Ihre Familiengeschichte ließ Dr. Diti Ronen, 1952 in Tel Aviv als Tochter einer Holocaust-Überlebenden geboren, nicht mehr los. Mit ihrem neuen Buch „So als ob niemals es gegeben hier“ begab sich die Dichterin, Lyrikübersetzerin und Herausgeberin mehrerer Gedichtbände auf eine Reise in die Vergangenheit der Familie: In dichterischer Form geschrieben, mit einer starken Eigenidentifizierung der Generationen und mit Worten ihrer Mutter, die Auschwitz überlebte. Die freie Journalistin G. Wedel hat mit der Autorin über das Buch gesprochen.
G. Wedel: Diti, Deine Mutter war in Auschwitz, in Stutthof und zwei weiteren Lagern. Konnte sie über ihre schlimmen Erlebnisse im Holocaust reden?
Dr. Diti Ronen: Meine Mutter wollte nie über ihr Leben während des Holocaust sprechen. Dies waren die dunkelsten Tage ihres Lebens, die sie später als „Hölle“ bezeichnete. Sie zog es vor, diese Zeit zu vergessen. Sie versuchte, diese schrecklichen Tage auszulöschen. Aber kann man seine Vergangenheit löschen? Das Einzige worüber sie sprach, wenn wir sie baten, war ihr Überleben. Sie erinnerte sich lieber an die gute Freundschaft zwischen den „fünf Prinzessinnen“, so wurde sie mit ihren Freundinnen von den Deutschen genannt. Sie sagte, dass keine von ihnen ohne diese Freundschaft jemals hätte überleben können.
Auf welchen Wegen ist es gelungen, mehr über ihr persönliches Leben zu erfahren?
Wir waren jedes Jahr am Abend des israelischen Holocaust-Gedenktages bei ihr. Es war ein schwieriger Abend, denn überall ging es um das Thema Holocaust. Wir wussten, dass sie keine Bilder oder politischen Gespräche darüber sehen oder hören wollte. So war es eine Regel, einfach bei ihr zu sein. Wir baten sie immer, unsere Lieblingsgerichte zuzubereiten, damit sie viel Arbeit hatte und nicht damit beschäftigt war, über den Tag nachzudenken. Als ganze Familie versammelten wir uns. Am Anfang nur wir drei, ihre Kinder, dann mit unseren Ehepartnern, dann mit unseren Kindern. Nur Enkelkinder, die das Alter von Bar Mizwa oder Bat Mizwa erreichten, durften an diesem Abend zu ihr nach Hause kommen; (das heißt im Judentum eine Mündigkeit bei Mädchen von 12 und bei Jungen von 13 Jahren). Als sie alt wurde, reduzierten wir das Alter der Kinder, damit auch sie diese Begegnungen miterlebten. Wir aßen, tranken und lachten und redeten über alles auf der Welt, aber nicht über den Holocaust. Bis sie spät in der Nacht aus der Küche kam und sich zu uns ins Wohnzimmer gesellte. Dann baten wir sie, uns etwas darüber zu erzählen, was sie im Holocaust durchgemacht hat. Bei diesen Familientreffen sprach sie immer nur darüber, wie sie gerettet wurde. Sie sprach über die Bedeutung der Freundschaft, des Teilens mit anderen, des Nachdenkens und Liebens. Wir liebten, was sie erzählte, und wagten nicht, nach dem zu fragen, was sie nicht erzählte. Unabhängig von Holocaust-Gedenktagen berichtete sie uns immer gerne von ihren guten Erinnerungen an ihre Kindheit und von ihrem Leben in Oradea (ungarisch Nagyvarad) vor dem Holocaust. Diese Geschichten waren für uns, ihre Kinder, sehr wichtig, da sie eine Verbindung zu ihr und durch sie zu unserer Großmutter und unserem Großvater vermittelten, die wir nie hatten.
Wie sensibel bist Du vorgegangen, um das erste Buch in Hebräisch, nur für die Familie und Freunde zu schreiben, die Grundlage für Dein neues Buch?
