Gedanken eines Rabbiners: Abraham – ein Segen für die Menschheit

Gedanken eines Rabbiners: Abraham – ein Segen für die Menschheit

In Hebron befindet sich die Höhle Machpela mit den Gräbern der israelitischen Erzväter Abraham, Isaak und Jakob sowie deren Frauen Sara, Rebekka und Lea. Foto: Ralf Roletschek / Roletschek.at

Von: Rabbi Dajan Raphael Evers | Übersetzung aus dem Niederländischen Marie-Louise Weissenböck

In der Tora lesen wir, wie Abrahams Auftrag in der Weltgeschichte begann: „Geh weg aus Deinem Land … in das Land, das Ich dir zeigen werde …“. (1. Mose 12,1) Abraham bekommt keine eindeutige Richtung vorgegeben. Am Ende stellt sich heraus, dass seine Aufgabe in Israel liegt, aber seine Lebensaufgabe war anfangs äußerst unklar. Das ist auch bei den meisten Menschen heute der Fall. Niemand weiß, was seine Aufgabe auf Erden ist. Warum sind wir auf dieser Welt?

In früheren Zeiten waren sich die Menschen über ihre Lebensaufgabe viel klarer. Laut dem Gaon von Vilna (18. Jahrhundert) konsultierten die Menschen einen Propheten, der jedem sagen konnte, was seine Lebensaufgabe auf Erden war. Auf diese Weise wusste jeder, worauf er sich konzentrieren musste und was seine persönliche Herausforderung war. Jetzt, da wir keine echten Propheten mehr haben, kann uns keiner sagen, worin unsere Lebensaufgabe liegt.

Unsere Aufgabe besteht nun darin, jederzeit das Richtige zu tun, ohne zu wissen, was unser Endziel ist. Auch hierin ist uns Abraham vorausgegangen. Wir sind nicht in der Lage zu wissen, was unsere Aufgabe im Leben ist. Wir müssen uns in Demut vor Gott ergeben und uns bemühen, in jeder Situation, die Gott uns präsentiert, Gutes zu tun.

Jeder Schritt ein Auftrag

Warum erhielt Abraham keine Offenbarung über sein Reiseziel? Rabbi Salomon Yitschaki (11. Jahrhundert, Worms) erklärt, dass Gott den Lohn Abrahams erhöhen wollte. Es ist schwieriger, ohne ein klares Ziel durchs Leben zu gehen. Dies verdient dann eine größere Zuwendung in der Form von Gottes Nähe.

Laut Rabbi Jerucham Levovitz (20. Jahrhundert, Israel) wird unser Verdienst nicht nur durch die nagende Ungewissheit vervielfacht, sondern auch durch die Tatsache, dass jeder Schritt zu einer eigenen Mitzwa (einem göttlichen Auftrag) wird. Was für Abraham in seiner Unsicherheit galt, gilt auch für jeden von uns. Wäre Abraham von Anfang an befohlen worden, in das Gelobte Land zu gehen, wäre die gesamte Reise als ein einziger großer Auftrag betrachtet worden. Da Abraham sein Ziel nicht kannte, musste er Gott bei jedem Schritt fragen und auf Gott hören, um zu wissen, welchem Weg er folgen sollte. Jeder Schritt wurde so zu einem neuen Auftrag Gottes und zu einer neuen Aufgabe. Es ist schwierig, mit so viel Unsicherheit zu leben. Das Wichtigste ist, dass die Ungewissheit über unseren Weg es uns ermöglicht, uns bei jeder Entscheidung wieder mit Gott zu verbinden und uns ständig – und nicht nur am Anfang – zu fragen, was Gott von uns verlangt.

Totale Hingabe

Bis zum heutigen Tag ist Abraham ein Vorbild für uns alle. Er lebte mit einer Gesinnung der vollkommenen Hingabe zu Gott in dieser Welt. Das war damals absolut notwendig und auch heute noch unverzichtbar.

Abraham wurde wegen seines neuen Glaubens und seiner Weigerung, sich am Götzendienst zu beteiligen, zutiefst verachtet, isoliert und geächtet. Der damalige König Nimrod versuchte sogar, ihn zu töten. Abraham stand mit dem Rücken zur Wand, doch schließlich gelang es ihm, unter vielen Menschen den Monotheismus zu verbreiten. Deshalb wird er auch der erste Patriarch genannt. Er war nur auf der Seite Gottes und stand einer fanatischen, götzendienerischen Welt gegenüber. Gott versprach ihm, dass er, wenn dies ihm gelänge, Segen über die Welt bringen dürfe: „Sei eine Beracha, ein Segen“ (1. Mose 12,2).

Wie wurde Abraham zum Segen?

Segnen bedeutet im Hebräischen eigentlich „etwas zu Fall bringen“. Viele Dinge sind für uns im Himmel bereits vorherbestimmt. Aber wegen eines Hindernisses oder einer Behinderung hier auf der Erde – zum Beispiel wegen unserer mangelnden Glaubenshaltung, schlechter Taten, Gefühle oder unreiner Gedanken – wollen diese Segnungen nicht Wirklichkeit werden. Man kann das ändern, indem man mit Gott und mit sich selbst ins Reine kommt. Außerdem kann man zu einem großen Gelehrten und einer gläubigen Person gehen und um eine Beracha, einen Segen, bitten.

Abraham wurde zum Segen für die Menschheit, indem er den Menschen näher zu Gott brachte und den monotheistischen Glaubensweg einführte. Er überzeugte die Menschen von den Lehren Gottes und inspirierte sie, auf den Wegen unseres himmlischen Vaters zu wandeln. Das hebräische Wort für Segen – beracha – ist dem Wort berecha sehr ähnlich: Eine Wasserquelle, die uns von all unserer geistigen Verunreinigung reinigt. Wie dem auch sei, Abrahams Mission war geheimnisumwittert, aber durch Inspiration von oben verschwand alle Unsicherheit wie Schnee in der Sonne. Langsam, aber sicher erkennt die Welt wieder das göttliche Potenzial. Dies ist ein Gegengewicht zur Gottesfinsternis und dem Sündenfall.

Rabbi Dajan Raphael Evers war Oberrabbiner in Düsseldorf. Im Sommer 2021 wanderten er und seine Frau nach Israel ein. Foto: Jan Feldman

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 130. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen: https://csi-aktuell.de/israelaktuell. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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