Tobias Teichen ist Pastor bei ICF München. Die International Christian Fellowship ist eine überkonfessionelle Kirche. Warum er sich gerne mit Rabbinern austauscht und wie es dazu kam, dass in seiner Gemeinde geflüchtete Iraner deutschen Christen das Thema Israel nahebrachten, erzählt er in diesem Interview. Außerdem berichtet er von seiner alljährlichen Verabredung mit Gott in Israel. Die Fragen stellte Dina Röll, Leiterin des Arbeitsbereichs Junge Christen an der Seite Israels (JCSI).
Dina Röll: Du sagst, dass Israel für dich kein einmaliges Sonntagspredigt-Thema ist, sondern alle deine Predigten beeinflusst. Wie meinst du das?
Tobias Teichen: Israel ist nicht nur ein Land oder ein Thema, sondern eine Einstellung: Wie sieht man den ersten Teil der Bibel, wie den zweiten Teil, wie sieht man die hebräischen Wurzeln? Israel ist für mich nicht nur ein Thema für einen Sonntag im Jahr, sondern die Heilsgeschichte Gottes. Mit Abraham fing alles an: Abraham, der laut den Schriften selbst vorher Götzen angebetet hat, begegnet dem Gott, der sich später Gott Israels nennt. Er bekommt eine Vision von Gott und dann geht die Geschichte los. Alles, was dann passiert, sieht man entweder durch diese Brille – oder man denkt, dass das Alte Testament nicht mehr wichtig ist.
Für mich ist Gott ein Gott der Geschichte. Und er schreibt eine Geschichte mit seinem Volk, in die wir eingepfropft sind. Deswegen beeinflusst das einfach alles: wie ich predige, wie ich die Bibel verstehe. Ich streiche nichts, im Gegenteil: Wenn ich zum Beispiel Rabbinern begegne und ihnen Fragen stelle über den ersten Teil der Bibel, dann entdecke ich am meisten. Das ist bei ihnen nicht der erste, sondern der einzige Teil der Bibel. Und von der Art und Weise, wie ein Rabbi die Bibel liest, kann ich oft mehr lernen als von so manchen christlichen Theologen, die entweder eine Ersatztheologie haben oder eine Theologie, wo der erste Teil der Bibel nicht mehr zählt. Deswegen würde ich sagen: In jeder meiner Predigten ist diese Theologie vorhanden, ohne dass ich das Wort Israel dabei in den Mund nehme.
Wie oder was hast du gepredigt, als du diese Offenbarung über Israel noch nicht hattest?
Man kann schon predigen, aber man bleibt dabei eher in der Ersatztheologie: Man denkt, dass Israel der Plan im Alten Testament war. Und die Kirche hat den Platz von Israel eingenommen, weil Israel versagt hat. Deshalb hat Gott irgendwann gesagt: „Jetzt bauen wir die Kirche und nehmen nicht mehr die Bünde mit Israel.“ Diese klassische Ersatztheologie drücken wenige so aus, predigen sie aber letztlich doch so. Ich war sehr frustriert von meinen eigenen Predigten und auch von vielen deutschsprachigen Theologen, die ich damals kannte.
Ich habe mit 19 Jahren Jesus kennengelernt und die Bibel dreimal am Stück komplett durchgelesen. Damals habe ich schon gedacht, wenn wir zwei Drittel wegstreichen und sagen: „Das ist der Gott des Alten Testaments und das ist der Gott des Neuen Testaments“ – das kann nicht sein. Denn es heißt doch: „Gott verändert sich nicht“. Wenn ich aber glaube, dass Gott Israel einen ewigen Bund gibt und ihn dann bricht, weil Israel versagt hat – warum sollte ich dann glauben, dass er den Bund der Taufe mit mir hält, wenn ich ständig versage? Das war für mich alles unlogisch.
