Alon Gat hat beim Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 fast jedes Grauen erlebt: Er wurde mit seiner Familie entführt, konnte sich aber mit seiner kleinen Tochter befreien. Seine Frau Yarden Roman-Gat wurde im Rahmen eines Deals freigelassen. Seine Mutter wurde getötet, seine Schwester Carmel befindet sich noch immer als Geisel in den Fängen der Hamas. Nun kämpft Alon Gat für die Freilassung seiner Schwester und aller weiteren verbliebenen Geiseln. Josias Terschüren, Bereichsleiter Gesellschaft und Politik bei Christen an der Seite Israels, traf ihn Mitte April in Berlin.
Josias Terschüren: Alon, Sie haben erlebt, wie Ihre Frau Yarden von der Hamas freigelassen wurde. Auch Ihre Schwester Carmel sollte freikommen, ihr Name stand auf einer Liste. Doch dazu kam es nicht. Was ist passiert?
Alon Gat: Es gab keine Liste, das war ja das Problem. Die Hamas brachte keine Liste, was nicht den Regeln des Abkommens entsprach. Sie brachen das Abkommen, der Deal wurde gestoppt und die Kämpfe begannen von Neuem. Es war niederschmetternd zu wissen, dass meine Schwester so kurz davorstand, freigelassen zu werden und es dann doch nicht klappte.
Erst himmelhochjauchzend und dann zu Tode betrübt …
Ja, so erging es insbesondere Yarden, weil sie ja selbst in Gefangenschaft war und sehr genau wusste, was dort vor sich geht. Als wir an jenem Freitag erfuhren, dass Carmel nicht freikommen würde, war Yarden am Boden zerstört. Wir dachten dann, es würde noch ein oder zwei Wochen dauern, bis die Verhandlungen wieder aufgenommen würden – aber das war nicht der Fall. Jetzt ist schon mehr als ein halbes Jahr vergangen und wir sind immer noch nicht weiter.
Mit Yarden waren Geiseln freigelassen worden, die zuvor gemeinsam mit Carmel in Gefangenschaft gewesen waren. Sie erzählten uns einiges über ihren Aufenthaltsort und wir erfuhren, dass sie und Carmel bei der Verschleppung im selben Auto saßen, einem Van mit acht Terroristen. Sie kamen auch an dem Ort vorbei, an dem meine Mutter ermordet wurde. Wir wissen also, dass Carmel die Leiche meiner Mutter gesehen hat. Das ist eigentlich das Einzige, was sie weiß: Dass unsere Mutter ermordet wurde. Aber sie weiß nichts von mir, Yarden, und unserer Tochter Geffen oder von unserem Vater. Unsere tote Mutter war das Letzte, was sie von unserer Familie sah, als sie den Kibbutz verließ.
Die Gruppe wurde in ein Haus im Gazastreifen gebracht und war dort 50 Tage lang am selben Ort mit denselben Wachen. In diesen Wochen wurden sie sehr schlecht behandelt, es gab viele Misshandlungen. Trotzdem habe Carmel die Kraft gefunden, Yogatrainings zu veranstalten. So gelang es den Geiseln, sich gegenseitig aufzurichten, wenn einer von ihnen am Boden war. Sie schrieben gemeinsam ein Tagebuch, um alles festzuhalten, was sie an jedem Tag getan haben. Sich um andere zu kümmern, ist typisch Carmel!
An Tag 50 wurde Carmel von der Gruppe getrennt. Sicherlich haben Sie von dem UN-Bericht gehört, der sexuelle Übergriffe im Zuge des Überfalls und danach belegt. Die unfassbar tapfere Susanna, eine der freigelassenen Geiseln, hat erzählt, was sie in Gefangenschaft durchgemacht hat – die Vergewaltigung und den Missbrauch. Ich habe Angst um meine Schwester. Ich weiß nicht, wie es ihr geht und was sie womöglich gerade jetzt durchmacht.
Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir verstehen müssen, dass wir nicht mehr länger warten können und dass wir die Geiseln so schnell wie möglich nach Hause bringen müssen. Das ist nicht nur eine Parole, sondern etwas, das uns Tag für Tag beschäftigt. Morgen kann ich einen Anruf erhalten, dass meine Schwester in Gefangenschaft ermordet wurde! Wenn man so etwas hört oder liest, mag es einem abstrakt vorkommen. Das ist es aber nicht! Ich hätte auch nie gedacht, dass mich jemand aus meinem Haus entführen würde. Aber es ist passiert, und es ist in Israel passiert.
Als Yarden in Gefangenschaft war, wurde sie von einem Terroristen bewacht, der einen Master-Abschluss in Jura hat. Er sagte ihr: „Israel ist nur der Anfang. Der Rest der westlichen Welt ist als nächstes dran – und wir werden kommen.“ Als den Terroristen klar wurde, dass Yarden auch deutsche Staatsbürgerin ist, sagten sie zu ihr: „Keine Sorge, wir haben viele Hamas-Leute in Deutschland. Warte nur ab, wir werden auch dorthin kommen.“ Diese Leute sind Teil des weltweiten Dschihad, der darauf aus ist, die aufgeklärte Welt, in der wir leben, zu zerstören und die ganze Welt zu erobern. Wir müssen also alles daransetzen, dass dies kein Präzedenzfall war. Es ist in Israel passiert, und es wird auch woanders passieren: vielleicht in einem Monat oder im nächsten Urlaub. Wenn die Welt jetzt nicht aufsteht und laut dagegen aufschreit, wird es genauso kommen.
Es besteht die Gefahr, dass die Hamas gestärkt aus alldem hervorgeht.
Die Hamas registriert das sehr genau: Die Geiseln sind seit einem halben Jahr gefangen und die Welt spricht nur noch über die humanitäre Krise in Gaza. Die Welt muss aber begreifen, dass die humanitäre Krise am 7. Oktober mit dem Überfall auf Israel begann. Für die Geiseln hält sie seither an. Hamas hält nicht nur die Geiseln in Haft, sondern auch alle Zivilisten in Gaza. Ab dem Moment, in dem Hamas die Geiseln freilässt, die Waffen niederlegt und aufgibt, werden die Menschen in Gaza ein besseres Leben haben. Das muss jetzt geschehen, wir haben keine Zeit mehr: die Menschen in Gaza nicht und die Geiseln auch nicht.
Viele halten es für wichtig, dass die Armee weiterhin Druck auf die Hamas ausübt, vor allem dort, wo sich mutmaßlich Geiseln aufhalten. Wie sehen Sie das?
Es ist sehr gefährlich, wenn die Armee an einen Ort geht, an dem sich Geiseln befinden. Das ist ein Risiko für die Geiseln; ein Dilemma.
Israel hat es schon einmal erfolgreich getan.
Das stimmt. Aber einige der Geiseln starben auch, weil die Armee in ihrer Nähe war und die Wachen nervös wurden und deshalb ihre Geiseln töteten. Die einzige Möglichkeit, die Geiseln in Sicherheit zu bringen, besteht in einem neuen Deal. Und dieses Abkommen wird nur durch Druck auf die Hamas zustande kommen.
Was können wir als deutsche Christen an der Seite Israels tun?
Es ist wichtig, das Bewusstsein für die Geiseln in Gaza zu schärfen, für die dringende Notwendigkeit, sie so bald wie möglich freizulassen. Anfangs war die öffentliche Meinung in Deutschland auf der Seite Israels, aber das hat sich gedreht. Wir spüren die Unterstützung aus Deutschland, aber wir hören auch die Radikalen, die laut auf der Straße rufen, dass Israel die Palästinenser tötet, Völkermord begeht und so weiter. Das ist falsch und nicht wahr! Man darf nicht vergessen, was am 7. Oktober geschehen ist und noch nicht vorbei ist. Meine Schwester leidet immer noch und wird vielleicht gerade jetzt in der Gefangenschaft vergewaltigt.
Was am 7. Oktober begann, dauert immer noch an: Immer noch werden Raketen aus Gaza nach Israel geschossen, im Norden aus dem Libanon, auch von den Huthis im Jemen. Es ist nicht vorbei, es ist Gegenwart! Viele Menschen denken an David und Goliath und halten Israel dabei für den Stärkeren. Aber wir sind wie David, das begreifen diese Menschen nur nicht. Wir brauchen mehr und lautere Stimmen, die daran erinnern. Und wir brauchen Druck auf Katar, um wiederum die Hamas unter Druck zu setzen.
