Ich bin keine Heldin – ich tue nur, was Gott mir aufgetragen hat

Ich bin keine Heldin – ich tue nur, was Gott mir aufgetragen hat

Natalia (2. v. r.) ist nonstop im Einsatz, um ukrainische Juden aus den zerstörten Städten zu retten und in Sicherheit zu bringen. Foto: Svetlana Soroka

Natalia gehört zu der Generation von Ukrainern, die in den Umbruchsjahren nach dem Ende der Sowjetunion als junge Leute zum Glauben kamen. Nach einer tiefen Gottesbegegnung widmete die studierte Journalistin ihr Leben dem Dienst an ihren jüdischen Landsleuten. Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine am 24. Februar riskiert sie für diese Berufung ihr Leben.

Gerade ist Natalia mit jüdischen Flüchtlingen aus den umkämpften Vororten von Kiew in der temporären Sicherheit der Notunterkunft von Christen an der Seite Israels e.V. (CSI)  in der Westukraine angekommen. Eigentlich wohnt sie in einem Kiewer Vorort und betreut seit 2014 ein Gästehaus, wo ukrainische Juden auf dem Weg nach Israel Station machen können. Nun lebt Natalia selbst aus dem Koffer – das Haus liegt in gefährlicher Nähe zu einem jüngst bombardierten Kraftstofflager bei Kiew. Zusammen mit einem Team von CSI-Mitarbeitern ist sie nonstop im Einsatz, um ukrainische Juden aus den zerstörten Städten zu retten und in Sicherheit zu bringen. Von der CSI-Notunterkunft werden sie zur moldawischen Grenze gebracht und dort weiter zum nächsten Flughafen, wo die israelische Einwanderungsorganisation „Jewish Agency“ übernimmt.

Aufbruch in ein neues Leben: Natalia (r.) ist Teil des CSI-Teams, das jüdische Flüchtlinge bei der Ausreise nach Israel unterstützt. Foto: Christians for Israel

„Ich arbeite seit 25 Jahren mit Natalia zusammen“, sagt David, der mit seiner Frau Raja die kleine jüdische Gemeinschaft in Browary im Nordosten von Kiew geleitet und viele Lebensmittelpakete von CSI an die Bedürftigen verteilt hat. „Die Fahrt nach Kiew hat schon mehrere Stunden gedauert, weil es überall Kontrollposten gibt.“ „Wir waren die letzten Wochen ständig unter Beschuss, wir konnten nicht mehr bleiben“, fügt Raja hinzu. „Natalia hat alles organisiert, ihr Team hat sich so lieb um uns gekümmert!“

„Ich komme aus Irpin“, erzählt Svetlana, die auch gerade aus dem Minibus ausgestiegen ist und in der Westukraine Zwischenstation macht, bevor es am nächsten Tag weiter an die Grenze geht. „Eigentlich stamme ich aus Donezk. Vor acht Jahren, 2014, bin ich schon einmal geflohen. Über das jüdische Sozialwerk ‚Chesed‘ bin ich in Kontakt mit Natalia gekommen. Sie hat damals schon den Flüchtlingen viel geholfen. Das stand mir alles vor Augen, als es jetzt wieder anfing.“

Svetlanas Wahlheimat Irpin, ein moderner Vorort im Nordwesten von Kiew, wurde gleich zu Beginn der russischen Angriffe Ende Februar schwer getroffen – ganz in der Nähe befindet sich der Flughafen von Gostomel, der bombardiert wurde. „In unserem Hochhaus gab es keinen Luftschutzkeller. Die Leute sind herumgeirrt und haben einen Schutzraum gesucht. Mein Bein ist kaputt, ich konnte nicht schnell rennen“, so Svetlana. „Es gab nichts mehr – kein Wasser, kein Gas, keinen Strom, kein Telefonnetz. In den letzten Tagen haben die Männer, die noch da waren, draußen ein Feuer gemacht und versucht, etwas zu kochen. Wer immer konnte, ist bei der nächsten Gelegenheit weggefahren. Ich hatte Glück – ich konnte mit meinen Nachbarn mitfahren. Dann habe ich Natalias Nummer gewählt.“ Svetlana will auf jeden Fall so schnell wie möglich nach Israel – auch wenn sie noch niemanden dort kennt. Jemand muss der erste sein.