Ich dachte, dass diese Geschichten aus ihrer Kindheit, die uns mit unseren Wurzeln verbanden, sehr wichtig waren. Ich wollte sie schreiben, damit es eine Art Erbe gibt, das wir den kommenden Generationen weitergeben können. Ich bat sie, mir davon zu erzählen. Am Anfang war sie aufgeregt und wusste nicht, wie sie ihre Lebensgeschichte organisieren sollte. Dann kam mir die Idee, aussagekräftige Fotos aus ihrer Kindheit zu sammeln und die Geschichten um diese Fotos zu schreiben. Sie stimmte sofort zu. Wir beschlossen, uns jeden Schabbatmorgen zu treffen, gemeinsam zu frühstücken und uns dann hinzusetzen und zu arbeiten. So habe ich das Buch geschrieben. Meine Mutter liebte die Idee und die Arbeit. Ich denke, sie hat verstanden, wie wichtig es für die kommenden Generationen war. Aber sie hat sich auch gerne an die schöne Kindheit in Ungarn erinnert. Als wir mit der Arbeit an der Lebensgeschichte fertig waren, habe ich meine Tochter Yael Keshales, eine Designerin, gebeten, aus diesen Geschichten und den Fotos ein wunderschönes Buch zu erstellen. Am 82. Geburtstag meiner Mutter feierten wir ihr Buch und damit auch ihr Leben. Wir luden alle ihre Freunde und die Familie zu einer großen Party ein, insgesamt mehr als 120 Personen. Wir stellten 200 Exemplare des schönen Buches auf einen Ständer direkt am Eingang, damit sich jeder Gast eins nehmen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits sehr krank und es war der letzte Geburtstag meiner Mutter. Sie starb einige Monate später.
Was hat Dich innerlich dazu bewegt, Dich persönlich auf eine Spurensuche Deiner Familiengeschichte zu begeben?
Ich musste einfach den Hintergrund meiner Familie kennenlernen, damit ich meinen eigenen Hintergrund kennenlerne. Ich bin ohne Onkel, Tante, Großmutter oder Großvater aufgewachsen. Meine Muttersprache war Hebräisch, im Gegensatz zu meiner Mutter. Als Kind weiß man, wenn man etwas vermisst, und ich hatte immer das Gefühl, dass ich meine Vergangenheit, meine Geschichte vermisse. Jedes Neugeborene hat eine Geschichte. Die Geschichte seiner Eltern und seiner Großeltern, die Geschichte seiner Gemeinschaft und seiner Nation, die Geschichte des Landes, aus dem sie alle kamen. Ich glaube, dass die Gegenwart ein Wimpernschlag zwischen Vergangenheit und Zukunft ist. Ich musste meine eigene Geschichte kennen, um meine Zukunft aufzubauen.
Diti, kommen beide Elternteile aus Oradea, oder woher kommt Dein Vater?
Mein Vater ist in Budapest geboren und aufgewachsen. Er kam 1936 als Student an die Hebräische Universität nach Jerusalem. 1939 verließ er diese, um sich der britischen Armee anzuschließen. Die Eltern meines Vaters und seine Schwestern waren noch in Budapest. Sie durften auf dem Gelände der schwedischen Botschaft durch Raoul Wallenberg Unterschlupf finden. Nach dem Krieg beendete mein Vater in London sein Studium und kehrte nach Israel zurück, um beim Aufbau der Armee zu helfen. Seine Eltern und Schwestern kamen 1949 nach Israel. Die Eltern waren alt und müde. Der Krieg brach ihren Geist. Sie lernten nie Hebräisch und integrierten sich nicht in Israel. Die Anstrengungen überlebten sie nicht und starben wenige Jahre nach ihrer Ankunft.
Vielen Dank Dr. Diti Ronen für dieses feinfühlige Mithineinnehmen in die Entstehung des Buches!
(Interview gekürzt)
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 128. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen: https://csi-aktuell.de/israelaktuell. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.