Man kann dennoch Jesus predigen, aber man scheut sich dann sehr vor dem Alten Testament. Ich hatte tausend Fragen und habe Gott gesagt: „Gott, ich würde gerne mal einen Rabbi treffen.“ Und dann hat Gott mir einfach einen messianischen Juden in den Gottesdienst geschickt. Wir haben uns getroffen und er hat angefangen, mir drei Tage am Stück Dinge über den ersten Teil der Bibel zu erklären.
Drei Tage! Das hört sich unglaublich an! Wie hat deine Gemeinde auf diese Veränderung reagiert?
Wir haben einmal im Jahr einen Roots-Sunday – einen Sonntag, an dem wir über die biblischen Wurzeln sprechen. Das hat am Anfang viel ausgelöst, weil in jedem von uns Antisemitismus und auch ein gewisses Bild von den Juden stecken. Zumindest im deutschsprachigen Raum sitzt das viel tiefer als man denkt. Das triggert etwas und deswegen hat es auch punktuell Emotionen ausgelöst. Die meisten Menschen waren aber sehr fasziniert und eher entlastet, weil sie auf einmal gemerkt haben, dass alles mehr Sinn ergibt. Am Ende des Tages haben sie dadurch das Wort Gottes und Gott selbst mehr geliebt. Die Lehre und auch die Predigten sind viel tiefer, breiter, höher. Und die Veränderungskraft Gottes wirkt viel stärker.
Vor ein paar Jahren hatten wir eine Zeit, wo viele Leute aus dem Iran geflüchtet sind, Jesus kennengelernt haben und in unserer Kirche die Rolle Israels entdeckt haben – was ja abgefahren ist! Im Iran wachsen die Menschen mit Hass auf Israel auf. Hier sind sie auf die Knie gegangen, umgekehrt und haben eine Liebe zu Israel empfangen, die man gar nicht erklären kann. Diese Iraner haben gesagt, sie wollen den Leuten unserer Kirche helfen, das auch zu verstehen. Wie skurril – ehemalige Muslime, die Jesus und ihre jüdischen Wurzeln kennengelernt haben, wollen der Kirche helfen, jüdische Feste kennenzulernen. Und so haben sie ein Pessach-Fest in unserer Kirche vorbereitet. Als der Lieferant vom Catering kam, hat er gefragt, was das für eine Veranstaltung sei. Da war die Antwort etwa: „Wir waren Muslime, jetzt sind wir Christen und wir feiern ein jüdisches Fest.“ Da hat er gesagt, in diese Kirche muss ich auch mal gehen – weil das menschlich so unmöglich schien.
Feiert ihr seitdem die biblischen Feste?
Ab und zu. Jedes biblische Fest weist meiner Meinung nach auf Jesus hin und man kann in jedem Fest erkennen, wofür Jesus eigentlich gekommen ist, wofür er gestorben ist und was er mir anbietet. Deswegen ist jedes Fest, mit dem ich mich beschäftige, ein großes Geschenk. Es ist ein zeitloses Ritual, das mir helfen kann, mit Gott nicht nur ins Gespräch zu kommen, sondern Dinge in meinem Leben wieder auf ihn auszurichten. Deswegen ist uns wichtig, den Leuten regelmäßig vor Ostern das jüdische Pessach zu erklären. Wir bieten Anleitungen zum Feiern von Pessach über YouTube-Videos an. Damit kann jeder jederzeit mit der Familie oder mit Freunden feiern. Wir sagen immer, es braucht eine Einsteiger-Variante. Später kann man tiefer eintauchen.
Weihnachten und die anderen christlichen Feste feiert ihr trotzdem auch weiter?
Das feiern wir trotzdem, für mich ist das gar kein Widerspruch. In unserer Kultur empfinde ich es als Möglichkeit, an Weihnachten und Ostern möglichst viele Menschen zu erreichen, die nicht kommen würden, wenn ich sie zu einem jüdischen Fest einladen würde. Ich bin der Meinung, dass die jüdischen Feste jemandem, der Jesus bereits kennt, helfen, tiefer zu gehen. Die anderen Feste sind Anlässe, um die, die Jesus noch nicht kennen, in die Kirche einzuladen. Ich finde es das Wichtigste, ein lebendiges Fest zu feiern, bei dem die Kinder Gott begegnen und nicht von Geschenken zugeballert werden.