Ihre Mutter wurde umgebracht, Sie sind ein trauernder Sohn und haben viel durchgemacht. Wie verarbeiten Sie das?
Ich habe gerade weder Kraft noch Zeit, um meine Mutter zu betrauern. Das werde ich erst später tun.
Wie schaffen Sie es, ein Familienleben mit Yarden und Geffen zu führen, solange Ihre Schwester Carmel noch in Gefangenschaft ist?
Seit einem halben Jahr beschäftigt mich diese Frage. Als Yarden in Gefangenschaft war, habe ich versucht, Geffen einen möglichst normalen Tagesablauf zu bieten. Aber es ist nicht leicht. Du sprichst mit ihr darüber, dass du Mama und Carmel vermisst und dass du sie liebst. Sobald Geffen schläft, weinst du – und dann musst du dich wieder zusammenreißen und funktionieren. Jetzt ist es dasselbe. Ich bin mit Geffen und mit Yarden zusammen und wir funktionieren irgendwie. Aber wir denken immer darüber nach, wie wir mehr für Carmel tun können. Jetzt bin ich ein paar Tage von zu Hause weg und Geffen weiß, dass ich hier Leute treffe, die dabei helfen können, Carmel zurückzubringen. Das ist das, was ich tue.
Wie geht es Yarden und Geffen unter den gegebenen Umständen?
Was Yarden betrifft, ist es kompliziert. Von außen gesehen funktioniert sie: Sie kann lächeln, sie kann wie sie selbst sein. Aber unter der Oberfläche sieht es anders aus. Es gibt immer wieder Auslöser, die sie an das erinnern, was sie in Gefangenschaft erlebt hat. Sie war an einem Ort, an dem sie dachte, dass sie gelyncht werden würde. Das ist etwas, das sie zutiefst erschüttert hat.
In der Gefangenschaft wurde ihr ihre Persönlichkeit genommen, sie war nicht mehr sie selbst. Sie war eine Beute für ihre Entführer; sie konnte nichts tun, ohne dass sie sie beobachteten, ohne dass sie sie kontrollierten. Sie musste jede Sekunde ihre Bewegungen und Schritte genau bedenken: „Darf ich nach etwas mehr zu essen fragen? Oder besser nicht, weil sie sonst sauer auf mich sind?“ Oder „Bin ich genug bedeckt? Oder sollte ich mich noch mehr bedecken, damit sie gar nicht erst auf die Idee kommen, mir etwas anzutun?“ Diese Gedanken hatte sie jede Sekunde. Jetzt muss sie lernen, die Kontrolle zurückzugewinnen. Es wird dauern, bis sie auch das Gefühl hat, wieder selbst die Kontrolle zu haben.
Geffen geht wieder in ihren Kindergarten. Sie ist dort glücklich und es geht ihr gut. Aber vor ein paar Tagen sprang sie auf dem Trampolin, ich stand neben ihr. Da fragte sie mich wieder nach dem 7. Oktober. Wir erinnerten uns an die Ereignisse dieses Tages und dass wir entführt wurden, in einem Graben lagen und uns versteckten; an Oma, die an diesem Tag starb, und an Mama und an Carmel. Wir reden darüber, als wäre es normal – aber das ist es nicht. Sie kann die Ereignisse wie ein normales Spiel behandeln, ohne Angst. Sie sagt dann beim Spielen Sätze wie „Lass uns in den sicheren Raum rennen, denn die bösen Leute kommen!“ Als wäre es ein Zeichentrickfilm. Aber Geffen hat es in der Realität erlebt, und es ist Teil ihres Lebens, Teil ihrer Erfahrung. Es ist verrückt. Ich wünsche niemandem, dass er so etwas durchmachen muss. Aber es gehört jetzt zu unserem Leben.
Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Sie und Ihre Familie!
Mehr über die Entführung von Alon Gat und seiner Familie lesen Sie hier.
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 137. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.