findet Paulus schon in der jüdischen Bibel, bei Abraham. Auch Abraham war einer, der Gott vertraute, und das rechnete Gott ihm als Gerechtigkeit an. Daraus schließt Paulus: „Die aus Glauben leben, sind Abrahams Kinder“ (Galater 3,7). Dass der Weg des Glaubens äußerst herausfordernd sein kann, wissen wir von Abraham. Gott hat viel von ihm verlangt.

In Galater 3 begründet Paulus diesen Ansatz ausführlicher. Paulus sagt, dass durch Jesus Christus der Segen Abrahams zu den Völkern kam (Galater 3,14). Damit meint er das Evangelium und den heiligen Geist. Beides ist nichts anderes als der Segen Abrahams von 1. Mose 12,3. Dass der Segen Abrahams über Jesus zu den Nationen kam, fällt auf. Denn eigentlich sollte dies über Israel geschehen. Deshalb forscht Paulus in der Schrift. Er will wissen, wie das zu erklären ist, und stößt auf 1. Mose 22,18. Dort heißt es: „In deinem Samen sollen alle Völker der Erde gesegnet werden.“ Dieser Same – und Paulus betont den Singular – dieser eine Same ist Jesus Christus (Galater 3,16). Nun steht die Frage im Raum, ob damit die Verheißung, dass Israel zum Segen der Welt werden soll, erfüllt ist, oder weiterhin gilt.

Stellen wir diese Frage zunächst an Paulus selbst. In Römer 9-11 beklagt Paulus, dass die meisten Juden auf Distanz zum Evangelium gehen. In Römer 11,11 stellt er jedoch fest, dass dadurch das Evangelium in die Völkerwelt kam. Das war und ist ein Segen! In Römer 11,12 geht die Entwicklung noch einen Schritt weiter. Dort sagt Paulus: „Wenn nun die anderen Völker so reich beschenkt wurden, weil die Juden Gottes Angebot der Erlösung ablehnten, wie viel größeren Segen wird es dann für die Welt bedeuten, wenn die Juden es schließlich annehmen!“ Hier ist von einer Dimension des Segens die Rede, die erst dann erreicht wird, wenn Israel und der Messias Jesus zusammenfinden. Dann wird Israel noch einmal neu zum Segen der Welt werden.

Es ist somit ein Irrtum zu meinen, dass alle Verheißungen in Christus bereits erfüllt sind, wie im Hinblick auf 2. Korinther 1,20 oft zu hören ist. Manche Verheißungen sind erfüllt, andere werden es noch. Die Erfüllung geschieht in beiden Fällen aber durch Jesus, den Messias. Jesus ist es, durch den Gott seine Verheißungen erfüllt, erfüllt hat und erfüllen wird.

Endzeitperspektiven

Wenden wir uns zuletzt der Frage zu, wie Israel nochmals neu zum Segen der Welt wird. Ich kann das hier nur andeuten. In Sacharja 8,13 wird die Verheißung, dass Israel zum Segen der Welt werden wird, aufgegriffen und auf die Endzeit übertragen. Sie gilt also noch immer. Dort sagt Gott zu Israel: „Wie ihr […] ein Fluch gewesen seid unter den Völkern, so will ich euch retten, dass ihr ein Segen sein sollt.“ Diese Verheißung steht noch aus. In Jesaja 19,24-25 findet sich eine außergewöhnliche Verheißung. Israel wird nicht allein zum Segen werden, sondern zusammen mit Assyrien im Norden und Ägypten im Süden: „Zu der Zeit wird Israel der Dritte sein mit Ägypten und Assyrien, ein Segen mitten auf Erden; denn der HERR Zebaoth wird sie segnen und sprechen: Gesegnet bist du, Ägypten, mein Volk, und du, Assur, meiner Hände Werk, und du, Israel, mein Erbe!“ Jesaja 2,2-4 nennt eine weitere Perspektive. Dort wird gesagt, dass eines Tages die ganze Welt nach Israel (zum Zion) strömen wird. Alle Völker werden Gottes Tora holen und in ihre Länder bringen. Auf diesem Weg werden die Völker in den Frieden miteinander finden. Dann wird endlich weltweit Friede sein.

Denn Schlusspunkt setzt Offenbarung 21: die Verheißung des neuen Jerusalem. Das Fundament des neuen Jerusalem werden die zwölf Apostel sein, doch die Tore tragen die Namen der zwölf Stämme Israels. Die Juden entdecken, dass auch ihr Fundament der Messias Jesus ist, während die Christen bemerken, dass sie nur zusammen mit Israel Zutritt in die ewige Stadt haben. Von der Stadt strahlt Licht zu den Nationen hinaus, während die Völker Ehre und Herrlichkeit in die Stadt hineintragen (V. 24-26). Alle Konflikte, Spannungen, Streitereien und Kriege werden ein Ende haben. Dann wird der Segen Israels in umfassender Weise die Erde erfüllen. Und dann wird doch noch alles gut.

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