Das heißt es gibt keine Geschenke bei Euch?
Es gibt Geschenke, aber die sind ganz klar im Kontext des Festes und wir feiern die ganze Zeit Jesus. Wir haben Rituale entwickelt: Zum Beispiel tauschen wir uns darüber aus, wofür wir Jesus dankbar sind und was wir Jesus im nächsten Jahr schenken wollen. Das erzählt dann jeder am Tisch. Oder als das Kind kleiner war, gab es eine Geburtstagstorte für Jesus. Wir schenken uns Geschenke immer mit der Symbolik, dass wir uns darüber freuen, dass Jesus geboren ist. Und deswegen feiern wir das auch großzügig, weil Gott uns großzügig beschenkt. Aber wir übertreiben es mit Geschenken nicht.
Wir haben darüber gesprochen, wie wir von unserem Wissen über Israel profitieren können. Wie segnet ihr als Gemeinde oder in eurer Familie Israel?
Als Gemeinde geben wir nach dem Motto: „Die Dinge, die Gott wichtig sind, sind uns wichtig.“ Wir geben mehr als zehn Prozent unseres Budgets weg. Davon gehen fünf Prozent in Kirchengründungen, damit Menschen Jesus kennenlernen, und fünf Prozent gehen nach Israel. Zudem segnen wir Israel und die ganze Region dadurch, dass wir regelmäßig dort sind und die Frage stellen: „Was hat Gott uns anvertraut und wie kann das der Region dienen?“ Wir finden es schwierig, wenn Kirchen hingehen und alles besser wissen und die eigene Kultur überstülpen.
Einmal hatten wir eine Situation, wo wir als christliche Gruppe zwei Rabbiner in Israel getroffen und ihnen nur Fragen gestellt haben. Die beiden waren unruhig und fragten dann, ob wir ihnen nicht noch etwas sagen wollten. Auf unsere Rückfrage meinten sie: „Ihr seid die erste christliche Gruppe, die zuhört. Alle anderen wollen uns nur ihre Botschaft von Jesus bringen.“ Ich kann von der jüdischen Seite mindestens so viel lernen, wie ich geben kann. Natürlich bin ich fest überzeugt, dass Jesus das Wichtigste ist, aber ich kann über meine Wurzeln eben sehr viel lernen, wenn ich zuhöre. Nur platt das Kreuz zu bringen, ohne mein Gegenüber und seine Kultur zu kennen – das sollte ich nirgends machen.
Würdest du sagen, dass Israel für deine Gemeindemitglieder ein ebenso wichtiges und natürliches Thema ist, wie für dich?
Das ist ein Kulturprozess. In einer wachsenden Kirche kannst du das nie so genau sagen, da ja immer wieder neue Leute zum Glauben kommen. Aber für die Leute, die länger da sind, wird es schon zu einem wichtigen Thema. Und wir machen ja auch jedes Jahr Camps in Israel, die wir immer weiter ausbauen möchten. Was ist das Motto deiner Kirchengemeinde in Bezug auf Israel? Auf eine gesunde Art wollen wir unsere hebräischen Wurzeln entdecken. Denn ohne diese werden wir nie die volle Kraft des Glaubens entdecken.
Du warst früher Lehrer an einer Hauptschule. Ist dir in dieser Zeit Antisemitismus begegnet?
Antisemitismus begegnet mir leider ständig. In der Mittelschule, in der Großstadt, in Brennpunktschulen wo ich war, gibt es sehr viele Kinder mit Migrationshintergrund und oft auch muslimischem Glauben. Aber sie müssen nicht einmal Muslime sein. Das fängt an, wenn beim Fußball ein Tor fällt, das ein bisschen komisch oder geschummelt war, dann wird das „Judentor“ genannt. Viele haben Vorurteile und hegen Hass gegenüber Juden, ohne jemals einem begegnet zu sein. Das spürt man überall durch Kommentare oder Sprüche.