Eine persönliche Berufungsgeschichte

Seit mehr als 25 Jahren ist das Team von CSI und dem internationalen Dachverband „Christians for Israel“ in der Ukraine tätig, um die jüdischen Gemeinden vor Ort mit Hilfsgütern zu unterstützen, Holocaustüberlebende zu betreuen und bei der Ausreise nach Israel behilflich zu sein. Geleitet wird das Team von vielen Bibelworten, die vom Ende der Diaspora und der Rückkehr des jüdischen Volkes nach Israel sprechen: „So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will meine Hand zu den Heiden hin erheben und für die Völker mein Banner aufrichten. Dann werden sie deine Söhne in den Armen herbringen und deine Töchter auf der Schulter hertragen.“ (Jes. 48,22) Für Natalia steckt auch eine persönliche Berufungsgeschichte dahinter.

„Als ich 1994 meine Bibelschule beendet hatte, habe ich mich für ein paar Tage zurückgezogen, um zu beten und zu fasten und mir über meine Berufung klar zu werden“, berichtet Natalia. „Am ersten Abend konnte ich plötzlich meine Beine nicht mehr bewegen. Sie waren gelähmt. Mir gingen tausend Gedanken durch den Kopf. Worauf hatte ich mich bei meiner Bekehrung eingelassen? Hatte ich irgend etwas falsch gemacht? Meine Großmutter hat mir Buchweizensuppe gebracht und versucht, mich wieder aufzupäppeln. Am dritten Abend habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Gottes Stimme gehört. Ich weiß es noch wie heute: ‚Mit diesen Füßen wirst du von Haus zu Haus gehen und mein Volk heimbringen.‘ Ich war sofort wieder gesund. Seitdem tue ich genau das.“

Jahrzehntelang hat Natalia Beziehungen mit jüdischen Gemeinden in der Ukraine aufgebaut. Ungefähr 2,5 Millionen Juden haben vor dem 2. Weltkrieg einmal im „Land von Anatewka“ gelebt. Jede Stadt hat ihre eigene tragische Geschichte des Holocaust. In vielen Städten sind die jüdischen Gemeinden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder aus dem Untergrund aufgetaucht. Die Altersarmut ist enorm; die wirtschaftliche Situation ist in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden. Natalia konnte viele jüdische Senioren über das personalisierte Patenschaftsprogramm von CSI auffangen und ihnen ein Stück Liebe aus Deutschland übermitteln. Mehr als 8.000 Menschen haben bisher ihre Gastfreundschaft bei Kiew erlebt und die uralten Prophetenworte über die Rückkehr des jüdischen Volkes in ihre historische Heimat Israel gehört und zu Herzen genommen. Und plötzlich ist wieder Krieg.

Im Schockzustand

„Jeder Tag fängt damit an, dass wir alle versuchen, unsere Angehörigen zu erreichen, um zu erfahren, ob sie noch leben,“ so Natalia. „Leute sterben, Menschen verdursten in ihren Luftschutzkellern in den belagerten Städten, so viele Kinder sterben… Die Gedanken darüber, was gerade mit meinem Land passiert, sind rund um die Uhr in meinem Kopf. Ich kann sie nicht abschalten. Ich mag es nicht hören, wenn Leute mich mutig nennen. Ich bin gar nicht mutig. Mein Magen ist verkrampft vor Angst. Als es anfing, hatte ich einen Brechkrampf… Wenn du die Bombe hörst, kannst du deine Reaktion nicht kontrollieren, du bist einfach im Schock. Ich bin keine Heldin –  ich habe noch etwas anzuziehen, etwas zu essen, habe es warm – eine Milliarde Gründe, Gott dankbar zu sein! Ich tue nur, was Gott mir aufgetragen hat!“

Eine Stadt nach der anderen sendet Schreckensnachrichten. Eine davon ist das belagerte Tschernigow im Norden, eine der ältesten und schönsten Städte der Ukraine, mit der Natalia unzählige Erinnerungen an Besuche in jüdischen und christlichen Gemeinden verbinden.

