Patenschaftsprogramm in Moldawien: Die Juden vom „Schtetele Belz“

Patenschaftsprogramm in Moldawien: Die Juden vom „Schtetele Belz“

Moldawien hat fruchtbare Böden, doch dem Land fehlen gute Verwalter und Stabilität.

Während Besuche bei den Bedürftigen in der Ukraine aufgrund des andauernden Krieges lange nicht möglich waren, hat sich für uns eine neue Tür aufgetan: Moldawien. Auch in diesem ärmsten Land Europas leben noch viele traumatisierte jüdische Kriegskinder und verarmte Nachkriegskinder, die inzwischen alt geworden sind und unsere Hilfe brauchen.

„Mein Jiddisch habe ich hier in Belz gelernt; hier haben alle Jiddisch gesprochen“, sagt Lina, deren Familie eigentlich aus Kiew stammt und einst sehr wohlhabend war. Ihr Großvater war ein angesehener Kaufmann der „Ersten Gilde“ und durfte sich deshalb schon zu Zarenzeiten dort niederlassen.

„Oma wollte nicht weg, als 1941 der Krieg ausbrach“, erzählt Lina. „‚Dort im Osten braucht uns auch niemand; hier wird uns schon niemand anrühren,‘ hat sie gesagt. Ich bin mit Mama geflohen, erst auf einem Pferdewagen, dann in einen Güterwaggon, der Kohle transportiert hat. Wir haben oben auf der Kohle gesessen. Als wir wieder zurückkamen und angefangen haben, unsere Verwandten zu suchen, haben die Nachbarn nur gesagt: Babi Yar. Oma liegt dort, und mit ihr 50 Verwandte von Mama und Papa.“ Nach dem Krieg wurde der Vater von der zentralen sowjetischen Arbeitsstellenverwaltung nach Belz in den Norden Moldawiens versetzt, wo Lina bis heute lebt.

Die Holocaust-Überlebende Lina mit CSI-Mitarbeiterin Anemone

Belz, mein Schtetele Belz… der moldawische Wein… die Burgen Bessarabiens… Mir fallen viele Assoziationen mit Moldawien ein, das nach einem alten Fürstengeschlecht jahrhundertelang Bessarabien hieß; besonders aber ein Satz, den wir an den Gedenkstätten in der Ukraine immer wieder gehört haben: „Dann kamen die Juden aus Bessarabien hier an“.

Massengräber findet man in Moldawien nur wenige. Die Mahnmale markieren hauptsächlich die Orte, wo die Todesmärsche begannen. Die jüdische Bevölkerung der in der Zwischenkriegszeit rumänischen Region Bessarabien wurde nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion zunächst in Ghettos gesperrt. Im Spätherbst 1941 dann wurden die Juden durch das mit Hitlerdeutschland verbündete rumänische Regime ohne jegliche Versorgung über den Grenzfluss Dnjestr in die Region Transnistrien getrieben, die damals bis zum Südlichen Bug weit in die heutige Ukraine hinein reichte. Wer es bis dorthin schaffte, hatte qualvolle Jahre von Hunger, Kälte und Krankheit im überfüllten Ghetto von Berschad oder einen langsamen Tod im Todeslager Petschora vor sich.

Diese Orte haben wir in den vergangenen Jahren oft mit unseren Reisegruppen besucht. Und nun haben wir durch die vielen Evakuierungsfahrten aus der kriegsgeschüttelten Ukraine nach Moldawien seit Februar einen Zugang bekommen zu den einst blühenden jüdischen Gemeinschaften, aus denen die Juden damals vertrieben wurden.

Es sind dieselben heruntergekommenen Wohnblocks in den Städten, dieselben blau gestrichenen Treppenaufgänge, dieselben verrosteten, verbogenen und schon seit vielen Jahren nicht mehr benutzten Briefkästen.

Moldawien hat sich nie so richtig von seiner sozialistischen Vergangenheit verabschiedet. Hier und da trifft man noch die altbekannten Genossen Marx, Engels und Lenin auf ihren Sockeln. Aber die Moldawier sind nicht besonders dogmatisch. Ein bisschen Europa, ein bisschen Sowjetunion im Zentrum von Belz beispielsweise, während am Stadtrand das alte Schtetl durchkommt. Viele Häuschen auf dem Land sind verlassen, verfallen oder zum Verkauf.

In den Staädten sind die Spuren sowjetischer Vergangenheit noch vielerorts zu sehen.

Die mittlere Generation fehlt im Stadtbild. Die Bevölkerung ist nach Angaben des Taxifahrers seit Zusammenbruch der Sowjetunion von 4,2 auf 2,8 Millionen geschrumpft. Es gibt einfach keine Arbeit. Das, was an Produktion vorhanden war, wurde ähnlich wie in der Ukraine schnell zu Geld gemacht und verschwand aus der Infrastruktur des Landes.

Moldawien – fruchtbar, aber arm und teuer

Dabei hieß es früher: „Moskau wird von Moldawien ernährt”. Was übriggeblieben ist, ist nicht viel mehr als eine einzige große Obstwiese. Das Land ist so fruchtbar. Was fehlt, sind gute Verwalter – und Stabilität. Die Inflation liegt im Moment bei 35 Prozent. Die Renten bewegen sich um die 100 Euro, während die Lebensmittelpreise z.T. deutlich über den deutschen Vergleichswerten liegen.

Doch die Not ist nicht nur äußerlich. Moldawien gilt als das am wenigsten besuchte Land Europas. Wir konnten inzwischen Dutzende Holocaustüberlebende und notleidende jüdische Senioren im moldawischen Norden um Belz und in der Hauptstadt Chisinau kennenlernen. An keiner Krankheit leiden die meist verwitweten Senioren so sehr wie an der Einsamkeit. Und auch die Vergangenheit steckt vielen noch unverdaut in den Knochen.

Zurück zu Lina, der wir eine Lebensmitteltüte, einen handgestrickten Schal aus Deutschland sowie unsere ganze Aufmerksamkeit für ihre bewegende Geschichte mitgebracht haben.

„Ich habe schon viel Besuch gehabt aus verschiedenen Ländern“, sagt Lina, während sie sich mir zuwendet. „Aber du bist die erste, die aus Deutschland zu mir kommt.“ Falls ich mir bis jetzt noch nicht sicher war – jetzt weiß ich, dass wir als Deutsche eine Aufgabe in diesem Land haben.

Helfen Sie mit, auch in Moldawien zerbrochene Herzen zu heilen: Übernehmen Sie eine Patenschaft! Gemeinsam können wir den jüdischen Kriegs- und Nachkriegskindern den Alltag erleichtern.

Viele Menschen in Moldawien leben von der Landwirtschaft.
Moldawien gilt als ärmstes Land Europas, obwohl es sehr fruchtbare Böden hat.
Mehr als 50 Überlebende und Bedürftige warten auf einen Paten. Fotos: CSI
Linas Familienfoto haben die Nachbarn für sie gerettet. Foto: privat

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