Gerade wenn politisch etwas mit der Westbank oder dem Gazastreifen passiert ist, dann geht es richtig ab. Deswegen habe ich einmal ein paar meiner Schüler zum Essen eingeladen. Wir waren in einem jüdischen Restaurant. Das habe ich davor aber nicht gesagt. Es hat ihnen richtig gut geschmeckt und alles war sehr nett. Als ich ihnen danach gesagt habe, dass wir in einem jüdischen Restaurant waren, waren sie geschockt da rüber, dass Juden so nett sein können. Es geht also viel um Aufklärung.
Du bist einmal im Jahr in Israel, um Gottes Willen zu suchen und Menschen zu treffen. Wo bist du dann in Israel unterwegs? Reist du allein oder mit anderen zusammen?
Ich reise eigentlich immer mit meiner Familie und mit zentralen Leitern aus der Kirche in unterschiedlichen Zusammensetzungen. Dafür mache ich keine klassischen Touren, wie es oft bei Reisegruppen der Fall ist. Ich habe kein großes Interesse an alten Steinen, sondern an lebendigen Steinen: Ich möchte Menschen begegnen. Ich hatte vor einigen Jahren den Eindruck, Gott möchte, dass ich einmal im Jahr nach Israel reise; dass er dort eine Verabredung mit mir haben und mir etwas zeigen möchte. Mit dieser Haltung reise ich nach Israel. Ich sage: „Gott, du darfst mir jetzt Dinge zeigen, mir Gedanken geben, Impulse geben, was auch immer.“ Vorher bete ich: „Wen soll ich treffen?“ Ich habe ein paar Freunde, die sehr vernetzt sind, die frage ich vorher. So lerne ich viele neue Leute kennen.
Gibt es eine bekannte Persönlichkeit in Israel, mit der du gerne einen Kaffee trinken würdest?
Ich glaube, mit dem aktuellen Militärchef. Mich würde interessieren, was die Gedanken oder Beweggründe sind, warum, wie, zu welchem Zeitpunkt gehandelt wird. Ich finde das alles sehr schwierig. Wie kämpft man gegen ein terroristisches Gegen über? Was ist maßvoll, was nicht? Ich habe Panzer, ich habe Flugzeuge, ich habe die modernste Technik, aber ich habe da gegenüber jemanden, dem Menschenleben vollkommen egal sind. Wie schaffe ich es, dass die Leute in meiner Armee nicht durchdrehen?
Zum Schluss noch eine ganz andere Frage: Du sagst über dich: „Ich bin nicht in erster Linie zum Predigen hier, sondern um Leiter auszubilden.“ Was würdest du besonders jungen Leitern mit auf den Weg geben?
Ich glaube, gerade als junger Mensch hat man oft große Ziele. Das ist super, aber man unterschätzt manchmal, dass es kleine Schritte dorthin braucht. Nach Matthäus 28 verstehe ich es als unseren Grundauftrag, dass wir anderen helfen sollen, im Glauben zu wachsen und Nachfolger von Jesus zu werden. Der erste Schritt von Leiterschaft ist daher, anderen zu helfen, im Glauben zu wachsen. Ich kann beten: „Gott, zeige mir eine Person, der ich helfen kann, im Glauben zu wachsen. Zeige mir, wie ich das machen soll.“ Und dann wird Gott mir Möglichkeiten geben.
Wenn ich im Kleinen treu bin, vertraut mir Gott viel an, deswegen würde ich auch immer eine große Vision haben. Das eine Auge schaut schon in die Zukunft, das andere Auge schaut, fast schielend, nach dem, was Gott mir vor die Füße legt. Und da bin ich treu. Diese Spannung führt am weitesten: Wenn ich nur in die Zukunft gucke, komme ich nicht vorwärts, und wenn ich nur vor die Füße gucke, komme ich auch nicht vorwärts. Deswegen gilt es, große Träume zu haben, die mich auf die Knie bringen, um zu beten und kleine Schritte im Alltag zu machen und Dinge einfach auszuprobieren.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 133. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.