Natalia (l.) mit jüdischen Flüchtlingen aus den umkämpften Vororten von Kiew in der Notunterkunft von Christen an der Seite Israels. Foto: Christians for Israel

„Tschernigow ist ein einziges Grauen. Niemand kommt da raus oder rein“, berichtet Natalia. „Am Wochenende hat noch jemand von unserer Gemeinde dort ein paar Hilfsgüter hingebracht. Als er zurück war, haben sie die Brücke gesprengt. Die Leute wollten schon mit Booten fliehen. Es wurde ein grüner Korridor versprochen für heute, aber gar nichts ist passiert. Die Stadt ist unter Dauerbeschuss. Die Leute können nur mit Atemschutzmasken nach draußen gehen – die Luft ist völlig verpestet, es ist wohl auch Methangas ausgetreten. Das Herz tut mir so weh bei dem Gedanken an Tschernigow. Das ganze Land ist ein Held. Ich kann nicht darüber sprechen, ohne dass mir die Tränen kommen.“

Gerade hat Natalia eine Freundin wiedergefunden, von der sie drei Wochen lang kein Lebenszeichen hatte. „Sie lebt in einem Dorf bei Tschernobyl. Die Region ist komplett von russischen Truppen besetzt. Eine Nachbarin ist 10 Kilometer gelaufen, bis sie ein Telefon gefunden hat. Von dort hat sie alle Angehörigen des Dorfes darüber benachrichtigt, wer noch lebt. Was dort passiert, ist unvorstellbar. Jetzt sind die russischen Streitkräfte durch Tschetschenen ersetzt worden. Das sind die schlimmsten; sie haben gar keine Beziehung zu unserem Land. Ein 16-jähriges Mädchen wurde gruppenvergewaltigt. Ein Vater mit Familie wurde mit seinem Auto angehalten. Als er mit erhobenen Händen ausstieg, haben sie ihn erschossen. Dann haben sie die Mutter erschossen – schützend über ihr Kind gebeugt. Hat denn niemand Albträume von all diesen ermordeten Kindern?“

Vergangene Nacht wurde Natalia wieder von ihrem Telefon geweckt. „Normalerweise mache ich mein Handy nachts aus. Ich war neun Stunden unterwegs gewesen. Da bekam ich plötzlich eine SMS aus unserer Partnergemeinde in Cherson (Anm.: belagerte Hafenstadt am Schwarzen Meer): ‚Betet! Hier sind schreckliche Kämpfe.‘ Kaum hatte ich zu Ende gelesen, da kam eine Nachricht aus Isjum (Anm.: Ostukraine): ‚Betet: Wir werden stark angegriffen!‘ Ich konnte nur noch weinen und beten am Küchentisch. Das ist ein Schmerz über mein ganzes Land, der Schmerz der ganzen Ukraine. Kurze Zeit später bekam ich einen Anruf von Freunden aus Amerika: „Wir haben gerade eine Gebetsversammlung in Texas. Können wir dich live zuschalten?‘ So haben wir die ganze Nacht gebetet.“

Zur Ruhe kommen bei Gott

Natalia hat Freunde in der ganzen Welt. Viele haben ihr angeboten, sie aufzunehmen oder ihr wenigstens eine Zeit zum Auftanken zu ermöglichen. „Gerne – wenn der Krieg vorbei ist!“, war Natalias Reaktion. „Immer wenn die Leute aus dem Auto raus sind, mache ich Lobpreis und Anbetungsmusik an. Ich drehe voll auf. ‚Nur in Gott kommt meine Seele zur Ruhe.‘ Nach einer Weile werde ich etwas ruhiger. Das trägt mich jetzt. Sonst könnte ich es nicht aushalten.“

Natalia macht weiter. Anruf um Anruf, Fahrt um Fahrt – solange Gott ihr die Kraft gibt. Solange Menschen für sie beten. Solange Menschen ihren Dienst unterstützen.

Bitte unterstützen Sie unsere Notfallkampagne „SOS Ukraine“ und helfen Sie uns dabei, jüdische Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen. Jedes Gebet, jede Spende zählt! Wir danken Ihnen im Voraus für Ihre Unterstützung!

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