„Ich habe geträumt, dass ihr kommt“

„Ich habe geträumt, dass ihr kommt“

Lubow teilt ihre Überlebensgeschichte mit unserer Mitarbeiterin Anemone Rüger und ist tief berührt über den selbstgestrickten Schal aus Deutschland. Foto: privat

Eigentlich wollte ich nach Moldawien, um dort bei der Evakuierung und Begleitung der traumatisierten Flüchtlinge aus der Ukraine zu helfen. Aber im Moment ist es relativ ruhig – die Älteren können sich nur schwer von ihren Sowjetwohnungen und ihrer vertrauten Umgebung losreißen, und die Jüngeren warten darauf, dass sie ihre Männer mitnehmen können, wenn die Pflicht zum Kriegsdienst aufgehoben wird.

Aber wenn sich irgendwo für eine Zeit eine Tür schließt, öffnet Gott ein Fenster. Durch die vielen Evakuierungsfahrten aus der Ukraine an den Flughafen in der moldawischen Hauptstadt Chisinau [sprich: Kischinjau] bekam unser Team Kontakt mit einem örtlichen Rabbiner, der uns mit dem jüdischen Sozialwerk in Belz bekannt machte. Das „Schtetele Belz“ hatte in den 1930er Jahren fast 15.000 jüdische Einwohner – mehr als 60 Prozent. Nach dem deutschen Einmarsch 1941 wurde das damalige Bessarabien vom verbündeten Rumänien besetzt. Die jüdische Bevölkerung wurde über den Grenzfluss Dnjestr in die Ghettos und Todeslager auf ukrainischem Gebiet getrieben; ein Großteil kam unterwegs um.

Wir fahren über Land. Der VW-Bus rattert über die sowjetische Betonautobahn; man könnte sich fast in einem Eisenbahnwaggon wähnen. Die Plattenbauten der Hauptstadt haben wir hinter uns gelassen. Da, wo der Mensch hier nichts gebaut hat, ist es schön. So grün, dieses Land. Sanfte Hügel, Weinberge und Obstplantagen, soweit das Auge reicht. Hier und da fällt die Abendsonne in breiten Streifen auf die Landschaft wie auf einem Kalenderbild aus der Toskana. Ab und zu werden die sattgrünen Flächen durch einen Bauernhof oder einen Pferdewagen unterbrochen.

Jetzt bin ich hier zum ersten Mal in diesem ärmsten Land Europas. Es fühlt sich eigentlich alles so vertraut an. Als wäre ich in der Ukraine. Als wäre ich nie weg gewesen. Schwer vorstellbar, dass nur wenige Fahrstunden von hier ein Krieg tobt.

Lubow ist die erste Frau, die wir in der Region Belz besuchen. Sie ist am 5. April 100 Jahre alt geworden. Auf dem Sofa, zu dem uns ihre Tochter führt, wirkt sie so zerbrechlich, als könnte man sie mit einer Hand hochheben. Doch ihr Geist ist hellwach, und sie richtet sich für ihre Gäste erwartungsvoll auf.

1922 ist sie in diesem Dorf, Drokia, geboren. Ihr Vater, Isaak, war Schneider. Ihre Mutter färbte die schönsten Stoffe. „Bei uns haben alle Jiddisch gesprochen“, erzählt Lubow. „Papa ist gestorben, als ich vier war. Und Mama hat sich beim Stoffe färben eine Vergiftung geholt.“ Sie starb, als Lubow 14 war. Die älteren Geschwister mussten sich fortan um die jüngeren kümmern.

„Dann war Krieg. Sie haben uns alle in ein Lager getrieben, nach Kodyma. Unterwegs konnte mein Bruder Avram nicht mehr weiter. Er war krank geworden. Da haben sie ihn erschossen. Seine ganze Familie haben sie erschossen, seine Frau und seine beiden Jungs.

Sie haben uns von Ort zu Ort getrieben

Meine Schwester ist auch mit mir ins Lager. Ich habe ihr kleines Mädchen auf den Armen getragen. Sie war 2. Sie ist verhungert. Sie ist auf meinen Armen unterwegs gestorben“ erzählt Lubow. Die Erinnerungen treiben ihr die Tränen in die Augen.

„Sie haben uns von Ort zu Ort getrieben – über den Dnjestr nach Transnistrien. Wir haben völlig das Zeitgefühl verloren. Aber einmal hat ein Auto in einem Dorf angehalten. Das waren deutsche Soldaten. Einer von ihnen hat mir zwei Laib Brot und Vitamine gegeben. So etwas gab es auch. Ich war so glücklich über dieses Geschenk. Ich habe es gleich mit meiner Schwester geteilt.“

„Ich habe so viel erlebt“, sagt Lubow immer wieder. „Viel Schlimmes…“ Von Lager zu Lager wurde sie mit ihren Angehörigen getrieben. „Einen Monat haben wir unter offenem Himmel im Wald gelebt. Dann mussten wir Straßen bauen… Eines Tages bin ich angeschossen worden. Ich dachte, jetzt ist alles vorbei. Aber da hat mich eine Ukrainerin gerettet. Sie hat mich mit nach Hause genommen und versorgt. Und dann hat sie mir geholfen, weiter zu fliehen. Meine ganze Familie ist umgekommen. Nur mein jüngster Bruder hat überlebt. Die Russen haben ihn geschnappt und gedacht, er sei desertiert. Da haben sie ihn eingesperrt. Und so hat er überlebt.“

Doch Lubow („Liebe“) ist nicht bitter geworden. Sie kommt über ihrem schweren Leben zu diesem erstaunlichen Schluss:

„Heute habe ich zwei Töchter, drei Enkel und drei Urenkel. Alles was ich in meiner Jugend verloren habe, hat Gott mir wiedergegeben in meinen Kindern und Enkeln.“

Und dann hat sie noch eine besondere Information für uns: „Ich habe am Sonntag geträumt, dass ihr kommt. Dass eine Frau kommt, die mich in ein schönes Tuch einwickelt. Gott hat euch geschickt. Ich habe es bestimmt nicht verdient, dass jemand mich sehen will. Es erstaunt mich. Und es ist so schön für mich.“

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